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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal.

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Der Streit zwischen Frankreich und China.

zu denken geben und die kriegerischen Neigungen eines einflußreichen Teils der
französischen Politiker dringend zum Haltmachen auf ihrer Bahn veranlassen.
"Die Regierung durch und für das Volk," wie man das jetzige System so gern
nennt, hat bisher nur den Erfolg gehabt, daß sie die Lasten des Volkes ver¬
mehrt hat und zwar augenscheinlich nur durch finanzielle Ausschreitungen, durch
finanzielles Ungeschick; denn bis 1881, dem Jahre der Expedition nach Tunis,
kamen keine aus kriegerischen Unternehmungen entspringenden Ausgaben vor.
Fügt Herr Ferry mit seinen Kollegen zu jener enormen Gesamtschuld noch die
Kosten eines Krieges mit China hinzu, die mindestens das dreifache der Aus¬
gaben für den tunesischen Feldzug betragen würden, wie wird dann nach zwei
Jahren das Budget der Republik aussehen, und welche Aussichten auf Fort¬
dauer wird dann ein Regierungssystem haben, das keinen andern Anspruch auf
Existenz hat als den, der in dem Glauben und Vertrauen liegt, daß mit ihm
das Gedeihen des französischen Volkes am sichersten verbürgt und gewahrt sei.

Einige Hoffnung auf friedlichen Austrag des Streites in der elften Stunde
giebt die Nachricht, daß Lord Lyons, der Vertreter Englands bei der fran¬
zösischen Republik, plötzlich und ohne den Ablauf seines Urlaubes abzuwarten,
auf seinen Posten nach Paris zurückgekehrt ist. England scheint hiernach den
Weg betreten zu wollen, von dem in unsrer letzten Betrachtung des Streites
die Rede war. Man machte bisher dagegen geltend, daß Selbstachtung ihm
nicht gestatte, seine Dienste unaufgefordert anzubieten oder sich dazu herbei¬
zulassen, wenn es nicht mit Bestimmtheit wüßte, daß beide Parteien geneigt seien,
sich durch seine Ratschläge bestimmen zu lassen. Ob diese Voraussetzungen sich
jetzt erfüllt haben, ist uns unbekannt. Es ist nicht sehr wahrscheinlich, daß
Frankreich um die englische Intervention in der Sache gebeten hat, aber dies
kann von seiten Chinas geschehen sein, und die britische Regierung kann in An¬
betracht der wichtigen englischen Interessen, die ein Krieg gefährden würde, von
dem Wunsche, von beiden Mächten um eine Vermittlung ersucht zu werden, ab¬
gesehen haben. Dabei würde indeß anzunehmen sein, daß man sich in London
die Gewißheit verschafft habe, daß die französische Regierung bereit sei, auf den
Vorschlag einer Vermittlung einzugehen, ja vielleicht bewahrheitet sich die Nach¬
richt französischer Blätter, daß das britische Kabinet bereits mit China und
Fraukreich zu einer vorläufigen Verständigung über die Grundlagen einer Bei¬
legung des Streites gelangt sei.

Die oben angeführten Äußerungen des Marquis Tseng und die Unruhen
in Kanton mahnen die Diplomatie zur Eile. Allerdings ist in jener Stadt die
Ruhe wiederhergestellt worden, aber sie kann jeden Tag wieder gestört werden,
und man weiß, wie ansteckend die zu Gewaltthat drängende Stimmung auf die
Bevölkerung der großen Städte im Osten wirkt. Was jetzt in Kanton geschah,
kann morgen in jedem der chinesischen Traktathäfen geschehen, wo Europäer
unter Massen von Chinesen wohnen. Die Franzosen werden von den letztern


Der Streit zwischen Frankreich und China.

zu denken geben und die kriegerischen Neigungen eines einflußreichen Teils der
französischen Politiker dringend zum Haltmachen auf ihrer Bahn veranlassen.
„Die Regierung durch und für das Volk," wie man das jetzige System so gern
nennt, hat bisher nur den Erfolg gehabt, daß sie die Lasten des Volkes ver¬
mehrt hat und zwar augenscheinlich nur durch finanzielle Ausschreitungen, durch
finanzielles Ungeschick; denn bis 1881, dem Jahre der Expedition nach Tunis,
kamen keine aus kriegerischen Unternehmungen entspringenden Ausgaben vor.
Fügt Herr Ferry mit seinen Kollegen zu jener enormen Gesamtschuld noch die
Kosten eines Krieges mit China hinzu, die mindestens das dreifache der Aus¬
gaben für den tunesischen Feldzug betragen würden, wie wird dann nach zwei
Jahren das Budget der Republik aussehen, und welche Aussichten auf Fort¬
dauer wird dann ein Regierungssystem haben, das keinen andern Anspruch auf
Existenz hat als den, der in dem Glauben und Vertrauen liegt, daß mit ihm
das Gedeihen des französischen Volkes am sichersten verbürgt und gewahrt sei.

Einige Hoffnung auf friedlichen Austrag des Streites in der elften Stunde
giebt die Nachricht, daß Lord Lyons, der Vertreter Englands bei der fran¬
zösischen Republik, plötzlich und ohne den Ablauf seines Urlaubes abzuwarten,
auf seinen Posten nach Paris zurückgekehrt ist. England scheint hiernach den
Weg betreten zu wollen, von dem in unsrer letzten Betrachtung des Streites
die Rede war. Man machte bisher dagegen geltend, daß Selbstachtung ihm
nicht gestatte, seine Dienste unaufgefordert anzubieten oder sich dazu herbei¬
zulassen, wenn es nicht mit Bestimmtheit wüßte, daß beide Parteien geneigt seien,
sich durch seine Ratschläge bestimmen zu lassen. Ob diese Voraussetzungen sich
jetzt erfüllt haben, ist uns unbekannt. Es ist nicht sehr wahrscheinlich, daß
Frankreich um die englische Intervention in der Sache gebeten hat, aber dies
kann von seiten Chinas geschehen sein, und die britische Regierung kann in An¬
betracht der wichtigen englischen Interessen, die ein Krieg gefährden würde, von
dem Wunsche, von beiden Mächten um eine Vermittlung ersucht zu werden, ab¬
gesehen haben. Dabei würde indeß anzunehmen sein, daß man sich in London
die Gewißheit verschafft habe, daß die französische Regierung bereit sei, auf den
Vorschlag einer Vermittlung einzugehen, ja vielleicht bewahrheitet sich die Nach¬
richt französischer Blätter, daß das britische Kabinet bereits mit China und
Fraukreich zu einer vorläufigen Verständigung über die Grundlagen einer Bei¬
legung des Streites gelangt sei.

Die oben angeführten Äußerungen des Marquis Tseng und die Unruhen
in Kanton mahnen die Diplomatie zur Eile. Allerdings ist in jener Stadt die
Ruhe wiederhergestellt worden, aber sie kann jeden Tag wieder gestört werden,
und man weiß, wie ansteckend die zu Gewaltthat drängende Stimmung auf die
Bevölkerung der großen Städte im Osten wirkt. Was jetzt in Kanton geschah,
kann morgen in jedem der chinesischen Traktathäfen geschehen, wo Europäer
unter Massen von Chinesen wohnen. Die Franzosen werden von den letztern


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[0660] Der Streit zwischen Frankreich und China. zu denken geben und die kriegerischen Neigungen eines einflußreichen Teils der französischen Politiker dringend zum Haltmachen auf ihrer Bahn veranlassen. „Die Regierung durch und für das Volk," wie man das jetzige System so gern nennt, hat bisher nur den Erfolg gehabt, daß sie die Lasten des Volkes ver¬ mehrt hat und zwar augenscheinlich nur durch finanzielle Ausschreitungen, durch finanzielles Ungeschick; denn bis 1881, dem Jahre der Expedition nach Tunis, kamen keine aus kriegerischen Unternehmungen entspringenden Ausgaben vor. Fügt Herr Ferry mit seinen Kollegen zu jener enormen Gesamtschuld noch die Kosten eines Krieges mit China hinzu, die mindestens das dreifache der Aus¬ gaben für den tunesischen Feldzug betragen würden, wie wird dann nach zwei Jahren das Budget der Republik aussehen, und welche Aussichten auf Fort¬ dauer wird dann ein Regierungssystem haben, das keinen andern Anspruch auf Existenz hat als den, der in dem Glauben und Vertrauen liegt, daß mit ihm das Gedeihen des französischen Volkes am sichersten verbürgt und gewahrt sei. Einige Hoffnung auf friedlichen Austrag des Streites in der elften Stunde giebt die Nachricht, daß Lord Lyons, der Vertreter Englands bei der fran¬ zösischen Republik, plötzlich und ohne den Ablauf seines Urlaubes abzuwarten, auf seinen Posten nach Paris zurückgekehrt ist. England scheint hiernach den Weg betreten zu wollen, von dem in unsrer letzten Betrachtung des Streites die Rede war. Man machte bisher dagegen geltend, daß Selbstachtung ihm nicht gestatte, seine Dienste unaufgefordert anzubieten oder sich dazu herbei¬ zulassen, wenn es nicht mit Bestimmtheit wüßte, daß beide Parteien geneigt seien, sich durch seine Ratschläge bestimmen zu lassen. Ob diese Voraussetzungen sich jetzt erfüllt haben, ist uns unbekannt. Es ist nicht sehr wahrscheinlich, daß Frankreich um die englische Intervention in der Sache gebeten hat, aber dies kann von seiten Chinas geschehen sein, und die britische Regierung kann in An¬ betracht der wichtigen englischen Interessen, die ein Krieg gefährden würde, von dem Wunsche, von beiden Mächten um eine Vermittlung ersucht zu werden, ab¬ gesehen haben. Dabei würde indeß anzunehmen sein, daß man sich in London die Gewißheit verschafft habe, daß die französische Regierung bereit sei, auf den Vorschlag einer Vermittlung einzugehen, ja vielleicht bewahrheitet sich die Nach¬ richt französischer Blätter, daß das britische Kabinet bereits mit China und Fraukreich zu einer vorläufigen Verständigung über die Grundlagen einer Bei¬ legung des Streites gelangt sei. Die oben angeführten Äußerungen des Marquis Tseng und die Unruhen in Kanton mahnen die Diplomatie zur Eile. Allerdings ist in jener Stadt die Ruhe wiederhergestellt worden, aber sie kann jeden Tag wieder gestört werden, und man weiß, wie ansteckend die zu Gewaltthat drängende Stimmung auf die Bevölkerung der großen Städte im Osten wirkt. Was jetzt in Kanton geschah, kann morgen in jedem der chinesischen Traktathäfen geschehen, wo Europäer unter Massen von Chinesen wohnen. Die Franzosen werden von den letztern

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_153446/660>, abgerufen am 08.09.2024.