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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal.

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Die romantische Schule in Frankreich.

teristischen Zügen enthalten, auf welche hin die Leser vom echt modernen
Schlage glauben werden, mit den Autoren und Büchern, von denen die Rede
ist, völlig vertraut zu sein. Diese französischen Romantiker, die Victor Hugo
und de Vigny, die Alfred de Musset und Prosper Merimee, die Balzac und
Georges Sand, die Gautier und Samt Beuve liegen noch nicht weit genug
hinter uns, um selbst beim Publikum einer modernen Großstadt schlechthin ver¬
gessen zu sein. Sie stehen andrerseits den Menschen des bloßen Heute, den
bewußten Anhängern der Aktualität schon viel zu fern, um neben Zola oder
Daudet, neben Belot oder den Goncourts in großen Kreisen noch gelesen zu
werden. Da kommt denn ein Buch wie Brandes' neuester Band in bedenklicher
Weise zu Hilfe, es führt vortrefflich ein in eine Welt, von der noch gesprochen
wird, in der man aber nicht mehr lebt. Dem Verfasser daraus einen Vorwurf
zu machen, wäre absurd, er ist von den wärmsten Sympathien für seinen Gegen¬
stand erfüllt, er ist ein selbständiger, bis ins einzelnste unterrichteter Kenner der
französischen romantischen Schule, er kann alles in der Welt, nur nicht ein
unselbständiger Kompilator oder ein Nachbeter der Urteile andrer gescholten
werden. Sein Werk sollte keinen andern Erfolg haben, als zum selbständigen
Studium der hochinteressanter Literaturperiode, die es schildert, allseitig anzu¬
regen und den Bewunderern des neuesten Naturalismus klar zu machen, wie
untergeordnet und armselig die vielgepriesene neueste Bewegung ist gegen die
Periode zwischen 1825 und 1843. Tritt die Charakteristik einzelner Erscheinungen
dieser Periode allzu enthusiastisch und panegyrisch auf, so schließt das nicht aus,
daß Brandes unter allen deutschen Beurteilern das feinste Verständnis für die
treibenden Mächte des französischen "Romantismus" (wie er sagt) besitzt.

Es ist von der Zeit die Rede, wo man in allen Künsten Bruch mit der
Konvention suchte und begehrte. "Die innere Flamme sollte die musikalischen
Formen durchglühen und befreien, die Linien und Konturen verzehren und das
Gemälde zur Farbensymphonie gestalten, endlich die Dichtkunst verjüngen. Man
suchte und begehrte in allen Künsten Farbe, Leidenschaft und Stil; die Farbe
so energisch, daß der genialste Maler des Zeitalters, Delacroix, die Zeichnung
über sie versäumte; die Leidenschaft so heftig, daß Lyrik und Drama Gefahr
liefen, in Fieber und Krampf sich zu verlieren; den Stil mit einer so absoluten
Knnstbegeisternng, daß bei einzelnen der jüngern, wie den beiden Gegensätzen
Merimee und Gautier, die poetische Humanität in lauter Stil aufging. Man
suchte und verherrlichte überall das Primitive, das Unbewußte, das Volkstümliche.
Wir sind Rhetoren gewesen! rief man aus; wir haben nie das Ursprüngliche
und das Unlogische begriffen, nie den Barbaren, nie das Volk, nie das Kind,
nie das Weib, nie den Dichter verstanden. An Stelle dessen, was früher den
Stolz des französischen Schriftstellers ausgemacht hatte: des Bewußtseins, ein
Franzose zu sein, trat nun in einer natürlichen Reaktion eine tiefgreifende Ge¬
ringschätzung der nationalen Dichtung und ihrer Klassiker. Man fing an, die


Die romantische Schule in Frankreich.

teristischen Zügen enthalten, auf welche hin die Leser vom echt modernen
Schlage glauben werden, mit den Autoren und Büchern, von denen die Rede
ist, völlig vertraut zu sein. Diese französischen Romantiker, die Victor Hugo
und de Vigny, die Alfred de Musset und Prosper Merimee, die Balzac und
Georges Sand, die Gautier und Samt Beuve liegen noch nicht weit genug
hinter uns, um selbst beim Publikum einer modernen Großstadt schlechthin ver¬
gessen zu sein. Sie stehen andrerseits den Menschen des bloßen Heute, den
bewußten Anhängern der Aktualität schon viel zu fern, um neben Zola oder
Daudet, neben Belot oder den Goncourts in großen Kreisen noch gelesen zu
werden. Da kommt denn ein Buch wie Brandes' neuester Band in bedenklicher
Weise zu Hilfe, es führt vortrefflich ein in eine Welt, von der noch gesprochen
wird, in der man aber nicht mehr lebt. Dem Verfasser daraus einen Vorwurf
zu machen, wäre absurd, er ist von den wärmsten Sympathien für seinen Gegen¬
stand erfüllt, er ist ein selbständiger, bis ins einzelnste unterrichteter Kenner der
französischen romantischen Schule, er kann alles in der Welt, nur nicht ein
unselbständiger Kompilator oder ein Nachbeter der Urteile andrer gescholten
werden. Sein Werk sollte keinen andern Erfolg haben, als zum selbständigen
Studium der hochinteressanter Literaturperiode, die es schildert, allseitig anzu¬
regen und den Bewunderern des neuesten Naturalismus klar zu machen, wie
untergeordnet und armselig die vielgepriesene neueste Bewegung ist gegen die
Periode zwischen 1825 und 1843. Tritt die Charakteristik einzelner Erscheinungen
dieser Periode allzu enthusiastisch und panegyrisch auf, so schließt das nicht aus,
daß Brandes unter allen deutschen Beurteilern das feinste Verständnis für die
treibenden Mächte des französischen „Romantismus" (wie er sagt) besitzt.

Es ist von der Zeit die Rede, wo man in allen Künsten Bruch mit der
Konvention suchte und begehrte. „Die innere Flamme sollte die musikalischen
Formen durchglühen und befreien, die Linien und Konturen verzehren und das
Gemälde zur Farbensymphonie gestalten, endlich die Dichtkunst verjüngen. Man
suchte und begehrte in allen Künsten Farbe, Leidenschaft und Stil; die Farbe
so energisch, daß der genialste Maler des Zeitalters, Delacroix, die Zeichnung
über sie versäumte; die Leidenschaft so heftig, daß Lyrik und Drama Gefahr
liefen, in Fieber und Krampf sich zu verlieren; den Stil mit einer so absoluten
Knnstbegeisternng, daß bei einzelnen der jüngern, wie den beiden Gegensätzen
Merimee und Gautier, die poetische Humanität in lauter Stil aufging. Man
suchte und verherrlichte überall das Primitive, das Unbewußte, das Volkstümliche.
Wir sind Rhetoren gewesen! rief man aus; wir haben nie das Ursprüngliche
und das Unlogische begriffen, nie den Barbaren, nie das Volk, nie das Kind,
nie das Weib, nie den Dichter verstanden. An Stelle dessen, was früher den
Stolz des französischen Schriftstellers ausgemacht hatte: des Bewußtseins, ein
Franzose zu sein, trat nun in einer natürlichen Reaktion eine tiefgreifende Ge¬
ringschätzung der nationalen Dichtung und ihrer Klassiker. Man fing an, die


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[0092] Die romantische Schule in Frankreich. teristischen Zügen enthalten, auf welche hin die Leser vom echt modernen Schlage glauben werden, mit den Autoren und Büchern, von denen die Rede ist, völlig vertraut zu sein. Diese französischen Romantiker, die Victor Hugo und de Vigny, die Alfred de Musset und Prosper Merimee, die Balzac und Georges Sand, die Gautier und Samt Beuve liegen noch nicht weit genug hinter uns, um selbst beim Publikum einer modernen Großstadt schlechthin ver¬ gessen zu sein. Sie stehen andrerseits den Menschen des bloßen Heute, den bewußten Anhängern der Aktualität schon viel zu fern, um neben Zola oder Daudet, neben Belot oder den Goncourts in großen Kreisen noch gelesen zu werden. Da kommt denn ein Buch wie Brandes' neuester Band in bedenklicher Weise zu Hilfe, es führt vortrefflich ein in eine Welt, von der noch gesprochen wird, in der man aber nicht mehr lebt. Dem Verfasser daraus einen Vorwurf zu machen, wäre absurd, er ist von den wärmsten Sympathien für seinen Gegen¬ stand erfüllt, er ist ein selbständiger, bis ins einzelnste unterrichteter Kenner der französischen romantischen Schule, er kann alles in der Welt, nur nicht ein unselbständiger Kompilator oder ein Nachbeter der Urteile andrer gescholten werden. Sein Werk sollte keinen andern Erfolg haben, als zum selbständigen Studium der hochinteressanter Literaturperiode, die es schildert, allseitig anzu¬ regen und den Bewunderern des neuesten Naturalismus klar zu machen, wie untergeordnet und armselig die vielgepriesene neueste Bewegung ist gegen die Periode zwischen 1825 und 1843. Tritt die Charakteristik einzelner Erscheinungen dieser Periode allzu enthusiastisch und panegyrisch auf, so schließt das nicht aus, daß Brandes unter allen deutschen Beurteilern das feinste Verständnis für die treibenden Mächte des französischen „Romantismus" (wie er sagt) besitzt. Es ist von der Zeit die Rede, wo man in allen Künsten Bruch mit der Konvention suchte und begehrte. „Die innere Flamme sollte die musikalischen Formen durchglühen und befreien, die Linien und Konturen verzehren und das Gemälde zur Farbensymphonie gestalten, endlich die Dichtkunst verjüngen. Man suchte und begehrte in allen Künsten Farbe, Leidenschaft und Stil; die Farbe so energisch, daß der genialste Maler des Zeitalters, Delacroix, die Zeichnung über sie versäumte; die Leidenschaft so heftig, daß Lyrik und Drama Gefahr liefen, in Fieber und Krampf sich zu verlieren; den Stil mit einer so absoluten Knnstbegeisternng, daß bei einzelnen der jüngern, wie den beiden Gegensätzen Merimee und Gautier, die poetische Humanität in lauter Stil aufging. Man suchte und verherrlichte überall das Primitive, das Unbewußte, das Volkstümliche. Wir sind Rhetoren gewesen! rief man aus; wir haben nie das Ursprüngliche und das Unlogische begriffen, nie den Barbaren, nie das Volk, nie das Kind, nie das Weib, nie den Dichter verstanden. An Stelle dessen, was früher den Stolz des französischen Schriftstellers ausgemacht hatte: des Bewußtseins, ein Franzose zu sein, trat nun in einer natürlichen Reaktion eine tiefgreifende Ge¬ ringschätzung der nationalen Dichtung und ihrer Klassiker. Man fing an, die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_153446/92>, abgerufen am 08.09.2024.