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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal.

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Rums Fischer und sein Kant.

der praktische" Vernunft erschüttert (S. 82), und es ergebe sich mit Notwendig¬
keit aus den Modifikationen, welche die kantische Lehre in ihren verschiednen
Stadien durchmache, das Problem, die Erkennbarkeit des Dinges an sich be¬
greiflich zu machen, "und zwar nicht bloß die praktische und moralische Er¬
kennbarkeit, sondern auch die theoretische und wissenschaftliche." Er gesellt sich
in der Lösung dieses Problems völlig zu Schopenhauer, so vieles er sonst auch
an ihm zu tadeln hat; die Dinge an sich treten uns mit dem Charakter der
Wesenseinheit und Erkennbarkeit entgegen, "denn die Übereinstimmung zwischen
dem übersinnlichen Substratum unsrer sinnlichen Vernunft und dem der Sinnen¬
oder Körperwelt gründet sich zuletzt auf ihre Wesensgleichheit: sie sind Wille
und Freiheit. Damit fällt von den Dingen an sich der Schleier, der sie, wie
es schien, in ein undurchdringliches Dunkel einhüllte" (S. 9S). "Die Erfor¬
schung dieser Wurzel und die Herleitung aller der Vermögen, die Kant als Ur-
kräfte hingestellt und der Erscheinungswelt zu Grunde gelegt hat, aus dem
Wesen der Vernunft selbst, ist die Grundfrage, die sich nach dem Abschluß der
kritischen Philosophie erhebt, aus ihren Ergebnissen hervorgeht, und die Richtung
der folgenden Untersuchungen bestimmt" (S. 102). "Kant hatte durch die Be¬
obachtung und Zergliederung der Erkenntnisthatsachen die Gesetze unsres Vor-
stellens und Erkennens entdeckt, wie Kepler die Gesetze der Planetenbewegung
durch die Beobachtung und Berechnung ihrer Phänomene. Nachdem Kepler
diese Gesetze induktiv entdeckt hatte, erschien Newton, um sie aus einer Grund¬
kraft und einem Grundgesetz zu deduziren. Wie sich in der Begründung der
Bewegungsgesetze unsrer Himmelskörper Newton zu Kepler, ähnlich verhält sich
in der Begründung der Vorstellungsgesetze unsrer Vernunft die nachkcmtische
Philosophie zu Kant" (S. 102).

Von einem so hohen Standpunkt freilich kommt nun Kuno Fischer ganz
natürlich dazu, die "Kritik der reinen Vernunft" so darzustellen, als sei sie
nichts als die dienende Vorbereitung für die "Kritik der praktischen Vernunft."
und in allen Fällen, wo sich im buchstäblichen Wortlaut scheinbar Widersprüche
finden, diese im Interesse der praktischen Vernunft zu Ungunsten der theore¬
tischen zu beseitigen oder hervorzuheben. Denn das Interesse, "den spekulativen
Frevel einzuschränken," liegt ihm gänzlich fern.

Aus seinem lebhaften Interesse für die Erkennbarkeit des Dinges an sich
erklärt es sich allein, daß er bei der Beurteilung der Vernunftkritik die kantische
Ausdrucksweise eigentümlich modifizirt. Kant hatte in der transcendentalen
Ästhetik gesagt: "Unsre Erörterungen lehren demnach die Realität (d. i. die ob¬
jektive Giltigkeit) des Raumes in Ansehung alles dessen, was äußerlich als
Gegenstand uns vorkommen kann, aber zugleich die Idealität des Raumes in
Ansehung der Dinge, wenn sie durch die Vernunft an sich selbst erwogen werben,
d. i. ohne Rücksicht auf die Beschaffenheit unsrer Sinnlichkeit zu nehmen." Ganz
analog führt er bei der Zeit ans, daß sie empirische Realität und transcendentale


Rums Fischer und sein Kant.

der praktische» Vernunft erschüttert (S. 82), und es ergebe sich mit Notwendig¬
keit aus den Modifikationen, welche die kantische Lehre in ihren verschiednen
Stadien durchmache, das Problem, die Erkennbarkeit des Dinges an sich be¬
greiflich zu machen, „und zwar nicht bloß die praktische und moralische Er¬
kennbarkeit, sondern auch die theoretische und wissenschaftliche." Er gesellt sich
in der Lösung dieses Problems völlig zu Schopenhauer, so vieles er sonst auch
an ihm zu tadeln hat; die Dinge an sich treten uns mit dem Charakter der
Wesenseinheit und Erkennbarkeit entgegen, „denn die Übereinstimmung zwischen
dem übersinnlichen Substratum unsrer sinnlichen Vernunft und dem der Sinnen¬
oder Körperwelt gründet sich zuletzt auf ihre Wesensgleichheit: sie sind Wille
und Freiheit. Damit fällt von den Dingen an sich der Schleier, der sie, wie
es schien, in ein undurchdringliches Dunkel einhüllte" (S. 9S). „Die Erfor¬
schung dieser Wurzel und die Herleitung aller der Vermögen, die Kant als Ur-
kräfte hingestellt und der Erscheinungswelt zu Grunde gelegt hat, aus dem
Wesen der Vernunft selbst, ist die Grundfrage, die sich nach dem Abschluß der
kritischen Philosophie erhebt, aus ihren Ergebnissen hervorgeht, und die Richtung
der folgenden Untersuchungen bestimmt" (S. 102). „Kant hatte durch die Be¬
obachtung und Zergliederung der Erkenntnisthatsachen die Gesetze unsres Vor-
stellens und Erkennens entdeckt, wie Kepler die Gesetze der Planetenbewegung
durch die Beobachtung und Berechnung ihrer Phänomene. Nachdem Kepler
diese Gesetze induktiv entdeckt hatte, erschien Newton, um sie aus einer Grund¬
kraft und einem Grundgesetz zu deduziren. Wie sich in der Begründung der
Bewegungsgesetze unsrer Himmelskörper Newton zu Kepler, ähnlich verhält sich
in der Begründung der Vorstellungsgesetze unsrer Vernunft die nachkcmtische
Philosophie zu Kant" (S. 102).

Von einem so hohen Standpunkt freilich kommt nun Kuno Fischer ganz
natürlich dazu, die „Kritik der reinen Vernunft" so darzustellen, als sei sie
nichts als die dienende Vorbereitung für die „Kritik der praktischen Vernunft."
und in allen Fällen, wo sich im buchstäblichen Wortlaut scheinbar Widersprüche
finden, diese im Interesse der praktischen Vernunft zu Ungunsten der theore¬
tischen zu beseitigen oder hervorzuheben. Denn das Interesse, „den spekulativen
Frevel einzuschränken," liegt ihm gänzlich fern.

Aus seinem lebhaften Interesse für die Erkennbarkeit des Dinges an sich
erklärt es sich allein, daß er bei der Beurteilung der Vernunftkritik die kantische
Ausdrucksweise eigentümlich modifizirt. Kant hatte in der transcendentalen
Ästhetik gesagt: „Unsre Erörterungen lehren demnach die Realität (d. i. die ob¬
jektive Giltigkeit) des Raumes in Ansehung alles dessen, was äußerlich als
Gegenstand uns vorkommen kann, aber zugleich die Idealität des Raumes in
Ansehung der Dinge, wenn sie durch die Vernunft an sich selbst erwogen werben,
d. i. ohne Rücksicht auf die Beschaffenheit unsrer Sinnlichkeit zu nehmen." Ganz
analog führt er bei der Zeit ans, daß sie empirische Realität und transcendentale


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[0563] Rums Fischer und sein Kant. der praktische» Vernunft erschüttert (S. 82), und es ergebe sich mit Notwendig¬ keit aus den Modifikationen, welche die kantische Lehre in ihren verschiednen Stadien durchmache, das Problem, die Erkennbarkeit des Dinges an sich be¬ greiflich zu machen, „und zwar nicht bloß die praktische und moralische Er¬ kennbarkeit, sondern auch die theoretische und wissenschaftliche." Er gesellt sich in der Lösung dieses Problems völlig zu Schopenhauer, so vieles er sonst auch an ihm zu tadeln hat; die Dinge an sich treten uns mit dem Charakter der Wesenseinheit und Erkennbarkeit entgegen, „denn die Übereinstimmung zwischen dem übersinnlichen Substratum unsrer sinnlichen Vernunft und dem der Sinnen¬ oder Körperwelt gründet sich zuletzt auf ihre Wesensgleichheit: sie sind Wille und Freiheit. Damit fällt von den Dingen an sich der Schleier, der sie, wie es schien, in ein undurchdringliches Dunkel einhüllte" (S. 9S). „Die Erfor¬ schung dieser Wurzel und die Herleitung aller der Vermögen, die Kant als Ur- kräfte hingestellt und der Erscheinungswelt zu Grunde gelegt hat, aus dem Wesen der Vernunft selbst, ist die Grundfrage, die sich nach dem Abschluß der kritischen Philosophie erhebt, aus ihren Ergebnissen hervorgeht, und die Richtung der folgenden Untersuchungen bestimmt" (S. 102). „Kant hatte durch die Be¬ obachtung und Zergliederung der Erkenntnisthatsachen die Gesetze unsres Vor- stellens und Erkennens entdeckt, wie Kepler die Gesetze der Planetenbewegung durch die Beobachtung und Berechnung ihrer Phänomene. Nachdem Kepler diese Gesetze induktiv entdeckt hatte, erschien Newton, um sie aus einer Grund¬ kraft und einem Grundgesetz zu deduziren. Wie sich in der Begründung der Bewegungsgesetze unsrer Himmelskörper Newton zu Kepler, ähnlich verhält sich in der Begründung der Vorstellungsgesetze unsrer Vernunft die nachkcmtische Philosophie zu Kant" (S. 102). Von einem so hohen Standpunkt freilich kommt nun Kuno Fischer ganz natürlich dazu, die „Kritik der reinen Vernunft" so darzustellen, als sei sie nichts als die dienende Vorbereitung für die „Kritik der praktischen Vernunft." und in allen Fällen, wo sich im buchstäblichen Wortlaut scheinbar Widersprüche finden, diese im Interesse der praktischen Vernunft zu Ungunsten der theore¬ tischen zu beseitigen oder hervorzuheben. Denn das Interesse, „den spekulativen Frevel einzuschränken," liegt ihm gänzlich fern. Aus seinem lebhaften Interesse für die Erkennbarkeit des Dinges an sich erklärt es sich allein, daß er bei der Beurteilung der Vernunftkritik die kantische Ausdrucksweise eigentümlich modifizirt. Kant hatte in der transcendentalen Ästhetik gesagt: „Unsre Erörterungen lehren demnach die Realität (d. i. die ob¬ jektive Giltigkeit) des Raumes in Ansehung alles dessen, was äußerlich als Gegenstand uns vorkommen kann, aber zugleich die Idealität des Raumes in Ansehung der Dinge, wenn sie durch die Vernunft an sich selbst erwogen werben, d. i. ohne Rücksicht auf die Beschaffenheit unsrer Sinnlichkeit zu nehmen." Ganz analog führt er bei der Zeit ans, daß sie empirische Realität und transcendentale

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_153446/563>, abgerufen am 08.09.2024.