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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal.

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Das Schwurgericht.

die Geschwornen von den allerverkehrtesten Rechtsanschauungen ausgegangen sein,
es giebt dagegen keine Remedur, weil niemand erfährt, was sie eigentlich bei
ihrem Ja oder Nein sich gedacht haben. Die wichtige Aufgabe des Reichs¬
gerichts, für eine einheitliche und korrekte Rechtsprechung zu sorgen, muß also
auf dem den Schwurgerichten überwiesenen Gebiete des materiellen Strafrechts
so gut wie unerfüllt bleiben. Gerade bei den Rechtsprüchen, bei welchen wegen
der Qualität der Urteilsfinder die Nachprüfung der zu Grunde liegenden Rechts¬
anschauungen durch ein höheres Gericht am dringendsten geboten wäre, bleibt
diese völlig aus. Wenn die Frage aufgeworfen wird: Wie handhaben unsre
Gerichtshöfe die Bestimmungen des Strafgesetzbuchs über die schwersten Ver¬
brechen? so lautet die Autwort: Das weiß kein Mensch; denn diese Handhabung
geschieht durch Rechsunknndige, die sich über die etwa dabei befolgten Grund¬
sätze, wenn sie überhaupt dergleichen befolgen, in keiner Weise zu äußern haben.

Der Grund, weshalb man auf diese Art die Verdikte der Geschwornen all
und jeder Kontrole entzogen hat, kann unmöglich der sein, daß man ihnen keine
Rechtsirrtümer zutraute. Ebensowenig können die äußerlichen Schwierigkeiten
eine so gefährliche Abweichung von einer der wichtigsten Regeln des Prozesses
rechtfertigen. Diese Schwierigkeiten sind auch gar so arg nicht. Wenn Körper¬
schaften von viel größerer Mitgliederzahl, beispielsweise parlamentarische Kom¬
missionen, imstande sind, zur Begründung ihrer Beschlüsse die Ansichten der
Majorität auf dem Papiere zu fixiren, so ist nicht einzusehen, weshalb das bei
den Geschwornen formell so schwierig sein sollte. Der Obmann und zwei weiter
zu erwählende Mitglieder der Geschwornenbank könnten sehr füglich ein Re-
daktionsbüreau bilden. Aber der Grund liegt tiefer. Der Gesetzgeber mutet
den Geschwornen die Begründung ihres Spruches nicht zu und kann sie ihnen
nicht zumuten, einmal weil es sehr zweifelhaft ist, ob auf jeder Geschwornenbank
auch nur eine Persönlichkeit zu finden sein würde, die der Aufgabe einer richtigen
Feststellung der Entscheidungsgründe gewachsen wäre, sodann weil man, nach
dem, was gelegentlich über die Debatten in den Geschwornenzimmern verlautet,
befürchten muß, daß das Bekanntmachen der von der Majorität gebilligten
Gründe die Mehrzahl aller, auch der im Resultate richtigen Wayrsprüche, der
Vernichtung in der Revisionsinstanz preisgeben würde.

So wird man immer wieder darauf zurückgeführt: das schwurgerichtliche
Verfahren verstößt nach allen Richtungen gegen die Grundsätze eines gesunden
Prozeßrechts, aber diese Verstöße sind mit dem Grundcharakter der ganzen In¬
stitution unlöslich verbunden.

"Eine mittelalterliche Einrichtung, passend für mittelalterliche Zustände" --
das sind doch sonst heutzutage beliebte Schlagworte, um gesetzgeberische Ma߬
nahmen zu diskreditiren. Warum hat man sie noch nie auf die Schwurgerichte
und auf die Laiengerichte überhaupt angewendet, auf die sie wirklich passen?
In den Zeiten vor der Karolina, als es, von den geistlichen Gerichten abgesehen,


Das Schwurgericht.

die Geschwornen von den allerverkehrtesten Rechtsanschauungen ausgegangen sein,
es giebt dagegen keine Remedur, weil niemand erfährt, was sie eigentlich bei
ihrem Ja oder Nein sich gedacht haben. Die wichtige Aufgabe des Reichs¬
gerichts, für eine einheitliche und korrekte Rechtsprechung zu sorgen, muß also
auf dem den Schwurgerichten überwiesenen Gebiete des materiellen Strafrechts
so gut wie unerfüllt bleiben. Gerade bei den Rechtsprüchen, bei welchen wegen
der Qualität der Urteilsfinder die Nachprüfung der zu Grunde liegenden Rechts¬
anschauungen durch ein höheres Gericht am dringendsten geboten wäre, bleibt
diese völlig aus. Wenn die Frage aufgeworfen wird: Wie handhaben unsre
Gerichtshöfe die Bestimmungen des Strafgesetzbuchs über die schwersten Ver¬
brechen? so lautet die Autwort: Das weiß kein Mensch; denn diese Handhabung
geschieht durch Rechsunknndige, die sich über die etwa dabei befolgten Grund¬
sätze, wenn sie überhaupt dergleichen befolgen, in keiner Weise zu äußern haben.

Der Grund, weshalb man auf diese Art die Verdikte der Geschwornen all
und jeder Kontrole entzogen hat, kann unmöglich der sein, daß man ihnen keine
Rechtsirrtümer zutraute. Ebensowenig können die äußerlichen Schwierigkeiten
eine so gefährliche Abweichung von einer der wichtigsten Regeln des Prozesses
rechtfertigen. Diese Schwierigkeiten sind auch gar so arg nicht. Wenn Körper¬
schaften von viel größerer Mitgliederzahl, beispielsweise parlamentarische Kom¬
missionen, imstande sind, zur Begründung ihrer Beschlüsse die Ansichten der
Majorität auf dem Papiere zu fixiren, so ist nicht einzusehen, weshalb das bei
den Geschwornen formell so schwierig sein sollte. Der Obmann und zwei weiter
zu erwählende Mitglieder der Geschwornenbank könnten sehr füglich ein Re-
daktionsbüreau bilden. Aber der Grund liegt tiefer. Der Gesetzgeber mutet
den Geschwornen die Begründung ihres Spruches nicht zu und kann sie ihnen
nicht zumuten, einmal weil es sehr zweifelhaft ist, ob auf jeder Geschwornenbank
auch nur eine Persönlichkeit zu finden sein würde, die der Aufgabe einer richtigen
Feststellung der Entscheidungsgründe gewachsen wäre, sodann weil man, nach
dem, was gelegentlich über die Debatten in den Geschwornenzimmern verlautet,
befürchten muß, daß das Bekanntmachen der von der Majorität gebilligten
Gründe die Mehrzahl aller, auch der im Resultate richtigen Wayrsprüche, der
Vernichtung in der Revisionsinstanz preisgeben würde.

So wird man immer wieder darauf zurückgeführt: das schwurgerichtliche
Verfahren verstößt nach allen Richtungen gegen die Grundsätze eines gesunden
Prozeßrechts, aber diese Verstöße sind mit dem Grundcharakter der ganzen In¬
stitution unlöslich verbunden.

„Eine mittelalterliche Einrichtung, passend für mittelalterliche Zustände" —
das sind doch sonst heutzutage beliebte Schlagworte, um gesetzgeberische Ma߬
nahmen zu diskreditiren. Warum hat man sie noch nie auf die Schwurgerichte
und auf die Laiengerichte überhaupt angewendet, auf die sie wirklich passen?
In den Zeiten vor der Karolina, als es, von den geistlichen Gerichten abgesehen,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_153446/83>, abgerufen am 08.09.2024.