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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Der verfall des Theaters.

schaften, welche Laube stets abgegangen sind. Er war ein Dichter, welchen
Namen Laube trotz seiner vielen Schauspiele und Novellen und bei all seinem
schriftstellerischen und rhetorischen Talente nicht beanspruchen kann. Er war ein
begeisterter Verehrer Shakespeares, über welche" Laube wenig anders denkt
als Ehren-Benedix. Er viudizirte einer großen Bühne die Aufgabe, die klassische
dramatische Dichtung aller Zeiten und Völker lebendig zu erhalten, während
Laube nur die modernen Franzosen schätzt und ebenso überschätzt, wie Dingelstedt
sie zu gering achtete. Endlich legte der eine großes, häufig zu großes Gewicht
auf die Befriedigung des Auges im Theater, der andre legt es in einseitiger
Verkennung des Begriffes Schauspiel ausschließlich auf das gesprochene Wort.
Von dieser prinzipiellen Gegnerschaft aus, zu welcher sich auch vielfältig per¬
sönliche gesellte, füllt Laube seinen Spruch. Dingelstedts große Fehler sollen
deshalb nicht geleugnet werden. Aber so verheerend hat seine Leitung nicht
gewirkt, nicht wirken können, weil in dem Personal des Burgtheatcrs sich während
des hundertjährigen Bestandes ein guter Geist fortgepflanzt hat.

So viel zur Steuer der Wahrheit gegenüber der jetzt weitverbreiteten
Neigung, die wohlverdiente Autorität des Regisseurs Laube auch auf den Histo¬
riker zu übertragen.

Im allgemeinen ist es um die Geschichte der dramatischen Kunst ein eigen
Ding. Auf welche Dokumente soll sie sich stützen? Auf Berichte über den Ein¬
druck, welchen Vorstellungen auf diesen oder jenen hervorgebracht haben. Aber
wenn Sierkc geltend macht, daß die wenigsten Kritiker gerecht über eine Bühnen-
leituug zu urteilen vermögen, weil sie die Bedingungen einer solchen Thätigkeit,
die tausend Hindernisse und Fesseln nicht kennen, so gilt etwas ähnliches für
die Beurteilung schauspielerischer Leistungen. Zufälligkeiten, Stimmungen, von
welchen wir vor dem Vorhange keine Ahnung haben, begünstigen oder beein¬
trächtigen das Spiel des Einzelnen und das Gesamtbild. Und den Stim¬
mungen sind wir selbst unterworfen. Wem ist es nicht schon begegnet, daß er
in einem Gedichte, welches ihn beim ersten Lesen entzückte, das zweitemal die
Schönheiten nicht wiederfinden konnte? Dazu kommt der Wechsel der Empfäng¬
lichkeit und des Geschmackes mit den Jahren des Urteilenden und mit dem Laufe
der Zeiten, dazu die Täuschungen des Gedächtnisses, dazu der Umstand, daß wir
so gern die Gegenwart mit einer Vergangenheit messen, welche wir garnicht er¬
lebt haben. Aus den Zeugnissen einer Periode von größerer Theaterfrcudigkeit,
größerer Genußfähigkeit, größerer Genügsamkeit bilden wir uns die Meinung
über frühere Künstlergenerationen und sprechen von Eckhof und Schröder, von
Iffland und Fleck, von Corona Schröter und Charlotte Ackermann, als wäre
es uns vergönnt gewesen, uns an ihren Gebilden zu erbauen. Der "große
Ludwig," Ludwig Devrient, ist in aller Munde, und denselben großen Ludwig
nannte Fürst Pttckler-Muskau einmal "ausgezeichnet im Genre, ohne eine Ader
eines tragischen Schauspielers." Wo ist nun die Wahrheit?


Gre-^boten IV. 1883, 19
Der verfall des Theaters.

schaften, welche Laube stets abgegangen sind. Er war ein Dichter, welchen
Namen Laube trotz seiner vielen Schauspiele und Novellen und bei all seinem
schriftstellerischen und rhetorischen Talente nicht beanspruchen kann. Er war ein
begeisterter Verehrer Shakespeares, über welche» Laube wenig anders denkt
als Ehren-Benedix. Er viudizirte einer großen Bühne die Aufgabe, die klassische
dramatische Dichtung aller Zeiten und Völker lebendig zu erhalten, während
Laube nur die modernen Franzosen schätzt und ebenso überschätzt, wie Dingelstedt
sie zu gering achtete. Endlich legte der eine großes, häufig zu großes Gewicht
auf die Befriedigung des Auges im Theater, der andre legt es in einseitiger
Verkennung des Begriffes Schauspiel ausschließlich auf das gesprochene Wort.
Von dieser prinzipiellen Gegnerschaft aus, zu welcher sich auch vielfältig per¬
sönliche gesellte, füllt Laube seinen Spruch. Dingelstedts große Fehler sollen
deshalb nicht geleugnet werden. Aber so verheerend hat seine Leitung nicht
gewirkt, nicht wirken können, weil in dem Personal des Burgtheatcrs sich während
des hundertjährigen Bestandes ein guter Geist fortgepflanzt hat.

So viel zur Steuer der Wahrheit gegenüber der jetzt weitverbreiteten
Neigung, die wohlverdiente Autorität des Regisseurs Laube auch auf den Histo¬
riker zu übertragen.

Im allgemeinen ist es um die Geschichte der dramatischen Kunst ein eigen
Ding. Auf welche Dokumente soll sie sich stützen? Auf Berichte über den Ein¬
druck, welchen Vorstellungen auf diesen oder jenen hervorgebracht haben. Aber
wenn Sierkc geltend macht, daß die wenigsten Kritiker gerecht über eine Bühnen-
leituug zu urteilen vermögen, weil sie die Bedingungen einer solchen Thätigkeit,
die tausend Hindernisse und Fesseln nicht kennen, so gilt etwas ähnliches für
die Beurteilung schauspielerischer Leistungen. Zufälligkeiten, Stimmungen, von
welchen wir vor dem Vorhange keine Ahnung haben, begünstigen oder beein¬
trächtigen das Spiel des Einzelnen und das Gesamtbild. Und den Stim¬
mungen sind wir selbst unterworfen. Wem ist es nicht schon begegnet, daß er
in einem Gedichte, welches ihn beim ersten Lesen entzückte, das zweitemal die
Schönheiten nicht wiederfinden konnte? Dazu kommt der Wechsel der Empfäng¬
lichkeit und des Geschmackes mit den Jahren des Urteilenden und mit dem Laufe
der Zeiten, dazu die Täuschungen des Gedächtnisses, dazu der Umstand, daß wir
so gern die Gegenwart mit einer Vergangenheit messen, welche wir garnicht er¬
lebt haben. Aus den Zeugnissen einer Periode von größerer Theaterfrcudigkeit,
größerer Genußfähigkeit, größerer Genügsamkeit bilden wir uns die Meinung
über frühere Künstlergenerationen und sprechen von Eckhof und Schröder, von
Iffland und Fleck, von Corona Schröter und Charlotte Ackermann, als wäre
es uns vergönnt gewesen, uns an ihren Gebilden zu erbauen. Der „große
Ludwig," Ludwig Devrient, ist in aller Munde, und denselben großen Ludwig
nannte Fürst Pttckler-Muskau einmal „ausgezeichnet im Genre, ohne eine Ader
eines tragischen Schauspielers." Wo ist nun die Wahrheit?


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[0155] Der verfall des Theaters. schaften, welche Laube stets abgegangen sind. Er war ein Dichter, welchen Namen Laube trotz seiner vielen Schauspiele und Novellen und bei all seinem schriftstellerischen und rhetorischen Talente nicht beanspruchen kann. Er war ein begeisterter Verehrer Shakespeares, über welche» Laube wenig anders denkt als Ehren-Benedix. Er viudizirte einer großen Bühne die Aufgabe, die klassische dramatische Dichtung aller Zeiten und Völker lebendig zu erhalten, während Laube nur die modernen Franzosen schätzt und ebenso überschätzt, wie Dingelstedt sie zu gering achtete. Endlich legte der eine großes, häufig zu großes Gewicht auf die Befriedigung des Auges im Theater, der andre legt es in einseitiger Verkennung des Begriffes Schauspiel ausschließlich auf das gesprochene Wort. Von dieser prinzipiellen Gegnerschaft aus, zu welcher sich auch vielfältig per¬ sönliche gesellte, füllt Laube seinen Spruch. Dingelstedts große Fehler sollen deshalb nicht geleugnet werden. Aber so verheerend hat seine Leitung nicht gewirkt, nicht wirken können, weil in dem Personal des Burgtheatcrs sich während des hundertjährigen Bestandes ein guter Geist fortgepflanzt hat. So viel zur Steuer der Wahrheit gegenüber der jetzt weitverbreiteten Neigung, die wohlverdiente Autorität des Regisseurs Laube auch auf den Histo¬ riker zu übertragen. Im allgemeinen ist es um die Geschichte der dramatischen Kunst ein eigen Ding. Auf welche Dokumente soll sie sich stützen? Auf Berichte über den Ein¬ druck, welchen Vorstellungen auf diesen oder jenen hervorgebracht haben. Aber wenn Sierkc geltend macht, daß die wenigsten Kritiker gerecht über eine Bühnen- leituug zu urteilen vermögen, weil sie die Bedingungen einer solchen Thätigkeit, die tausend Hindernisse und Fesseln nicht kennen, so gilt etwas ähnliches für die Beurteilung schauspielerischer Leistungen. Zufälligkeiten, Stimmungen, von welchen wir vor dem Vorhange keine Ahnung haben, begünstigen oder beein¬ trächtigen das Spiel des Einzelnen und das Gesamtbild. Und den Stim¬ mungen sind wir selbst unterworfen. Wem ist es nicht schon begegnet, daß er in einem Gedichte, welches ihn beim ersten Lesen entzückte, das zweitemal die Schönheiten nicht wiederfinden konnte? Dazu kommt der Wechsel der Empfäng¬ lichkeit und des Geschmackes mit den Jahren des Urteilenden und mit dem Laufe der Zeiten, dazu die Täuschungen des Gedächtnisses, dazu der Umstand, daß wir so gern die Gegenwart mit einer Vergangenheit messen, welche wir garnicht er¬ lebt haben. Aus den Zeugnissen einer Periode von größerer Theaterfrcudigkeit, größerer Genußfähigkeit, größerer Genügsamkeit bilden wir uns die Meinung über frühere Künstlergenerationen und sprechen von Eckhof und Schröder, von Iffland und Fleck, von Corona Schröter und Charlotte Ackermann, als wäre es uns vergönnt gewesen, uns an ihren Gebilden zu erbauen. Der „große Ludwig," Ludwig Devrient, ist in aller Munde, und denselben großen Ludwig nannte Fürst Pttckler-Muskau einmal „ausgezeichnet im Genre, ohne eine Ader eines tragischen Schauspielers." Wo ist nun die Wahrheit? Gre-^boten IV. 1883, 19

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/155>, abgerufen am 28.07.2024.