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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Francesca von Rimini.

NMAusiits dagegen -- sie hatte keinen festen Namen und wurde, je nach¬
dem das französische oder deutschnationale Element bei ihrer Mutter überwog,
bald so, bald Gretchen genannt -- hatte ganz das Temperament ihrer Mutter,
einen offenen Kopf, der schnell das Gelernte begriff und die Kunst verstand,
ihr Licht nicht unter den Scheffel zu stellen. Sie war schön -- und schon als
Kind sich dessen bewußt -- sie war selbstsüchtig und ohne Gemüt, obwohl sie
den Schein von Liebe und Hingebung zu wahren wußte; kurzum, sie verstand
es, kaum den Kinderjahren entwachsen, die Männer an sich heranzuziehen und
an der Nase herumzuführen. Über ihre zukünftige Bestimmung war sie von
ihrer Mutter nicht im Unklaren gelassen, sie sollte nur einen Diplomaten oder
Grafen heiraten.

Solche freilich waren in dem Hause der Tiergartenstraße vorläufig noch
nicht zu finden. Die Gesellschaft, die in der Familie Gensve verkehrte, war
die landesübliche, d. h. zunächst die Börse mit ihrer Dependenz. Frau Bertha
wollte aber auch literarisch glänzen und nahm, da ihr die ersten Größen des
Berliner Parnasses versagt waren, mit der Lobönuz litsrairs siirlicb. Da war
zunächst der Redakteur der "Nymphe," welcher von der Schule entlaufen, auf
verschiedenen Winkelbühnen Deutschlands ausgepfiffen, sich nachher als Spekulant
an der Wiener Börse durch ins Ungemessene getriebene Operationen zur Zahlungs¬
einstellung genötigt sah. Er hatte durch einen mehrjährigen Aufenthalt in den
Vereinigten Staaten von Amerika einen Reinigungsprozeß durchgemacht und
war bei seiner Rückkehr plötzlich als Litercit aufgetaucht. Aber auch als solcher
sank er von einer Zeitung immer tiefer in die andre, bis er selbst die "Nymphe"
begründete, welche den Schrecken für die Künstlerinnen der Vorstadtbühne bildete,
deren kleine Geheimnisse schonungslos preisgegeben wurden. Er besaß Humor
und eine köstliche Unverfrorenheit; er konnte die unglaublichsten Geschichten er¬
zählen und mit größter Naivetät die unzweifelhaftesten Süjets, ohne selbst zu
reröten, vortragen -- und wurde natürlich geistreich gefunden. Weitere Gäste
des Hauses waren die beiden Vettern Kastor -- ihren eigentlichen Namen hat
man nie ermitteln können --, Redakteure des "Berliner Barbiers," welcher die
Aufgabe hatte, im Gegensatz zur "Nymphe" den wahren und erfundenen Skandal
der sogenannten besseren Gesellschaft unerbittlich und bis in die kleinsten und
zartesten Einzelheiten bloßzulegen. Auch die harmloseste Liebesaffäre, die zwischen
Tempelhof und Weißensee spielte, entging ihrem Falkenauge nicht; jede kleine
Liaison eines Offiziers mit einer Theaterprinzessin wurde mit allen möglichen
Pikanterien und unter deutlichster Bezeichnung der Beteiligten berichtet. In
Gesellschaft waren diese Dioskuren harmlos, da sie nicht Erziehung und Mut
besaßen, sich frei ins Gesicht zu äußern; sie verbrauchten all ihren bedenklichen
Witz für die Spalten ihrer Zeitung und nahmen nur mit schweigendem, ver¬
bindlichem Lächeln die Komplimente aus schönem Munde entgegen, die ihnen
für irgend ein Geschichtchen ihrer Morgennummer gespendet wurden. Lebhafter


Francesca von Rimini.

NMAusiits dagegen — sie hatte keinen festen Namen und wurde, je nach¬
dem das französische oder deutschnationale Element bei ihrer Mutter überwog,
bald so, bald Gretchen genannt — hatte ganz das Temperament ihrer Mutter,
einen offenen Kopf, der schnell das Gelernte begriff und die Kunst verstand,
ihr Licht nicht unter den Scheffel zu stellen. Sie war schön — und schon als
Kind sich dessen bewußt — sie war selbstsüchtig und ohne Gemüt, obwohl sie
den Schein von Liebe und Hingebung zu wahren wußte; kurzum, sie verstand
es, kaum den Kinderjahren entwachsen, die Männer an sich heranzuziehen und
an der Nase herumzuführen. Über ihre zukünftige Bestimmung war sie von
ihrer Mutter nicht im Unklaren gelassen, sie sollte nur einen Diplomaten oder
Grafen heiraten.

Solche freilich waren in dem Hause der Tiergartenstraße vorläufig noch
nicht zu finden. Die Gesellschaft, die in der Familie Gensve verkehrte, war
die landesübliche, d. h. zunächst die Börse mit ihrer Dependenz. Frau Bertha
wollte aber auch literarisch glänzen und nahm, da ihr die ersten Größen des
Berliner Parnasses versagt waren, mit der Lobönuz litsrairs siirlicb. Da war
zunächst der Redakteur der „Nymphe," welcher von der Schule entlaufen, auf
verschiedenen Winkelbühnen Deutschlands ausgepfiffen, sich nachher als Spekulant
an der Wiener Börse durch ins Ungemessene getriebene Operationen zur Zahlungs¬
einstellung genötigt sah. Er hatte durch einen mehrjährigen Aufenthalt in den
Vereinigten Staaten von Amerika einen Reinigungsprozeß durchgemacht und
war bei seiner Rückkehr plötzlich als Litercit aufgetaucht. Aber auch als solcher
sank er von einer Zeitung immer tiefer in die andre, bis er selbst die „Nymphe"
begründete, welche den Schrecken für die Künstlerinnen der Vorstadtbühne bildete,
deren kleine Geheimnisse schonungslos preisgegeben wurden. Er besaß Humor
und eine köstliche Unverfrorenheit; er konnte die unglaublichsten Geschichten er¬
zählen und mit größter Naivetät die unzweifelhaftesten Süjets, ohne selbst zu
reröten, vortragen — und wurde natürlich geistreich gefunden. Weitere Gäste
des Hauses waren die beiden Vettern Kastor — ihren eigentlichen Namen hat
man nie ermitteln können —, Redakteure des „Berliner Barbiers," welcher die
Aufgabe hatte, im Gegensatz zur „Nymphe" den wahren und erfundenen Skandal
der sogenannten besseren Gesellschaft unerbittlich und bis in die kleinsten und
zartesten Einzelheiten bloßzulegen. Auch die harmloseste Liebesaffäre, die zwischen
Tempelhof und Weißensee spielte, entging ihrem Falkenauge nicht; jede kleine
Liaison eines Offiziers mit einer Theaterprinzessin wurde mit allen möglichen
Pikanterien und unter deutlichster Bezeichnung der Beteiligten berichtet. In
Gesellschaft waren diese Dioskuren harmlos, da sie nicht Erziehung und Mut
besaßen, sich frei ins Gesicht zu äußern; sie verbrauchten all ihren bedenklichen
Witz für die Spalten ihrer Zeitung und nahmen nur mit schweigendem, ver¬
bindlichem Lächeln die Komplimente aus schönem Munde entgegen, die ihnen
für irgend ein Geschichtchen ihrer Morgennummer gespendet wurden. Lebhafter


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[0118] Francesca von Rimini. NMAusiits dagegen — sie hatte keinen festen Namen und wurde, je nach¬ dem das französische oder deutschnationale Element bei ihrer Mutter überwog, bald so, bald Gretchen genannt — hatte ganz das Temperament ihrer Mutter, einen offenen Kopf, der schnell das Gelernte begriff und die Kunst verstand, ihr Licht nicht unter den Scheffel zu stellen. Sie war schön — und schon als Kind sich dessen bewußt — sie war selbstsüchtig und ohne Gemüt, obwohl sie den Schein von Liebe und Hingebung zu wahren wußte; kurzum, sie verstand es, kaum den Kinderjahren entwachsen, die Männer an sich heranzuziehen und an der Nase herumzuführen. Über ihre zukünftige Bestimmung war sie von ihrer Mutter nicht im Unklaren gelassen, sie sollte nur einen Diplomaten oder Grafen heiraten. Solche freilich waren in dem Hause der Tiergartenstraße vorläufig noch nicht zu finden. Die Gesellschaft, die in der Familie Gensve verkehrte, war die landesübliche, d. h. zunächst die Börse mit ihrer Dependenz. Frau Bertha wollte aber auch literarisch glänzen und nahm, da ihr die ersten Größen des Berliner Parnasses versagt waren, mit der Lobönuz litsrairs siirlicb. Da war zunächst der Redakteur der „Nymphe," welcher von der Schule entlaufen, auf verschiedenen Winkelbühnen Deutschlands ausgepfiffen, sich nachher als Spekulant an der Wiener Börse durch ins Ungemessene getriebene Operationen zur Zahlungs¬ einstellung genötigt sah. Er hatte durch einen mehrjährigen Aufenthalt in den Vereinigten Staaten von Amerika einen Reinigungsprozeß durchgemacht und war bei seiner Rückkehr plötzlich als Litercit aufgetaucht. Aber auch als solcher sank er von einer Zeitung immer tiefer in die andre, bis er selbst die „Nymphe" begründete, welche den Schrecken für die Künstlerinnen der Vorstadtbühne bildete, deren kleine Geheimnisse schonungslos preisgegeben wurden. Er besaß Humor und eine köstliche Unverfrorenheit; er konnte die unglaublichsten Geschichten er¬ zählen und mit größter Naivetät die unzweifelhaftesten Süjets, ohne selbst zu reröten, vortragen — und wurde natürlich geistreich gefunden. Weitere Gäste des Hauses waren die beiden Vettern Kastor — ihren eigentlichen Namen hat man nie ermitteln können —, Redakteure des „Berliner Barbiers," welcher die Aufgabe hatte, im Gegensatz zur „Nymphe" den wahren und erfundenen Skandal der sogenannten besseren Gesellschaft unerbittlich und bis in die kleinsten und zartesten Einzelheiten bloßzulegen. Auch die harmloseste Liebesaffäre, die zwischen Tempelhof und Weißensee spielte, entging ihrem Falkenauge nicht; jede kleine Liaison eines Offiziers mit einer Theaterprinzessin wurde mit allen möglichen Pikanterien und unter deutlichster Bezeichnung der Beteiligten berichtet. In Gesellschaft waren diese Dioskuren harmlos, da sie nicht Erziehung und Mut besaßen, sich frei ins Gesicht zu äußern; sie verbrauchten all ihren bedenklichen Witz für die Spalten ihrer Zeitung und nahmen nur mit schweigendem, ver¬ bindlichem Lächeln die Komplimente aus schönem Munde entgegen, die ihnen für irgend ein Geschichtchen ihrer Morgennummer gespendet wurden. Lebhafter

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/118>, abgerufen am 01.09.2024.