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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Zur Vereinfachung des gegenwärtigen Strafvollzuges.

cum man erwägt, daß täglich ungefähr 200000 Landstreicher die
deutschen Gaue durchstreifen und gegen 80 000 Gefangene aller
Gattungen sich in deutschen Gefängnissen befinden, so ist diese
Thatsache nicht allein ein betrübendes Zeiche" der wirtschaftlichen
und sittlichen Zustände unsers Vaterlandes, sondern unwillkürlich
gestaltet sie sich auch zu einer Finanzfrage, die zu ernstem Nachdenken Veran¬
lassung bietet.

Berechnet man den Unterhalt eines Landstreichers, zu dessen Beschaffung
er selbst durch Bettelei, Marodiren und Schwindeleien das arbeitende und pro-
duzirende Volk in Mitleidenschaft zieht, unter Zurechnung der Organe, die zur
Abwehr dieser Landplage immer zahlreicher angestellt werden müssen, für den
Kopf und den Tag nur zu einer Mark, so ergiebt diese unproduktive Zwangssteuer
die kolossale Summe von 73000000 Mark, welche dem Nationalvermögen all'
jährlich unrettbar verloren geht. Der Unterhalt der Gefangenen ist im großen
und ganzen noch kostspieliger als der eines Landstreichers, der wenigstens keine
besondern und teuern Apparate persönlicher und sachlicher Art zu seiner "Er¬
ziehung" erheischt, wie sie die moderne Strafvollzugswissenschaft mit so viel
Vorliebe, aber so wenig Erfolg den Gefangenen gegenüber anwendet. Indeß
nehmen wir an, um eine feste Unterlage für unser Rechenexempel zu er¬
langen, daß auch der Unterhalt eines Gefangenen für den Kopf und den Tag
die Summe von einer Mark nicht überschreite, so ergiebt dieser Aufwand jähr¬
lich 29000000 Mark. Mithin muß Deutschland jährlich 102000000 Mark
aufbringen, um die Kosten zu decken, welche das Landstreichertum und das Ge¬
fangenwesen verursachen.

Was das Landstreichertum anlangt, so verlautet neuerdings, daß dasselbe
in einigen Ländern, z. B. im Königreiche Sachsen, einigermaßen nachgelassen
habe. Wir bezweifeln die Richtigkeit dieser erfreulichen Nachricht umso weniger,
als gleichzeitig ein erheblicher wirtschaftlicher Aufschwung in denjenigen Ländern
stattgefunden hat, in welchen das Landstreichertum abgenommen hat, und zu diesen
bevorzugten Ländern gehört Sachsen in erster Reihe. Es ist dies ein notwen¬
diges Wechselverhältnis. Denn abgesehen von jenen gewohnheitsmäßigen und
unverbesserlichen Landstreichern, welche sowohl die Lust wie die Fähigkeit ver¬
loren haben, jemals zu geordneter Arbeit und geordneten Lebensverhältnissen
zurückzukehren, ist das Landstreichertum mehr oder minder der negative Aus¬
druck der jeweiligen wirtschaftlich-sozialen Gesamtlage des betreffenden Landes.
Befinden sich Handel und Industrie in günstigem Zustande, ist die Land-


Zur Vereinfachung des gegenwärtigen Strafvollzuges.

cum man erwägt, daß täglich ungefähr 200000 Landstreicher die
deutschen Gaue durchstreifen und gegen 80 000 Gefangene aller
Gattungen sich in deutschen Gefängnissen befinden, so ist diese
Thatsache nicht allein ein betrübendes Zeiche» der wirtschaftlichen
und sittlichen Zustände unsers Vaterlandes, sondern unwillkürlich
gestaltet sie sich auch zu einer Finanzfrage, die zu ernstem Nachdenken Veran¬
lassung bietet.

Berechnet man den Unterhalt eines Landstreichers, zu dessen Beschaffung
er selbst durch Bettelei, Marodiren und Schwindeleien das arbeitende und pro-
duzirende Volk in Mitleidenschaft zieht, unter Zurechnung der Organe, die zur
Abwehr dieser Landplage immer zahlreicher angestellt werden müssen, für den
Kopf und den Tag nur zu einer Mark, so ergiebt diese unproduktive Zwangssteuer
die kolossale Summe von 73000000 Mark, welche dem Nationalvermögen all'
jährlich unrettbar verloren geht. Der Unterhalt der Gefangenen ist im großen
und ganzen noch kostspieliger als der eines Landstreichers, der wenigstens keine
besondern und teuern Apparate persönlicher und sachlicher Art zu seiner „Er¬
ziehung" erheischt, wie sie die moderne Strafvollzugswissenschaft mit so viel
Vorliebe, aber so wenig Erfolg den Gefangenen gegenüber anwendet. Indeß
nehmen wir an, um eine feste Unterlage für unser Rechenexempel zu er¬
langen, daß auch der Unterhalt eines Gefangenen für den Kopf und den Tag
die Summe von einer Mark nicht überschreite, so ergiebt dieser Aufwand jähr¬
lich 29000000 Mark. Mithin muß Deutschland jährlich 102000000 Mark
aufbringen, um die Kosten zu decken, welche das Landstreichertum und das Ge¬
fangenwesen verursachen.

Was das Landstreichertum anlangt, so verlautet neuerdings, daß dasselbe
in einigen Ländern, z. B. im Königreiche Sachsen, einigermaßen nachgelassen
habe. Wir bezweifeln die Richtigkeit dieser erfreulichen Nachricht umso weniger,
als gleichzeitig ein erheblicher wirtschaftlicher Aufschwung in denjenigen Ländern
stattgefunden hat, in welchen das Landstreichertum abgenommen hat, und zu diesen
bevorzugten Ländern gehört Sachsen in erster Reihe. Es ist dies ein notwen¬
diges Wechselverhältnis. Denn abgesehen von jenen gewohnheitsmäßigen und
unverbesserlichen Landstreichern, welche sowohl die Lust wie die Fähigkeit ver¬
loren haben, jemals zu geordneter Arbeit und geordneten Lebensverhältnissen
zurückzukehren, ist das Landstreichertum mehr oder minder der negative Aus¬
druck der jeweiligen wirtschaftlich-sozialen Gesamtlage des betreffenden Landes.
Befinden sich Handel und Industrie in günstigem Zustande, ist die Land-


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[0183] Zur Vereinfachung des gegenwärtigen Strafvollzuges. cum man erwägt, daß täglich ungefähr 200000 Landstreicher die deutschen Gaue durchstreifen und gegen 80 000 Gefangene aller Gattungen sich in deutschen Gefängnissen befinden, so ist diese Thatsache nicht allein ein betrübendes Zeiche» der wirtschaftlichen und sittlichen Zustände unsers Vaterlandes, sondern unwillkürlich gestaltet sie sich auch zu einer Finanzfrage, die zu ernstem Nachdenken Veran¬ lassung bietet. Berechnet man den Unterhalt eines Landstreichers, zu dessen Beschaffung er selbst durch Bettelei, Marodiren und Schwindeleien das arbeitende und pro- duzirende Volk in Mitleidenschaft zieht, unter Zurechnung der Organe, die zur Abwehr dieser Landplage immer zahlreicher angestellt werden müssen, für den Kopf und den Tag nur zu einer Mark, so ergiebt diese unproduktive Zwangssteuer die kolossale Summe von 73000000 Mark, welche dem Nationalvermögen all' jährlich unrettbar verloren geht. Der Unterhalt der Gefangenen ist im großen und ganzen noch kostspieliger als der eines Landstreichers, der wenigstens keine besondern und teuern Apparate persönlicher und sachlicher Art zu seiner „Er¬ ziehung" erheischt, wie sie die moderne Strafvollzugswissenschaft mit so viel Vorliebe, aber so wenig Erfolg den Gefangenen gegenüber anwendet. Indeß nehmen wir an, um eine feste Unterlage für unser Rechenexempel zu er¬ langen, daß auch der Unterhalt eines Gefangenen für den Kopf und den Tag die Summe von einer Mark nicht überschreite, so ergiebt dieser Aufwand jähr¬ lich 29000000 Mark. Mithin muß Deutschland jährlich 102000000 Mark aufbringen, um die Kosten zu decken, welche das Landstreichertum und das Ge¬ fangenwesen verursachen. Was das Landstreichertum anlangt, so verlautet neuerdings, daß dasselbe in einigen Ländern, z. B. im Königreiche Sachsen, einigermaßen nachgelassen habe. Wir bezweifeln die Richtigkeit dieser erfreulichen Nachricht umso weniger, als gleichzeitig ein erheblicher wirtschaftlicher Aufschwung in denjenigen Ländern stattgefunden hat, in welchen das Landstreichertum abgenommen hat, und zu diesen bevorzugten Ländern gehört Sachsen in erster Reihe. Es ist dies ein notwen¬ diges Wechselverhältnis. Denn abgesehen von jenen gewohnheitsmäßigen und unverbesserlichen Landstreichern, welche sowohl die Lust wie die Fähigkeit ver¬ loren haben, jemals zu geordneter Arbeit und geordneten Lebensverhältnissen zurückzukehren, ist das Landstreichertum mehr oder minder der negative Aus¬ druck der jeweiligen wirtschaftlich-sozialen Gesamtlage des betreffenden Landes. Befinden sich Handel und Industrie in günstigem Zustande, ist die Land-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/183>, abgerufen am 13.11.2024.