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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal.

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Kuno Fischer und sein Kant.

Der Zweck dieser gänzlich verschobenen Darstellung ist klar. Die Erkenntnis
der Phänomene wird zur Erkenntnis eines bloßen Scheines und keiner realen
Dinge, das Interesse für die Erkenntnis der Dinge an sich, von der Kant gar-
nichts wissen wollte, wird gewaltig gesteigert. Die Folge des Mißverständnisses,
welches bereits von Fichte herrührt, ist deun auch begreiflicherweise die gewesen,
daß die Naturwissenschaft sich gänzlich von der Philosophie, die ihr das Wissens¬
werteste als unerkennbar darstellte, abwandte, daß Kant dem deutschen Volke
höchstens noch durch die "Kritik der praktischen Vernunft" bekannt blieb, und
daß die Philosophie sich unbeschränkt auf das Studium des Dinges an sich
werfen konnte. Die Lehre vom Ding an sich mußte daher bei Kuno Fischer
einen völlig andern Charakter annehmen als bei Kant. Bei jenem steigert sich
der Respekt vor diesem unerkennbaren Wesen vom Begriff des Dinges an sich
zum Urgrund der Welt, zum Willen, zur Freiheit bis hinauf zu Gott, bis eine
Steigerung nicht mehr möglich ist. Bei Kant dagegen ist das Ding an sich
im Sinne der Leilmitz - Wolfschen Lehre ein leerer Begriff ohne Gegenstand,
Nichts, "wie die Nooumena, die nicht unter die Möglichkeiten gezählt werden
können, obgleich auch darum nicht für unmöglich ausgegeben werden müssen,
oder wie etwa gewisse neue Grundkräfte, die man sich denkt, gern ohne Wider¬
spruch, aber auch ohne Beispiel aus der Erfahrung gedacht werden, und also
nicht unter die Möglichkeiten gezählt werden müssen" (Amphibolie der Reflexions¬
begriffe).

Wir geben zu, daß sich bei Kant im Sprachgebrauch für das Ding an sich
Schwankungen zeigen, und daß sich an manchen Stellen buchstäblich Wider¬
sprüche nachweisen lassen, die erst dann sich aufklären, wenn man sie aus dem
Zusammenhang und dem Sinn des Ganzen herauszudeuten versteht. Man muß
bedenken, daß er die philosophische Sprache für die "Kritik der reinen Vernunft"
erst zu schaffen und oft schwer zu ringe" hatte, um den dem Gedanken völlig
entsprechenden Ausdruck zu finden. Dazu kam, daß er seine Behauptungen den
verschiedenartigsten Gegnern gegenüber verteidigen mußte, und daß, so oft er
vom Ding an sich redete, er fast immer polemisch falsche Auffassungen und ent¬
gegenstehende Irrlehren abzuwehren hatte. So kam es, daß er in der Adap¬
tation seiner Ausdrücke an den Gedankengang und die Fassungsweise des Gegners
bisweilen soweit ging, daß er in seinem eignen Sprachgebrauch buchstäblich,
wenn auch nie dem Sinne nach, inkonsequent wurde. Indessen kann der Ein¬
sichtige leicht durch ein tieferes Eingehen auf den Zusammenhang diese schein¬
baren Jnkonsequenzen aufheben. Im allgemeinen hält er auch im Sprachgebrauch
daran fest, daß ein Ding an sich im überlieferten Sinn der Schule nicht existire!
denn dieser Begriff entspringt aus der Voraussetzung eiues Vermögens, welches
wir nicht haben, d. i. eines intuitiver Verstandes, welcher im Gegensatz zur
Sinnlichkeit als eüier niedern und verworrenen Auffassungsweise die Dinge so
erkennt, wie sie an sich, d. i. unabhängig von unsrer Sinnlichkeit, sein sollen.


Kuno Fischer und sein Kant.

Der Zweck dieser gänzlich verschobenen Darstellung ist klar. Die Erkenntnis
der Phänomene wird zur Erkenntnis eines bloßen Scheines und keiner realen
Dinge, das Interesse für die Erkenntnis der Dinge an sich, von der Kant gar-
nichts wissen wollte, wird gewaltig gesteigert. Die Folge des Mißverständnisses,
welches bereits von Fichte herrührt, ist deun auch begreiflicherweise die gewesen,
daß die Naturwissenschaft sich gänzlich von der Philosophie, die ihr das Wissens¬
werteste als unerkennbar darstellte, abwandte, daß Kant dem deutschen Volke
höchstens noch durch die „Kritik der praktischen Vernunft" bekannt blieb, und
daß die Philosophie sich unbeschränkt auf das Studium des Dinges an sich
werfen konnte. Die Lehre vom Ding an sich mußte daher bei Kuno Fischer
einen völlig andern Charakter annehmen als bei Kant. Bei jenem steigert sich
der Respekt vor diesem unerkennbaren Wesen vom Begriff des Dinges an sich
zum Urgrund der Welt, zum Willen, zur Freiheit bis hinauf zu Gott, bis eine
Steigerung nicht mehr möglich ist. Bei Kant dagegen ist das Ding an sich
im Sinne der Leilmitz - Wolfschen Lehre ein leerer Begriff ohne Gegenstand,
Nichts, „wie die Nooumena, die nicht unter die Möglichkeiten gezählt werden
können, obgleich auch darum nicht für unmöglich ausgegeben werden müssen,
oder wie etwa gewisse neue Grundkräfte, die man sich denkt, gern ohne Wider¬
spruch, aber auch ohne Beispiel aus der Erfahrung gedacht werden, und also
nicht unter die Möglichkeiten gezählt werden müssen" (Amphibolie der Reflexions¬
begriffe).

Wir geben zu, daß sich bei Kant im Sprachgebrauch für das Ding an sich
Schwankungen zeigen, und daß sich an manchen Stellen buchstäblich Wider¬
sprüche nachweisen lassen, die erst dann sich aufklären, wenn man sie aus dem
Zusammenhang und dem Sinn des Ganzen herauszudeuten versteht. Man muß
bedenken, daß er die philosophische Sprache für die „Kritik der reinen Vernunft"
erst zu schaffen und oft schwer zu ringe» hatte, um den dem Gedanken völlig
entsprechenden Ausdruck zu finden. Dazu kam, daß er seine Behauptungen den
verschiedenartigsten Gegnern gegenüber verteidigen mußte, und daß, so oft er
vom Ding an sich redete, er fast immer polemisch falsche Auffassungen und ent¬
gegenstehende Irrlehren abzuwehren hatte. So kam es, daß er in der Adap¬
tation seiner Ausdrücke an den Gedankengang und die Fassungsweise des Gegners
bisweilen soweit ging, daß er in seinem eignen Sprachgebrauch buchstäblich,
wenn auch nie dem Sinne nach, inkonsequent wurde. Indessen kann der Ein¬
sichtige leicht durch ein tieferes Eingehen auf den Zusammenhang diese schein¬
baren Jnkonsequenzen aufheben. Im allgemeinen hält er auch im Sprachgebrauch
daran fest, daß ein Ding an sich im überlieferten Sinn der Schule nicht existire!
denn dieser Begriff entspringt aus der Voraussetzung eiues Vermögens, welches
wir nicht haben, d. i. eines intuitiver Verstandes, welcher im Gegensatz zur
Sinnlichkeit als eüier niedern und verworrenen Auffassungsweise die Dinge so
erkennt, wie sie an sich, d. i. unabhängig von unsrer Sinnlichkeit, sein sollen.


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[0565] Kuno Fischer und sein Kant. Der Zweck dieser gänzlich verschobenen Darstellung ist klar. Die Erkenntnis der Phänomene wird zur Erkenntnis eines bloßen Scheines und keiner realen Dinge, das Interesse für die Erkenntnis der Dinge an sich, von der Kant gar- nichts wissen wollte, wird gewaltig gesteigert. Die Folge des Mißverständnisses, welches bereits von Fichte herrührt, ist deun auch begreiflicherweise die gewesen, daß die Naturwissenschaft sich gänzlich von der Philosophie, die ihr das Wissens¬ werteste als unerkennbar darstellte, abwandte, daß Kant dem deutschen Volke höchstens noch durch die „Kritik der praktischen Vernunft" bekannt blieb, und daß die Philosophie sich unbeschränkt auf das Studium des Dinges an sich werfen konnte. Die Lehre vom Ding an sich mußte daher bei Kuno Fischer einen völlig andern Charakter annehmen als bei Kant. Bei jenem steigert sich der Respekt vor diesem unerkennbaren Wesen vom Begriff des Dinges an sich zum Urgrund der Welt, zum Willen, zur Freiheit bis hinauf zu Gott, bis eine Steigerung nicht mehr möglich ist. Bei Kant dagegen ist das Ding an sich im Sinne der Leilmitz - Wolfschen Lehre ein leerer Begriff ohne Gegenstand, Nichts, „wie die Nooumena, die nicht unter die Möglichkeiten gezählt werden können, obgleich auch darum nicht für unmöglich ausgegeben werden müssen, oder wie etwa gewisse neue Grundkräfte, die man sich denkt, gern ohne Wider¬ spruch, aber auch ohne Beispiel aus der Erfahrung gedacht werden, und also nicht unter die Möglichkeiten gezählt werden müssen" (Amphibolie der Reflexions¬ begriffe). Wir geben zu, daß sich bei Kant im Sprachgebrauch für das Ding an sich Schwankungen zeigen, und daß sich an manchen Stellen buchstäblich Wider¬ sprüche nachweisen lassen, die erst dann sich aufklären, wenn man sie aus dem Zusammenhang und dem Sinn des Ganzen herauszudeuten versteht. Man muß bedenken, daß er die philosophische Sprache für die „Kritik der reinen Vernunft" erst zu schaffen und oft schwer zu ringe» hatte, um den dem Gedanken völlig entsprechenden Ausdruck zu finden. Dazu kam, daß er seine Behauptungen den verschiedenartigsten Gegnern gegenüber verteidigen mußte, und daß, so oft er vom Ding an sich redete, er fast immer polemisch falsche Auffassungen und ent¬ gegenstehende Irrlehren abzuwehren hatte. So kam es, daß er in der Adap¬ tation seiner Ausdrücke an den Gedankengang und die Fassungsweise des Gegners bisweilen soweit ging, daß er in seinem eignen Sprachgebrauch buchstäblich, wenn auch nie dem Sinne nach, inkonsequent wurde. Indessen kann der Ein¬ sichtige leicht durch ein tieferes Eingehen auf den Zusammenhang diese schein¬ baren Jnkonsequenzen aufheben. Im allgemeinen hält er auch im Sprachgebrauch daran fest, daß ein Ding an sich im überlieferten Sinn der Schule nicht existire! denn dieser Begriff entspringt aus der Voraussetzung eiues Vermögens, welches wir nicht haben, d. i. eines intuitiver Verstandes, welcher im Gegensatz zur Sinnlichkeit als eüier niedern und verworrenen Auffassungsweise die Dinge so erkennt, wie sie an sich, d. i. unabhängig von unsrer Sinnlichkeit, sein sollen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_153446/565>, abgerufen am 08.09.2024.