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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Georg waitz.

stehen der historischen Übungen zu feiern. Noch heute fühlt jeder, der das
Glück hatte, um den runden Tisch mit sitzen zu können, sich als das Glied einer
großen Familie, die in treuester Liebe und Dankbarkeit zu "Vater Waitz" steht.

Waitz liebte es, am Anfang des Semesters Besprechungen über das Wesen
der Geschichtsforschung, über Hermeneutik und Kritik, über Geschichtsquellen und
dergleichen mehr anzustellen. Bei andern Zusammenkünften wurden kleinere
Fragen aus der Geschichte des deutschen Mittelalters vorgenommen, auch wohl
ein Kapitel eines mittelalterlichen Geschichtschreibers zusammen gelesen. Hatte
einer der Genossen seine Doktorarbeit vollendet, so wurde sie, nachdem der
Lehrer sie vorher aufs sorgsamste durchgearbeitet, gemeinsam besprochen. Wie
manchem jungen Historiker hat das Herz vor jenem Tage, wo sein Erstlingswerk an
die Reihe kam und er nun das Urteil des Meisters erharrte, in banger Auf¬
regung geklopft! Wie schön war aber auch dann das Bewußtsein, sich von
dem verehrten Manne anerkannt oder gar gelobt zu sehen! Wenn dann die
Übungsstunde beendet war -- das heitere Jugendglück des ersten Erfolges, die
teilnehmenden Worte und der treue Händedruck der Genossen! Man wundere
sich nicht, daß wir Waitzianer stolz und fest zusammenstehen; wir waren ja alle
Kriegs- und Zeltkameraden.

Unser Lehrer liebte für die historischen Übungen keine Vorbereitung. Wir
sollten und mußten gewappnet sein, jeden Punkt in sicherm Ansturm zu nehmen.
Und wie verstand er das Ganze zu leiten! Einfach und klar war der Aufbau
seiner Entwicklung, sicher der Arm und das Wort, mit dem er führte, nur die
Wahrheit wurde gesucht. Aber auch die Maxime galt bisweilen: "Nichtwissen
ist auch ein Wissen!" Freilich kein leichtfertiges Absprechen, strenge, logische
Gedankenarbeit, Aufbieten jeder Kraft forderte der Lehrer. Er selbst gab sein
Bestes. Was wunder, wenn jeder von uns darnach strebte, auch das Beste
zu leisten. Das ist das Geheimnis der großen Erfolge, die Waitz in seinem
Seminar zu verzeichnen hatte, daß er in seinen Schülern, ja in jedem einzelnen
von ihnen, ganz aufging, und jeder seiner Schüler in ihm.

Die Vorlesungen ergänzten die historischen Übungen aufs glücklichste.
Während Waitz in Kiel deutsche Geschichte, Mittelalter, Schleswig-holsteinische
und dänische Geschichte las, dazu Tacitus' Germania, deutsche Altertümer,
deutsche Reichsverfnssung, "altdeutsches Gerichtswesen, die I^ex 8g.1leg. und
deutsche Historiographie in kürzeren Vorträgen behandelte, hatte sich in Göttingen
ein feststehender zweijähriger Turnus herausgebildet, der deutsche Geschichte bis
zur Gegenwart, Geschichte des Mittelalters, deutsche Altertümer, neuere deutsche
Geschichte, Politik und allgemeine Verfassungsgeschichte umfaßte. Dazu kamen
dann wohl noch zwei kürzere öffentliche Vorlesungen: Einleitung in die deutsche
Geschichte und deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation.

Wir haben oben die Worte angeführt, mit welchen Ranke gleichsam das
Programm des an deutscheu Universitäten wirkenden Lehrers entworfen; sie


Georg waitz.

stehen der historischen Übungen zu feiern. Noch heute fühlt jeder, der das
Glück hatte, um den runden Tisch mit sitzen zu können, sich als das Glied einer
großen Familie, die in treuester Liebe und Dankbarkeit zu „Vater Waitz" steht.

Waitz liebte es, am Anfang des Semesters Besprechungen über das Wesen
der Geschichtsforschung, über Hermeneutik und Kritik, über Geschichtsquellen und
dergleichen mehr anzustellen. Bei andern Zusammenkünften wurden kleinere
Fragen aus der Geschichte des deutschen Mittelalters vorgenommen, auch wohl
ein Kapitel eines mittelalterlichen Geschichtschreibers zusammen gelesen. Hatte
einer der Genossen seine Doktorarbeit vollendet, so wurde sie, nachdem der
Lehrer sie vorher aufs sorgsamste durchgearbeitet, gemeinsam besprochen. Wie
manchem jungen Historiker hat das Herz vor jenem Tage, wo sein Erstlingswerk an
die Reihe kam und er nun das Urteil des Meisters erharrte, in banger Auf¬
regung geklopft! Wie schön war aber auch dann das Bewußtsein, sich von
dem verehrten Manne anerkannt oder gar gelobt zu sehen! Wenn dann die
Übungsstunde beendet war — das heitere Jugendglück des ersten Erfolges, die
teilnehmenden Worte und der treue Händedruck der Genossen! Man wundere
sich nicht, daß wir Waitzianer stolz und fest zusammenstehen; wir waren ja alle
Kriegs- und Zeltkameraden.

Unser Lehrer liebte für die historischen Übungen keine Vorbereitung. Wir
sollten und mußten gewappnet sein, jeden Punkt in sicherm Ansturm zu nehmen.
Und wie verstand er das Ganze zu leiten! Einfach und klar war der Aufbau
seiner Entwicklung, sicher der Arm und das Wort, mit dem er führte, nur die
Wahrheit wurde gesucht. Aber auch die Maxime galt bisweilen: „Nichtwissen
ist auch ein Wissen!" Freilich kein leichtfertiges Absprechen, strenge, logische
Gedankenarbeit, Aufbieten jeder Kraft forderte der Lehrer. Er selbst gab sein
Bestes. Was wunder, wenn jeder von uns darnach strebte, auch das Beste
zu leisten. Das ist das Geheimnis der großen Erfolge, die Waitz in seinem
Seminar zu verzeichnen hatte, daß er in seinen Schülern, ja in jedem einzelnen
von ihnen, ganz aufging, und jeder seiner Schüler in ihm.

Die Vorlesungen ergänzten die historischen Übungen aufs glücklichste.
Während Waitz in Kiel deutsche Geschichte, Mittelalter, Schleswig-holsteinische
und dänische Geschichte las, dazu Tacitus' Germania, deutsche Altertümer,
deutsche Reichsverfnssung, "altdeutsches Gerichtswesen, die I^ex 8g.1leg. und
deutsche Historiographie in kürzeren Vorträgen behandelte, hatte sich in Göttingen
ein feststehender zweijähriger Turnus herausgebildet, der deutsche Geschichte bis
zur Gegenwart, Geschichte des Mittelalters, deutsche Altertümer, neuere deutsche
Geschichte, Politik und allgemeine Verfassungsgeschichte umfaßte. Dazu kamen
dann wohl noch zwei kürzere öffentliche Vorlesungen: Einleitung in die deutsche
Geschichte und deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation.

Wir haben oben die Worte angeführt, mit welchen Ranke gleichsam das
Programm des an deutscheu Universitäten wirkenden Lehrers entworfen; sie


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[0133] Georg waitz. stehen der historischen Übungen zu feiern. Noch heute fühlt jeder, der das Glück hatte, um den runden Tisch mit sitzen zu können, sich als das Glied einer großen Familie, die in treuester Liebe und Dankbarkeit zu „Vater Waitz" steht. Waitz liebte es, am Anfang des Semesters Besprechungen über das Wesen der Geschichtsforschung, über Hermeneutik und Kritik, über Geschichtsquellen und dergleichen mehr anzustellen. Bei andern Zusammenkünften wurden kleinere Fragen aus der Geschichte des deutschen Mittelalters vorgenommen, auch wohl ein Kapitel eines mittelalterlichen Geschichtschreibers zusammen gelesen. Hatte einer der Genossen seine Doktorarbeit vollendet, so wurde sie, nachdem der Lehrer sie vorher aufs sorgsamste durchgearbeitet, gemeinsam besprochen. Wie manchem jungen Historiker hat das Herz vor jenem Tage, wo sein Erstlingswerk an die Reihe kam und er nun das Urteil des Meisters erharrte, in banger Auf¬ regung geklopft! Wie schön war aber auch dann das Bewußtsein, sich von dem verehrten Manne anerkannt oder gar gelobt zu sehen! Wenn dann die Übungsstunde beendet war — das heitere Jugendglück des ersten Erfolges, die teilnehmenden Worte und der treue Händedruck der Genossen! Man wundere sich nicht, daß wir Waitzianer stolz und fest zusammenstehen; wir waren ja alle Kriegs- und Zeltkameraden. Unser Lehrer liebte für die historischen Übungen keine Vorbereitung. Wir sollten und mußten gewappnet sein, jeden Punkt in sicherm Ansturm zu nehmen. Und wie verstand er das Ganze zu leiten! Einfach und klar war der Aufbau seiner Entwicklung, sicher der Arm und das Wort, mit dem er führte, nur die Wahrheit wurde gesucht. Aber auch die Maxime galt bisweilen: „Nichtwissen ist auch ein Wissen!" Freilich kein leichtfertiges Absprechen, strenge, logische Gedankenarbeit, Aufbieten jeder Kraft forderte der Lehrer. Er selbst gab sein Bestes. Was wunder, wenn jeder von uns darnach strebte, auch das Beste zu leisten. Das ist das Geheimnis der großen Erfolge, die Waitz in seinem Seminar zu verzeichnen hatte, daß er in seinen Schülern, ja in jedem einzelnen von ihnen, ganz aufging, und jeder seiner Schüler in ihm. Die Vorlesungen ergänzten die historischen Übungen aufs glücklichste. Während Waitz in Kiel deutsche Geschichte, Mittelalter, Schleswig-holsteinische und dänische Geschichte las, dazu Tacitus' Germania, deutsche Altertümer, deutsche Reichsverfnssung, "altdeutsches Gerichtswesen, die I^ex 8g.1leg. und deutsche Historiographie in kürzeren Vorträgen behandelte, hatte sich in Göttingen ein feststehender zweijähriger Turnus herausgebildet, der deutsche Geschichte bis zur Gegenwart, Geschichte des Mittelalters, deutsche Altertümer, neuere deutsche Geschichte, Politik und allgemeine Verfassungsgeschichte umfaßte. Dazu kamen dann wohl noch zwei kürzere öffentliche Vorlesungen: Einleitung in die deutsche Geschichte und deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation. Wir haben oben die Worte angeführt, mit welchen Ranke gleichsam das Programm des an deutscheu Universitäten wirkenden Lehrers entworfen; sie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/133>, abgerufen am 01.09.2024.