Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Runo Fischer und sein Kant,

Kant wirft er diese Verwechslung kühn vor, und selbst fühlt er sich völlig un¬
schuldig!

Noch ein Satz ist es bei unserm Anonymus, der Kuno Fischer ganz be¬
sonders mißfallen hat. Er sagt: "Nun lassen die Grenzboten ihren Philosophen
mit lächerlicher Emphase, wie sie leeren Köpfen wohlthut, wörtlich folgenden
Unsinn verkünden: "Kant setzte seine ganze gewaltige Kraft daran, den Streit
zwischen empirischem Idealismus und transcendentalen Realismus zu schlichten."
Also Kant soll erstens den Streit zweier Standpunkte geschlichtet haben, die
nach seiner Einsicht und Lehre völlig Harmoniren, er soll zweitens Standpunkte
versöhnt haben, die er widerlegt hat, und er soll drittens, um einen Streit zu
schlichten, der nach seiner Einsicht und Lehre keiner ist, noch je einer war, seine
gewaltige Kraft daran gesetzt haben, und noch dazu die ganze! Es ist unmög¬
lich, mehr Unsinn in weniger Worten zu sagen. Wenn unser Anonhmns seine
Leser noch um etwas bitten will, so mag er denselben etwas abbitten: nämlich
seine ganze Sudelei, die das erbärmlichste Zeug ist, das je über Kant geschrieben
worden." Vorher bemerkt er noch (S. 72): "Wer transcendentaler Realist ist,
muß zugleich empirischer Idealist sein. Diese beiden Standpunkte streiten nicht
miteinander, sondern sind identisch, und ihre Namen bezeichnen nur verschiedne
Seiten derselben Vorstellungsart." Nun bezeichnet "transcendentaler Realismus"
zunächst die Vorstellungsweise, welche an dem wirklichen Dasein der Dinge außer
uns und unabhängig von unsrer Vorstellung nicht zweifelt, sondern dasselbe
von vornherein als sicher ansieht; und empirischer Idealismus bedeutet zunächst
die Vorstellungsweise, welche das Dasein der Dinge außer uns bezweifelt und
wirkliche Dinge für bloßen Schein hält. Daß diese beiden Denkweisen identisch
seien, ist eine Behauptung, die wir aus Höflichkeit nicht geradezu Unsinn nennen
wollen, die aber jedenfalls sehr kühn ist. Daß sie beide in einem und dem¬
selben Individuum vorkommen, beweist doch noch lange nicht, daß sie miteinander
Harmoniren und identisch sind, wie es bei dem transcendentalen Idealismus und
dem empirischen Realismus der Fall ist. Kant sagt (S. 372): "Also ist der
transcendentale Idealist ein empirischer Realist und gesteht der Materie als
Erscheinung eine Wirklichkeit zu. die nicht geschlossen werden darf, sondern un¬
mittelbar wahrgenommen wird. Dagegen kommt der transcendentale Realismus
notwendig in Verlegenheit und sieht sich genötigt, dem empirischen Idealismus
Platz einzuräumen, weil" u. s. w. Das heißt: wenn einer anfänglich ohne Kritik
das Dasein der Dinge außer uns für selbstverständlich sicher hielt und nun
vielleicht infolge einiger Sinnestäuschungen zum Nachdenken kommt, so wird er
empirischer Idealist, weil er keine Mittel und Wege kennt, die Wirklichkeit der
äußern Dinge zu beweisen und vom täuschenden Schein zu unterscheiden. So
kommt es, daß derselbe Mensch zuerst den einen Standpunkt und später den
andern einnimmt, und beide vielleicht noch einmal wechselt, ohne irgend eine
Sicherheit zwischen entgegengesetzten Denkweisen hin und her schwankend, bis


Runo Fischer und sein Kant,

Kant wirft er diese Verwechslung kühn vor, und selbst fühlt er sich völlig un¬
schuldig!

Noch ein Satz ist es bei unserm Anonymus, der Kuno Fischer ganz be¬
sonders mißfallen hat. Er sagt: „Nun lassen die Grenzboten ihren Philosophen
mit lächerlicher Emphase, wie sie leeren Köpfen wohlthut, wörtlich folgenden
Unsinn verkünden: »Kant setzte seine ganze gewaltige Kraft daran, den Streit
zwischen empirischem Idealismus und transcendentalen Realismus zu schlichten.«
Also Kant soll erstens den Streit zweier Standpunkte geschlichtet haben, die
nach seiner Einsicht und Lehre völlig Harmoniren, er soll zweitens Standpunkte
versöhnt haben, die er widerlegt hat, und er soll drittens, um einen Streit zu
schlichten, der nach seiner Einsicht und Lehre keiner ist, noch je einer war, seine
gewaltige Kraft daran gesetzt haben, und noch dazu die ganze! Es ist unmög¬
lich, mehr Unsinn in weniger Worten zu sagen. Wenn unser Anonhmns seine
Leser noch um etwas bitten will, so mag er denselben etwas abbitten: nämlich
seine ganze Sudelei, die das erbärmlichste Zeug ist, das je über Kant geschrieben
worden." Vorher bemerkt er noch (S. 72): „Wer transcendentaler Realist ist,
muß zugleich empirischer Idealist sein. Diese beiden Standpunkte streiten nicht
miteinander, sondern sind identisch, und ihre Namen bezeichnen nur verschiedne
Seiten derselben Vorstellungsart." Nun bezeichnet „transcendentaler Realismus"
zunächst die Vorstellungsweise, welche an dem wirklichen Dasein der Dinge außer
uns und unabhängig von unsrer Vorstellung nicht zweifelt, sondern dasselbe
von vornherein als sicher ansieht; und empirischer Idealismus bedeutet zunächst
die Vorstellungsweise, welche das Dasein der Dinge außer uns bezweifelt und
wirkliche Dinge für bloßen Schein hält. Daß diese beiden Denkweisen identisch
seien, ist eine Behauptung, die wir aus Höflichkeit nicht geradezu Unsinn nennen
wollen, die aber jedenfalls sehr kühn ist. Daß sie beide in einem und dem¬
selben Individuum vorkommen, beweist doch noch lange nicht, daß sie miteinander
Harmoniren und identisch sind, wie es bei dem transcendentalen Idealismus und
dem empirischen Realismus der Fall ist. Kant sagt (S. 372): „Also ist der
transcendentale Idealist ein empirischer Realist und gesteht der Materie als
Erscheinung eine Wirklichkeit zu. die nicht geschlossen werden darf, sondern un¬
mittelbar wahrgenommen wird. Dagegen kommt der transcendentale Realismus
notwendig in Verlegenheit und sieht sich genötigt, dem empirischen Idealismus
Platz einzuräumen, weil" u. s. w. Das heißt: wenn einer anfänglich ohne Kritik
das Dasein der Dinge außer uns für selbstverständlich sicher hielt und nun
vielleicht infolge einiger Sinnestäuschungen zum Nachdenken kommt, so wird er
empirischer Idealist, weil er keine Mittel und Wege kennt, die Wirklichkeit der
äußern Dinge zu beweisen und vom täuschenden Schein zu unterscheiden. So
kommt es, daß derselbe Mensch zuerst den einen Standpunkt und später den
andern einnimmt, und beide vielleicht noch einmal wechselt, ohne irgend eine
Sicherheit zwischen entgegengesetzten Denkweisen hin und her schwankend, bis


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0570" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/154017"/>
          <fw type="header" place="top"> Runo Fischer und sein Kant,</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2497" prev="#ID_2496"> Kant wirft er diese Verwechslung kühn vor, und selbst fühlt er sich völlig un¬<lb/>
schuldig!</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2498" next="#ID_2499"> Noch ein Satz ist es bei unserm Anonymus, der Kuno Fischer ganz be¬<lb/>
sonders mißfallen hat. Er sagt: &#x201E;Nun lassen die Grenzboten ihren Philosophen<lb/>
mit lächerlicher Emphase, wie sie leeren Köpfen wohlthut, wörtlich folgenden<lb/>
Unsinn verkünden: »Kant setzte seine ganze gewaltige Kraft daran, den Streit<lb/>
zwischen empirischem Idealismus und transcendentalen Realismus zu schlichten.«<lb/>
Also Kant soll erstens den Streit zweier Standpunkte geschlichtet haben, die<lb/>
nach seiner Einsicht und Lehre völlig Harmoniren, er soll zweitens Standpunkte<lb/>
versöhnt haben, die er widerlegt hat, und er soll drittens, um einen Streit zu<lb/>
schlichten, der nach seiner Einsicht und Lehre keiner ist, noch je einer war, seine<lb/>
gewaltige Kraft daran gesetzt haben, und noch dazu die ganze! Es ist unmög¬<lb/>
lich, mehr Unsinn in weniger Worten zu sagen. Wenn unser Anonhmns seine<lb/>
Leser noch um etwas bitten will, so mag er denselben etwas abbitten: nämlich<lb/>
seine ganze Sudelei, die das erbärmlichste Zeug ist, das je über Kant geschrieben<lb/>
worden." Vorher bemerkt er noch (S. 72): &#x201E;Wer transcendentaler Realist ist,<lb/>
muß zugleich empirischer Idealist sein. Diese beiden Standpunkte streiten nicht<lb/>
miteinander, sondern sind identisch, und ihre Namen bezeichnen nur verschiedne<lb/>
Seiten derselben Vorstellungsart." Nun bezeichnet &#x201E;transcendentaler Realismus"<lb/>
zunächst die Vorstellungsweise, welche an dem wirklichen Dasein der Dinge außer<lb/>
uns und unabhängig von unsrer Vorstellung nicht zweifelt, sondern dasselbe<lb/>
von vornherein als sicher ansieht; und empirischer Idealismus bedeutet zunächst<lb/>
die Vorstellungsweise, welche das Dasein der Dinge außer uns bezweifelt und<lb/>
wirkliche Dinge für bloßen Schein hält. Daß diese beiden Denkweisen identisch<lb/>
seien, ist eine Behauptung, die wir aus Höflichkeit nicht geradezu Unsinn nennen<lb/>
wollen, die aber jedenfalls sehr kühn ist. Daß sie beide in einem und dem¬<lb/>
selben Individuum vorkommen, beweist doch noch lange nicht, daß sie miteinander<lb/>
Harmoniren und identisch sind, wie es bei dem transcendentalen Idealismus und<lb/>
dem empirischen Realismus der Fall ist. Kant sagt (S. 372): &#x201E;Also ist der<lb/>
transcendentale Idealist ein empirischer Realist und gesteht der Materie als<lb/>
Erscheinung eine Wirklichkeit zu. die nicht geschlossen werden darf, sondern un¬<lb/>
mittelbar wahrgenommen wird. Dagegen kommt der transcendentale Realismus<lb/>
notwendig in Verlegenheit und sieht sich genötigt, dem empirischen Idealismus<lb/>
Platz einzuräumen, weil" u. s. w. Das heißt: wenn einer anfänglich ohne Kritik<lb/>
das Dasein der Dinge außer uns für selbstverständlich sicher hielt und nun<lb/>
vielleicht infolge einiger Sinnestäuschungen zum Nachdenken kommt, so wird er<lb/>
empirischer Idealist, weil er keine Mittel und Wege kennt, die Wirklichkeit der<lb/>
äußern Dinge zu beweisen und vom täuschenden Schein zu unterscheiden. So<lb/>
kommt es, daß derselbe Mensch zuerst den einen Standpunkt und später den<lb/>
andern einnimmt, und beide vielleicht noch einmal wechselt, ohne irgend eine<lb/>
Sicherheit zwischen entgegengesetzten Denkweisen hin und her schwankend, bis</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0570] Runo Fischer und sein Kant, Kant wirft er diese Verwechslung kühn vor, und selbst fühlt er sich völlig un¬ schuldig! Noch ein Satz ist es bei unserm Anonymus, der Kuno Fischer ganz be¬ sonders mißfallen hat. Er sagt: „Nun lassen die Grenzboten ihren Philosophen mit lächerlicher Emphase, wie sie leeren Köpfen wohlthut, wörtlich folgenden Unsinn verkünden: »Kant setzte seine ganze gewaltige Kraft daran, den Streit zwischen empirischem Idealismus und transcendentalen Realismus zu schlichten.« Also Kant soll erstens den Streit zweier Standpunkte geschlichtet haben, die nach seiner Einsicht und Lehre völlig Harmoniren, er soll zweitens Standpunkte versöhnt haben, die er widerlegt hat, und er soll drittens, um einen Streit zu schlichten, der nach seiner Einsicht und Lehre keiner ist, noch je einer war, seine gewaltige Kraft daran gesetzt haben, und noch dazu die ganze! Es ist unmög¬ lich, mehr Unsinn in weniger Worten zu sagen. Wenn unser Anonhmns seine Leser noch um etwas bitten will, so mag er denselben etwas abbitten: nämlich seine ganze Sudelei, die das erbärmlichste Zeug ist, das je über Kant geschrieben worden." Vorher bemerkt er noch (S. 72): „Wer transcendentaler Realist ist, muß zugleich empirischer Idealist sein. Diese beiden Standpunkte streiten nicht miteinander, sondern sind identisch, und ihre Namen bezeichnen nur verschiedne Seiten derselben Vorstellungsart." Nun bezeichnet „transcendentaler Realismus" zunächst die Vorstellungsweise, welche an dem wirklichen Dasein der Dinge außer uns und unabhängig von unsrer Vorstellung nicht zweifelt, sondern dasselbe von vornherein als sicher ansieht; und empirischer Idealismus bedeutet zunächst die Vorstellungsweise, welche das Dasein der Dinge außer uns bezweifelt und wirkliche Dinge für bloßen Schein hält. Daß diese beiden Denkweisen identisch seien, ist eine Behauptung, die wir aus Höflichkeit nicht geradezu Unsinn nennen wollen, die aber jedenfalls sehr kühn ist. Daß sie beide in einem und dem¬ selben Individuum vorkommen, beweist doch noch lange nicht, daß sie miteinander Harmoniren und identisch sind, wie es bei dem transcendentalen Idealismus und dem empirischen Realismus der Fall ist. Kant sagt (S. 372): „Also ist der transcendentale Idealist ein empirischer Realist und gesteht der Materie als Erscheinung eine Wirklichkeit zu. die nicht geschlossen werden darf, sondern un¬ mittelbar wahrgenommen wird. Dagegen kommt der transcendentale Realismus notwendig in Verlegenheit und sieht sich genötigt, dem empirischen Idealismus Platz einzuräumen, weil" u. s. w. Das heißt: wenn einer anfänglich ohne Kritik das Dasein der Dinge außer uns für selbstverständlich sicher hielt und nun vielleicht infolge einiger Sinnestäuschungen zum Nachdenken kommt, so wird er empirischer Idealist, weil er keine Mittel und Wege kennt, die Wirklichkeit der äußern Dinge zu beweisen und vom täuschenden Schein zu unterscheiden. So kommt es, daß derselbe Mensch zuerst den einen Standpunkt und später den andern einnimmt, und beide vielleicht noch einmal wechselt, ohne irgend eine Sicherheit zwischen entgegengesetzten Denkweisen hin und her schwankend, bis

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_153446
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_153446/570
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_153446/570>, abgerufen am 08.09.2024.