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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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gewissen Gedichten eine gewisse Regel in dem Wechsel stärker und schwächer
betonter Hebungen "unbewußt" befolgen, so wäre dies eine dankenswerte Beob¬
achtung, mit der sich etwas anfangen ließe Aber mit der Jmputirung solcher
"unbewußten Accentverse," in denen von einer Regel nirgends die Rede ist,
erweist man unsern bessern Dichtern keinen Dienst. Man sagt ihnen damit doch
nur: Ihr habt es nicht vermocht, die selbstgesetzten Schranken des von euch
gewählten Metrums richtig inne zu halten. Die Frage, ob unsern modernen
Dichtern im allgemeinen empfohlen sein soll, nach altdeutscher Art Verse zu
bauen, in denen nur die Hebungen gezählt werden, wie seit Goethe schon mehr¬
fach geschehen ist -- mit Unrecht feiert Herr Beyer Heinrich Heine als den
ersten bewußten Verfasser solcher Verse --, ist noch eine offene, und ihre Er¬
örterung gehört nach unsrer schon betonten Anschauung von dem Wesen einer
Poetik nicht notwendig in eine solche.

Etwas wirklich Neues bringt der Verfasser in der nach Vollständigkeit
strebenden fleißigen Zusammenstellung aller vorhandenen Strophenarten. Neu
sind auch die Benennungen, die er für eine Anzahl derselben einführt, wie
"Ganzhorns Volksstrophe," "Geroks Heimstrophe," "Max Reuss Vorwärts-
strvphe," "König Oskars Vildstrophe" u. s. w. Der hierauf verwendete Fleiß
ist in der That zu loben, aber die Zusammenstellung selbst ist durch ihren
ganz äußerlichen Schematismus verfehlt und für die Betrachtung unfruchtbar.
Anzahl der Verszeilen und Reimstcllung sind die einzigen Einteilungsgrunde.
Ja der Verfasser stellt die Strophen, die gleiche Zellenzahl und Ncimstcllung
haben, nicht bloß neben einander hin, sondern sieht sie auch als eine und die¬
selbe Strvphenart an. So tauft er beispielsweise die sechszeilige Strophe mit
der Reimstelluug ^^ddeo"Geibels Sehnsuchtsstrophe" nach folgendem Geibelschen
Muster:


Ich blick in mein Herz und ich blick in die Welt,
Bis vom Auge die brennende Thräne fällt;
Wohl leuchtet die Ferne mit goldenem Licht,
Doch halt mich der Nord -- ich erreiche sie nicht --
O die Schranken so eng, und die Welt so weit,
Und so flüchtig die Zeit!

Als weiteres Beispiel für diese Strophenart führt Herr Beyer eine Strophe
von Rittershaus an:


Es geht durchs Land der Schrei der Not; er will an jeden Busen klopfen.
Für heiße Wunden, purpurrot, -- o gebt der Liebe Balsamtropfen!
Für arme Kinder, blas; und krank, -- o füllt die kleinen Kinderhände!
Dem Weib, dem der Ernährer sank, -- o reicht des Goldes Segcnspende!
Zum Himmel hallt ein Jammerschrci von Herzen, die in Schlachten brechen. --
Nun schweigt die Stimme der Partei, nun hat das Herz ein Recht zu sprechen!

Ein jeder, der diese beiden Strophen liest, wird empfinden, daß sie himmelweit


Line deutsch-nationale Verslehre.

gewissen Gedichten eine gewisse Regel in dem Wechsel stärker und schwächer
betonter Hebungen „unbewußt" befolgen, so wäre dies eine dankenswerte Beob¬
achtung, mit der sich etwas anfangen ließe Aber mit der Jmputirung solcher
„unbewußten Accentverse," in denen von einer Regel nirgends die Rede ist,
erweist man unsern bessern Dichtern keinen Dienst. Man sagt ihnen damit doch
nur: Ihr habt es nicht vermocht, die selbstgesetzten Schranken des von euch
gewählten Metrums richtig inne zu halten. Die Frage, ob unsern modernen
Dichtern im allgemeinen empfohlen sein soll, nach altdeutscher Art Verse zu
bauen, in denen nur die Hebungen gezählt werden, wie seit Goethe schon mehr¬
fach geschehen ist — mit Unrecht feiert Herr Beyer Heinrich Heine als den
ersten bewußten Verfasser solcher Verse —, ist noch eine offene, und ihre Er¬
örterung gehört nach unsrer schon betonten Anschauung von dem Wesen einer
Poetik nicht notwendig in eine solche.

Etwas wirklich Neues bringt der Verfasser in der nach Vollständigkeit
strebenden fleißigen Zusammenstellung aller vorhandenen Strophenarten. Neu
sind auch die Benennungen, die er für eine Anzahl derselben einführt, wie
„Ganzhorns Volksstrophe," „Geroks Heimstrophe," „Max Reuss Vorwärts-
strvphe," „König Oskars Vildstrophe" u. s. w. Der hierauf verwendete Fleiß
ist in der That zu loben, aber die Zusammenstellung selbst ist durch ihren
ganz äußerlichen Schematismus verfehlt und für die Betrachtung unfruchtbar.
Anzahl der Verszeilen und Reimstcllung sind die einzigen Einteilungsgrunde.
Ja der Verfasser stellt die Strophen, die gleiche Zellenzahl und Ncimstcllung
haben, nicht bloß neben einander hin, sondern sieht sie auch als eine und die¬
selbe Strvphenart an. So tauft er beispielsweise die sechszeilige Strophe mit
der Reimstelluug ^^ddeo„Geibels Sehnsuchtsstrophe" nach folgendem Geibelschen
Muster:


Ich blick in mein Herz und ich blick in die Welt,
Bis vom Auge die brennende Thräne fällt;
Wohl leuchtet die Ferne mit goldenem Licht,
Doch halt mich der Nord — ich erreiche sie nicht —
O die Schranken so eng, und die Welt so weit,
Und so flüchtig die Zeit!

Als weiteres Beispiel für diese Strophenart führt Herr Beyer eine Strophe
von Rittershaus an:


Es geht durchs Land der Schrei der Not; er will an jeden Busen klopfen.
Für heiße Wunden, purpurrot, — o gebt der Liebe Balsamtropfen!
Für arme Kinder, blas; und krank, — o füllt die kleinen Kinderhände!
Dem Weib, dem der Ernährer sank, — o reicht des Goldes Segcnspende!
Zum Himmel hallt ein Jammerschrci von Herzen, die in Schlachten brechen. —
Nun schweigt die Stimme der Partei, nun hat das Herz ein Recht zu sprechen!

Ein jeder, der diese beiden Strophen liest, wird empfinden, daß sie himmelweit


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/148>, abgerufen am 01.09.2024.