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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Gedanken über Goethe.

Was unterscheidet
Götter von Menschen?
Daß viele Wellen
Vor jenen wandeln,
Ein ewiger Strom:
Uns hebt die Welle,
Verschlingt die Welle,
Und wir versinken.
Ein kleiner Ring
Begrenzt unser Leben,
Und viele Geschlechter
Reihen sich dauernd
An ihres Daseins
Unendliche Kette.

Aus Italien schreibt er drei Jahre darauf (1787. 23. August): "Die Gestalt
dieser Welt vergeht, ich möchte mich nur mit dem beschäftigen, was bleibende
Verhältnisse sind, und so meinem Geiste erst die Ewigkeit verschaffen." Und
wenige Monate später (1788, 5. Januar): "Die Opern unterhalten mich nicht --
nur das innig und ewig Wahre kann mich nun erfreuen." In demselben Sinne
sagt Aurelie im Wilhelm Meister (4, 15): "O mein Freund, wäre mein Schicksal
gemein, ich wollte gern gemeines Übel ertragen." In den neunziger Jahren
war diese Richtung vorwaltend geworden, und nachdem mit "Tasso," dieser sü߬
schmerzlichen Seelentragödie, die letzte Schuld aus der Epoche innerer Kämpfe
abgetragen und zugleich die Verstimmung über den Einbruch roher, revolutionärer
Kräfte überwunden war, da entstanden die Dichtungen, in denen jenes Dauernde
für sich hingestellt erscheint, in Heller Beleuchtung, obwohl nicht ohne herzlichen
Anteil, in entzückender Reinheit des Stiles und Wahrheit des Lebendigen. Wir
verweilen zunächst bei den letzten Büchern des "Wilhelm Meister" und "Alexis
und Dora," dann in besondrer Beziehung bei "Hermann und Dorothea."

Wilhelm betrat den Saal der Vergangenheit, den man ebensowohl den
Saal der Gegenwart und der Zukunft nennen konnte, sah sich von Bildern des
Menschenlooses überhaupt umgeben und rief aus: "So war alles und so wird
alles sein! Nichts ist vergänglich als der Eine, der genießt und zuschaut. Hier
dieses Bild der Mutter, die ihr Kind ans Herz drückt, wird viele Generationen
glücklicher Mütter überleben. Nach Jahrhunderten vielleicht erfreut sich ein
Vater dieses bärtigen Mannes, der seinen Ernst ablegt und sich mit seinem
Sohne neckt. So verschämt wird durch alle Zeiten die Braut sitzen und bei
ihren stillen Wünschen noch bedürfen, daß man sie tröste, daß man ihr zurede;
so ungeduldig wird der Bräutigam auf der Schwelle horchen, ob er hereintreten
darf." Hier war es die Kunst, die das, was im Reiche der Wirklichkeit wie
eine Welle zerrinnt, festhielt und aufbewahrte, denn die Kunst ist der Zeit nicht
Unterthan, da sie sich am Scheine genügt; aber auch im Naturlaufe selbst stellt
sich das Flüchtigste, die Liebe und die Schönheit, durch ewige Wiederkehr als


Grenzboten IV. 1683. 2
Gedanken über Goethe.

Was unterscheidet
Götter von Menschen?
Daß viele Wellen
Vor jenen wandeln,
Ein ewiger Strom:
Uns hebt die Welle,
Verschlingt die Welle,
Und wir versinken.
Ein kleiner Ring
Begrenzt unser Leben,
Und viele Geschlechter
Reihen sich dauernd
An ihres Daseins
Unendliche Kette.

Aus Italien schreibt er drei Jahre darauf (1787. 23. August): „Die Gestalt
dieser Welt vergeht, ich möchte mich nur mit dem beschäftigen, was bleibende
Verhältnisse sind, und so meinem Geiste erst die Ewigkeit verschaffen." Und
wenige Monate später (1788, 5. Januar): „Die Opern unterhalten mich nicht —
nur das innig und ewig Wahre kann mich nun erfreuen." In demselben Sinne
sagt Aurelie im Wilhelm Meister (4, 15): „O mein Freund, wäre mein Schicksal
gemein, ich wollte gern gemeines Übel ertragen." In den neunziger Jahren
war diese Richtung vorwaltend geworden, und nachdem mit „Tasso," dieser sü߬
schmerzlichen Seelentragödie, die letzte Schuld aus der Epoche innerer Kämpfe
abgetragen und zugleich die Verstimmung über den Einbruch roher, revolutionärer
Kräfte überwunden war, da entstanden die Dichtungen, in denen jenes Dauernde
für sich hingestellt erscheint, in Heller Beleuchtung, obwohl nicht ohne herzlichen
Anteil, in entzückender Reinheit des Stiles und Wahrheit des Lebendigen. Wir
verweilen zunächst bei den letzten Büchern des „Wilhelm Meister" und „Alexis
und Dora," dann in besondrer Beziehung bei „Hermann und Dorothea."

Wilhelm betrat den Saal der Vergangenheit, den man ebensowohl den
Saal der Gegenwart und der Zukunft nennen konnte, sah sich von Bildern des
Menschenlooses überhaupt umgeben und rief aus: „So war alles und so wird
alles sein! Nichts ist vergänglich als der Eine, der genießt und zuschaut. Hier
dieses Bild der Mutter, die ihr Kind ans Herz drückt, wird viele Generationen
glücklicher Mütter überleben. Nach Jahrhunderten vielleicht erfreut sich ein
Vater dieses bärtigen Mannes, der seinen Ernst ablegt und sich mit seinem
Sohne neckt. So verschämt wird durch alle Zeiten die Braut sitzen und bei
ihren stillen Wünschen noch bedürfen, daß man sie tröste, daß man ihr zurede;
so ungeduldig wird der Bräutigam auf der Schwelle horchen, ob er hereintreten
darf." Hier war es die Kunst, die das, was im Reiche der Wirklichkeit wie
eine Welle zerrinnt, festhielt und aufbewahrte, denn die Kunst ist der Zeit nicht
Unterthan, da sie sich am Scheine genügt; aber auch im Naturlaufe selbst stellt
sich das Flüchtigste, die Liebe und die Schönheit, durch ewige Wiederkehr als


Grenzboten IV. 1683. 2
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[0019] Gedanken über Goethe. Was unterscheidet Götter von Menschen? Daß viele Wellen Vor jenen wandeln, Ein ewiger Strom: Uns hebt die Welle, Verschlingt die Welle, Und wir versinken. Ein kleiner Ring Begrenzt unser Leben, Und viele Geschlechter Reihen sich dauernd An ihres Daseins Unendliche Kette. Aus Italien schreibt er drei Jahre darauf (1787. 23. August): „Die Gestalt dieser Welt vergeht, ich möchte mich nur mit dem beschäftigen, was bleibende Verhältnisse sind, und so meinem Geiste erst die Ewigkeit verschaffen." Und wenige Monate später (1788, 5. Januar): „Die Opern unterhalten mich nicht — nur das innig und ewig Wahre kann mich nun erfreuen." In demselben Sinne sagt Aurelie im Wilhelm Meister (4, 15): „O mein Freund, wäre mein Schicksal gemein, ich wollte gern gemeines Übel ertragen." In den neunziger Jahren war diese Richtung vorwaltend geworden, und nachdem mit „Tasso," dieser sü߬ schmerzlichen Seelentragödie, die letzte Schuld aus der Epoche innerer Kämpfe abgetragen und zugleich die Verstimmung über den Einbruch roher, revolutionärer Kräfte überwunden war, da entstanden die Dichtungen, in denen jenes Dauernde für sich hingestellt erscheint, in Heller Beleuchtung, obwohl nicht ohne herzlichen Anteil, in entzückender Reinheit des Stiles und Wahrheit des Lebendigen. Wir verweilen zunächst bei den letzten Büchern des „Wilhelm Meister" und „Alexis und Dora," dann in besondrer Beziehung bei „Hermann und Dorothea." Wilhelm betrat den Saal der Vergangenheit, den man ebensowohl den Saal der Gegenwart und der Zukunft nennen konnte, sah sich von Bildern des Menschenlooses überhaupt umgeben und rief aus: „So war alles und so wird alles sein! Nichts ist vergänglich als der Eine, der genießt und zuschaut. Hier dieses Bild der Mutter, die ihr Kind ans Herz drückt, wird viele Generationen glücklicher Mütter überleben. Nach Jahrhunderten vielleicht erfreut sich ein Vater dieses bärtigen Mannes, der seinen Ernst ablegt und sich mit seinem Sohne neckt. So verschämt wird durch alle Zeiten die Braut sitzen und bei ihren stillen Wünschen noch bedürfen, daß man sie tröste, daß man ihr zurede; so ungeduldig wird der Bräutigam auf der Schwelle horchen, ob er hereintreten darf." Hier war es die Kunst, die das, was im Reiche der Wirklichkeit wie eine Welle zerrinnt, festhielt und aufbewahrte, denn die Kunst ist der Zeit nicht Unterthan, da sie sich am Scheine genügt; aber auch im Naturlaufe selbst stellt sich das Flüchtigste, die Liebe und die Schönheit, durch ewige Wiederkehr als Grenzboten IV. 1683. 2

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/19>, abgerufen am 27.07.2024.