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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Aur Vereinfachung des gegenwärtigen Strafvollzuges.

Welche man bis vor wenig Jahren überhaupt nicht kannte. Irren wir nicht, so
hat Belgien, welches im modernen Strafvollzüge überhaupt die humanistische
schiefe Ebene zuerst und am entschiedensten betreten hat, mit dieser Neuerung
den Anfang gemacht. Die Jrrenstationen beherbergen solche Züchtlinge, welche
geistig gestört sind oder es verstehen, zu simuliren.

Was das Simulireu betrifft, so liegt es keineswegs in unsrer Absicht, den
beteiligten Ärzten irgend welchen Vorwurf zu macheu. Solange sich Ärzte im
bürgerlichen Leben bezüglich der Diagnose geistiger Störungen irren, solange
es noch immer möglich ist, vollkommen geistig Gesunde zu irgend welchem Zwecke
oder in unerlaubter Weise in Irrenanstalten unterzubringen -- wir erinnern
an die Erlebnisse des amerikanischen Bankier Heine in Paris --, solange kann
man billigerweise nicht verlangen, daß Anstaltsärzte unfehlbar seien. Es muß
vielmehr zur Ehre ihres mühevollen Standes angenommen werden, daß allent¬
halben optims. nah Verfahren wird.

Hinsichtlich des Regimes sind die Jrrenstationen der Disziplin des Direktors
entzogen und stehen lediglich unter dem ärztlichen Ermessen. Gleichwohl hat
der Direktor für die sichere Aufbewahrung der dort Untergebrachten zu sorgen,
eine Aufgabe, die nicht zu den leichtesten und angenehmsten zu zählen ist, indem
die sicherheitspolizeilichen Maßregeln des Direktors mit den therapeutischen
Experimenten der Ärzte häusig kollidiren -- ein Staat im Staate!

In den Jrrenstationen sind bei weitem mehr Individuen untergebracht,
als man gewöhnlich glaubt. So sollen sich in der allerdings über 2000 Köpfe
zählenden Strafanstalt zu Waldheim i. S. dreißig Irre in der dortigen Station
befinden; natürlich meistens langjährige, die absolut nichts thun, nichts ver¬
dienen, dem Staate also sehr viel kosten, denn der Arzt nimmt von seinem
Standpunkte aus auf ökonomische Verhältnisse wenig Rücksicht, er verordnet
souverän, was seine Behandlungsmethode erfordert.

Rechnet man die Verdienstlosigkeit der sicherheitsgefährlichen, irrsinnigen
und sonst arbeitsunfähigen Züchtlinge von dem Verdienste normaler Arbeiter
ab, so bleibt eine Produktion übrig, die sich von der mittleren in keiner Weise
unterscheidet.

Es soll nicht in Abrede gestellt werden, daß unter den ins Zuchthaus Ein¬
gelieferten sich viele befinden, die irgend ein Handwerk professionsmäßig oder in¬
folge häufigen Rückfalles in den Arbeitssälen der Strafanstalten so fertig er¬
lernt haben, daß sie ohne weiteres zu lohnender Arbeit verwendbar sind. Allein
diesen Leuten steht wieder die große Menge derjenigen gegenüber, die erst eine
oft recht lange Lehrzeit durchmachen müssen, ehe sie etwas verdienen können;
andre bleiben ungeschickte oder nachlässige Arbeiter, die stets der Schrecken der
Unternehmer sind; noch andre müssen in großer Anzahl zu den sogenannten
Hausarbeiten und zwar in progressiven Verhältnis zur Bclegungsziffer der
Anstalt bei ideellen Arbeitslöhne verwendet werden. Es leuchtet ein, daß mit


Aur Vereinfachung des gegenwärtigen Strafvollzuges.

Welche man bis vor wenig Jahren überhaupt nicht kannte. Irren wir nicht, so
hat Belgien, welches im modernen Strafvollzüge überhaupt die humanistische
schiefe Ebene zuerst und am entschiedensten betreten hat, mit dieser Neuerung
den Anfang gemacht. Die Jrrenstationen beherbergen solche Züchtlinge, welche
geistig gestört sind oder es verstehen, zu simuliren.

Was das Simulireu betrifft, so liegt es keineswegs in unsrer Absicht, den
beteiligten Ärzten irgend welchen Vorwurf zu macheu. Solange sich Ärzte im
bürgerlichen Leben bezüglich der Diagnose geistiger Störungen irren, solange
es noch immer möglich ist, vollkommen geistig Gesunde zu irgend welchem Zwecke
oder in unerlaubter Weise in Irrenanstalten unterzubringen — wir erinnern
an die Erlebnisse des amerikanischen Bankier Heine in Paris —, solange kann
man billigerweise nicht verlangen, daß Anstaltsärzte unfehlbar seien. Es muß
vielmehr zur Ehre ihres mühevollen Standes angenommen werden, daß allent¬
halben optims. nah Verfahren wird.

Hinsichtlich des Regimes sind die Jrrenstationen der Disziplin des Direktors
entzogen und stehen lediglich unter dem ärztlichen Ermessen. Gleichwohl hat
der Direktor für die sichere Aufbewahrung der dort Untergebrachten zu sorgen,
eine Aufgabe, die nicht zu den leichtesten und angenehmsten zu zählen ist, indem
die sicherheitspolizeilichen Maßregeln des Direktors mit den therapeutischen
Experimenten der Ärzte häusig kollidiren — ein Staat im Staate!

In den Jrrenstationen sind bei weitem mehr Individuen untergebracht,
als man gewöhnlich glaubt. So sollen sich in der allerdings über 2000 Köpfe
zählenden Strafanstalt zu Waldheim i. S. dreißig Irre in der dortigen Station
befinden; natürlich meistens langjährige, die absolut nichts thun, nichts ver¬
dienen, dem Staate also sehr viel kosten, denn der Arzt nimmt von seinem
Standpunkte aus auf ökonomische Verhältnisse wenig Rücksicht, er verordnet
souverän, was seine Behandlungsmethode erfordert.

Rechnet man die Verdienstlosigkeit der sicherheitsgefährlichen, irrsinnigen
und sonst arbeitsunfähigen Züchtlinge von dem Verdienste normaler Arbeiter
ab, so bleibt eine Produktion übrig, die sich von der mittleren in keiner Weise
unterscheidet.

Es soll nicht in Abrede gestellt werden, daß unter den ins Zuchthaus Ein¬
gelieferten sich viele befinden, die irgend ein Handwerk professionsmäßig oder in¬
folge häufigen Rückfalles in den Arbeitssälen der Strafanstalten so fertig er¬
lernt haben, daß sie ohne weiteres zu lohnender Arbeit verwendbar sind. Allein
diesen Leuten steht wieder die große Menge derjenigen gegenüber, die erst eine
oft recht lange Lehrzeit durchmachen müssen, ehe sie etwas verdienen können;
andre bleiben ungeschickte oder nachlässige Arbeiter, die stets der Schrecken der
Unternehmer sind; noch andre müssen in großer Anzahl zu den sogenannten
Hausarbeiten und zwar in progressiven Verhältnis zur Bclegungsziffer der
Anstalt bei ideellen Arbeitslöhne verwendet werden. Es leuchtet ein, daß mit


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/185>, abgerufen am 01.09.2024.