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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal.

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"Lonrad Ferdinand Meyers kleine Novellen.

sie eigentlich führt. So mag man, einem flüchtigen Eindruck folgend, wohl
gelten lassen, daß in jeder Meyerschen Novelle ein Roman enthalten sei, wenigstens
jede ohne viel Mühe zum Roman ausgedehnt werden könne. Bei schcirferm
Zusehen tritt freilich zu Tage, daß die Novellen, wenigstens die drei letzten der
hier in Frage stehenden, scharf und fest begrenzt sind, und daß der Erzähler
etwa nur wie gewisse Maler auf ihren Bildern ein Fenster öffnet, um draußen
noch ein Stück nicht gerade zur Sache gehöriger Landschaft schauen zu lassen.

Die erste dieser Novellen, "Das Amulet," könnte man am ehesten als einen
embryonischen und gleichsam nicht ausgereiften Roman bezeichnen. Nur durch
die Einleitung und die besondre Einkleidung wird sie zu eiuer Novelle. Hans von
Schadau, der Berner Edelmann, der Kalvinist, erzählt aus seinen Jugenderinne-
rungen seine Fahrt nach Frankreich, wo er unter Coligny zu dienen beabsichtigt,
seine Abenteuer in der Schenke von Melun, wo er zuerst den katholischen Lands¬
mann Wilhelm Bvccard von Freiburg und darnach den Parlamentsrat von
Chatillon und die schöne Gasparde, seine Pflegetochter, kennen lernt, den Ein¬
ritt in Paris kurz vor der Bartholomäusnacht, das Duell, welches er mit dem
wüsten Greifen von Guiche zu bestehen hat und in welchem er den Gegner
tötet, die Glücksstunde, in der er Gaspardes Liebe gewinnt, die ernste, drohende
Stunde, unmittelbar vor der Bartholomäusnacht, in der ihm der Hugenotten¬
führer das schöne Kind seines verstorbenen Bruders zum Weibe giebt, die glück¬
liche Rettung erst seiner selbst durch Boceards laudsmannschaftliches Eingreifen,
dann seiner jungen Frau aus den Schrecknisse" der Bartholomäusnacht und
die glückliche Heimkehr in das Berner Erbschloß. Die Erfindung ist hier von
großer Sicherheit und einem natürlichen, freien Zug, die Szenen folgen eine
aus der andern mit seiner Verknüpfung. Aber einen tiefern Blick in die Seelen
der Handelnden Menschen thun wir nicht, die allzu flüchtige Darstellung der
Neigung Gaspardes für Hans Schadau und die etwas skizzenhafte Behandlung
namentlich der Erlebnisse der Bartholomäusnacht selbst (wo dem Dichter die
gewohnte energische Farbengebung einmal versagt) sind Mängel der Novelle,
die doch wohl daraus entspringen, daß das Ganze bei unmittelbarer Vorfüh¬
rung ein Roman und keine Novelle geworden sein würde. Denn freilich läßt
sich mit Herrn von Schadau, der seiue Erlebnisse erzählt, sehr schwer darüber
rechten, wieviel er nach länger als einem Vierteljahrhundert von seinen Erinne¬
rungen bewahrt hat und wie ausführlich oder flüchtig er uns diese Erinne¬
rungen gönnen will.

Echte, zweifellose Novellen sind die drei spätern, von denen zunächst "Der
Schuß von der Kanzel" in der Heimat des Verfassers am Zürichsee und zwar
>>n 17. Jahrhundert spielt. Da sind zunächst zwei Patrizier Wertmüller, Vereine
ein stattlicher Landsknecht, General in kaiserlichen Diensten, in jedem Betracht
ein wunderlicher Heiliger oder vielmehr Nichtheiliger, eine Art satanischer,
mephistophelischer Natur, welcher seine Freude daran hat, unerhörte Dinge von


«Lonrad Ferdinand Meyers kleine Novellen.

sie eigentlich führt. So mag man, einem flüchtigen Eindruck folgend, wohl
gelten lassen, daß in jeder Meyerschen Novelle ein Roman enthalten sei, wenigstens
jede ohne viel Mühe zum Roman ausgedehnt werden könne. Bei schcirferm
Zusehen tritt freilich zu Tage, daß die Novellen, wenigstens die drei letzten der
hier in Frage stehenden, scharf und fest begrenzt sind, und daß der Erzähler
etwa nur wie gewisse Maler auf ihren Bildern ein Fenster öffnet, um draußen
noch ein Stück nicht gerade zur Sache gehöriger Landschaft schauen zu lassen.

Die erste dieser Novellen, „Das Amulet," könnte man am ehesten als einen
embryonischen und gleichsam nicht ausgereiften Roman bezeichnen. Nur durch
die Einleitung und die besondre Einkleidung wird sie zu eiuer Novelle. Hans von
Schadau, der Berner Edelmann, der Kalvinist, erzählt aus seinen Jugenderinne-
rungen seine Fahrt nach Frankreich, wo er unter Coligny zu dienen beabsichtigt,
seine Abenteuer in der Schenke von Melun, wo er zuerst den katholischen Lands¬
mann Wilhelm Bvccard von Freiburg und darnach den Parlamentsrat von
Chatillon und die schöne Gasparde, seine Pflegetochter, kennen lernt, den Ein¬
ritt in Paris kurz vor der Bartholomäusnacht, das Duell, welches er mit dem
wüsten Greifen von Guiche zu bestehen hat und in welchem er den Gegner
tötet, die Glücksstunde, in der er Gaspardes Liebe gewinnt, die ernste, drohende
Stunde, unmittelbar vor der Bartholomäusnacht, in der ihm der Hugenotten¬
führer das schöne Kind seines verstorbenen Bruders zum Weibe giebt, die glück¬
liche Rettung erst seiner selbst durch Boceards laudsmannschaftliches Eingreifen,
dann seiner jungen Frau aus den Schrecknisse» der Bartholomäusnacht und
die glückliche Heimkehr in das Berner Erbschloß. Die Erfindung ist hier von
großer Sicherheit und einem natürlichen, freien Zug, die Szenen folgen eine
aus der andern mit seiner Verknüpfung. Aber einen tiefern Blick in die Seelen
der Handelnden Menschen thun wir nicht, die allzu flüchtige Darstellung der
Neigung Gaspardes für Hans Schadau und die etwas skizzenhafte Behandlung
namentlich der Erlebnisse der Bartholomäusnacht selbst (wo dem Dichter die
gewohnte energische Farbengebung einmal versagt) sind Mängel der Novelle,
die doch wohl daraus entspringen, daß das Ganze bei unmittelbarer Vorfüh¬
rung ein Roman und keine Novelle geworden sein würde. Denn freilich läßt
sich mit Herrn von Schadau, der seiue Erlebnisse erzählt, sehr schwer darüber
rechten, wieviel er nach länger als einem Vierteljahrhundert von seinen Erinne¬
rungen bewahrt hat und wie ausführlich oder flüchtig er uns diese Erinne¬
rungen gönnen will.

Echte, zweifellose Novellen sind die drei spätern, von denen zunächst „Der
Schuß von der Kanzel" in der Heimat des Verfassers am Zürichsee und zwar
>>n 17. Jahrhundert spielt. Da sind zunächst zwei Patrizier Wertmüller, Vereine
ein stattlicher Landsknecht, General in kaiserlichen Diensten, in jedem Betracht
ein wunderlicher Heiliger oder vielmehr Nichtheiliger, eine Art satanischer,
mephistophelischer Natur, welcher seine Freude daran hat, unerhörte Dinge von


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_153446/623>, abgerufen am 08.09.2024.