Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Anno Fischer und sein Aare.

um praktische Regeln für das moralische Handeln geben zu können. Die Kate¬
gorie der Kausalität läßt uns nicht etwa die Freiheit erkennen in ihrem Wesen
oder in ihrer Wirklichkeit, diese steht ohnehin fest, weil ohne sie kein moralisches
Gesetz sein könnte. Die Kausalität bezeichnet nur die Art, wie sich der freie
Wille äußert als Ursache für unsre Handlungen. Die Realität, die sich mit
dem Gedanken eines freien, selbstbewußten Wesens in uns verbindet, ist nicht
der theoretische Grund dafür, daß wir uns in unserm Innern als ein Wesen
für sich fühlen, sondern wir legen diesem geistigen Wesen in uns nur deswegen
Realität bei, weil sonst die Freiheit und das Wollen und Handeln unmöglich
wären.

Ganz besonders scharf hebt Kant die Gefahren, die aus der Verwirrung
beider Vermögen, der spekulativen und der praktischen Vernunft, entstehen müßte",
in dem Kapitel "Von dem Primat der reinen praktischen Vernunft in ihrer
Verbindung mit der spekulativen" hervor. Die praktische Vernunft hat ihre
eignen Prinzipien 3, xriori und kann sich diese nicht von der spekulativen vor¬
schreiben lassen, weil diese Prinzipien (das Bewußtsein des moralischen Gesetzes)
ganz außerhalb des Gebietes der spekulativen Vernunft liegen, und deren Kräfte
also garnicht zureichen, darüber zu urteilen. "Weil alles Interesse zuletzt prak¬
tisch ist, und selbst das der spekulativen Vernunft nur bedingt und im prak¬
tischen Gebrauche allein vollständig ist," deshalb hat die praktische Vernunft den
Primat über die spekulative. Aber sie hat auch der letztern keine Vorschriften
zu machen, denn beide gehören im Grunde zur reinen Vernunft überhaupt, die
doch nur eine ist, nur in verschiedner Absicht zu gebrauchen. Wenn also die
spekulative Vernunft der praktischen untergeordnet ist und, so gut sie kann, sich
mit den Sätzen in Einvernehmen setzen muß, die zwar nicht auf ihrem Boden
gewachsen, aber doch durch das praktische Bedürfnis wohl begründet sind, so
hat sie auch wieder das größte Interesse daran, den Mißbrauch der praktischen
Vernunft, wenn dieselbe sich anmaßen sollte, ihre Grundsätze für spekulative
Erkenntnisse auszugeben, zu verhindern. Sie würde sonst, wenn die Grenzen,
die sie sich selbst gesetzt hat, aufgehoben würden, "allem Unsinn und Wahnsinn
der Einbildungskraft" preisgegeben. Der Vernunft würden die Ungeheuer der
Theosophen und Mystiker aufgedrängt, "und es wäre ebensogut, gar keine zu
haben, als sie aus solche Weise allen Träumereien preiszugeben.... Das In¬
teresse der spekulativen Vernunft besteht in der Einschränkung des spekulativen
Frevels."

Wie vollständig anders gestaltet sich dieser ganze Gedankengang in der
neuesten Schrift Kuno Fischers! Er versteht unter dem Primat der praktischen
Vernunft, welchen Kant so vorsichtig ausgesprochen hatte, ohne den Interessen
der theoretischen Vernunft das Geringste zu vergeben, vielmehr die Beherrschung
der theoretischen Vernunft durch die praktische (S. 94). Er meint, die Lehre
Kants von der Unerkennbarkeit der Dinge an sich werde durch die Erkenntnisse


Anno Fischer und sein Aare.

um praktische Regeln für das moralische Handeln geben zu können. Die Kate¬
gorie der Kausalität läßt uns nicht etwa die Freiheit erkennen in ihrem Wesen
oder in ihrer Wirklichkeit, diese steht ohnehin fest, weil ohne sie kein moralisches
Gesetz sein könnte. Die Kausalität bezeichnet nur die Art, wie sich der freie
Wille äußert als Ursache für unsre Handlungen. Die Realität, die sich mit
dem Gedanken eines freien, selbstbewußten Wesens in uns verbindet, ist nicht
der theoretische Grund dafür, daß wir uns in unserm Innern als ein Wesen
für sich fühlen, sondern wir legen diesem geistigen Wesen in uns nur deswegen
Realität bei, weil sonst die Freiheit und das Wollen und Handeln unmöglich
wären.

Ganz besonders scharf hebt Kant die Gefahren, die aus der Verwirrung
beider Vermögen, der spekulativen und der praktischen Vernunft, entstehen müßte»,
in dem Kapitel „Von dem Primat der reinen praktischen Vernunft in ihrer
Verbindung mit der spekulativen" hervor. Die praktische Vernunft hat ihre
eignen Prinzipien 3, xriori und kann sich diese nicht von der spekulativen vor¬
schreiben lassen, weil diese Prinzipien (das Bewußtsein des moralischen Gesetzes)
ganz außerhalb des Gebietes der spekulativen Vernunft liegen, und deren Kräfte
also garnicht zureichen, darüber zu urteilen. „Weil alles Interesse zuletzt prak¬
tisch ist, und selbst das der spekulativen Vernunft nur bedingt und im prak¬
tischen Gebrauche allein vollständig ist," deshalb hat die praktische Vernunft den
Primat über die spekulative. Aber sie hat auch der letztern keine Vorschriften
zu machen, denn beide gehören im Grunde zur reinen Vernunft überhaupt, die
doch nur eine ist, nur in verschiedner Absicht zu gebrauchen. Wenn also die
spekulative Vernunft der praktischen untergeordnet ist und, so gut sie kann, sich
mit den Sätzen in Einvernehmen setzen muß, die zwar nicht auf ihrem Boden
gewachsen, aber doch durch das praktische Bedürfnis wohl begründet sind, so
hat sie auch wieder das größte Interesse daran, den Mißbrauch der praktischen
Vernunft, wenn dieselbe sich anmaßen sollte, ihre Grundsätze für spekulative
Erkenntnisse auszugeben, zu verhindern. Sie würde sonst, wenn die Grenzen,
die sie sich selbst gesetzt hat, aufgehoben würden, „allem Unsinn und Wahnsinn
der Einbildungskraft" preisgegeben. Der Vernunft würden die Ungeheuer der
Theosophen und Mystiker aufgedrängt, „und es wäre ebensogut, gar keine zu
haben, als sie aus solche Weise allen Träumereien preiszugeben.... Das In¬
teresse der spekulativen Vernunft besteht in der Einschränkung des spekulativen
Frevels."

Wie vollständig anders gestaltet sich dieser ganze Gedankengang in der
neuesten Schrift Kuno Fischers! Er versteht unter dem Primat der praktischen
Vernunft, welchen Kant so vorsichtig ausgesprochen hatte, ohne den Interessen
der theoretischen Vernunft das Geringste zu vergeben, vielmehr die Beherrschung
der theoretischen Vernunft durch die praktische (S. 94). Er meint, die Lehre
Kants von der Unerkennbarkeit der Dinge an sich werde durch die Erkenntnisse


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0562" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/154009"/>
          <fw type="header" place="top"> Anno Fischer und sein Aare.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2478" prev="#ID_2477"> um praktische Regeln für das moralische Handeln geben zu können. Die Kate¬<lb/>
gorie der Kausalität läßt uns nicht etwa die Freiheit erkennen in ihrem Wesen<lb/>
oder in ihrer Wirklichkeit, diese steht ohnehin fest, weil ohne sie kein moralisches<lb/>
Gesetz sein könnte. Die Kausalität bezeichnet nur die Art, wie sich der freie<lb/>
Wille äußert als Ursache für unsre Handlungen. Die Realität, die sich mit<lb/>
dem Gedanken eines freien, selbstbewußten Wesens in uns verbindet, ist nicht<lb/>
der theoretische Grund dafür, daß wir uns in unserm Innern als ein Wesen<lb/>
für sich fühlen, sondern wir legen diesem geistigen Wesen in uns nur deswegen<lb/>
Realität bei, weil sonst die Freiheit und das Wollen und Handeln unmöglich<lb/>
wären.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2479"> Ganz besonders scharf hebt Kant die Gefahren, die aus der Verwirrung<lb/>
beider Vermögen, der spekulativen und der praktischen Vernunft, entstehen müßte»,<lb/>
in dem Kapitel &#x201E;Von dem Primat der reinen praktischen Vernunft in ihrer<lb/>
Verbindung mit der spekulativen" hervor. Die praktische Vernunft hat ihre<lb/>
eignen Prinzipien 3, xriori und kann sich diese nicht von der spekulativen vor¬<lb/>
schreiben lassen, weil diese Prinzipien (das Bewußtsein des moralischen Gesetzes)<lb/>
ganz außerhalb des Gebietes der spekulativen Vernunft liegen, und deren Kräfte<lb/>
also garnicht zureichen, darüber zu urteilen. &#x201E;Weil alles Interesse zuletzt prak¬<lb/>
tisch ist, und selbst das der spekulativen Vernunft nur bedingt und im prak¬<lb/>
tischen Gebrauche allein vollständig ist," deshalb hat die praktische Vernunft den<lb/>
Primat über die spekulative. Aber sie hat auch der letztern keine Vorschriften<lb/>
zu machen, denn beide gehören im Grunde zur reinen Vernunft überhaupt, die<lb/>
doch nur eine ist, nur in verschiedner Absicht zu gebrauchen. Wenn also die<lb/>
spekulative Vernunft der praktischen untergeordnet ist und, so gut sie kann, sich<lb/>
mit den Sätzen in Einvernehmen setzen muß, die zwar nicht auf ihrem Boden<lb/>
gewachsen, aber doch durch das praktische Bedürfnis wohl begründet sind, so<lb/>
hat sie auch wieder das größte Interesse daran, den Mißbrauch der praktischen<lb/>
Vernunft, wenn dieselbe sich anmaßen sollte, ihre Grundsätze für spekulative<lb/>
Erkenntnisse auszugeben, zu verhindern. Sie würde sonst, wenn die Grenzen,<lb/>
die sie sich selbst gesetzt hat, aufgehoben würden, &#x201E;allem Unsinn und Wahnsinn<lb/>
der Einbildungskraft" preisgegeben. Der Vernunft würden die Ungeheuer der<lb/>
Theosophen und Mystiker aufgedrängt, &#x201E;und es wäre ebensogut, gar keine zu<lb/>
haben, als sie aus solche Weise allen Träumereien preiszugeben.... Das In¬<lb/>
teresse der spekulativen Vernunft besteht in der Einschränkung des spekulativen<lb/>
Frevels."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2480" next="#ID_2481"> Wie vollständig anders gestaltet sich dieser ganze Gedankengang in der<lb/>
neuesten Schrift Kuno Fischers! Er versteht unter dem Primat der praktischen<lb/>
Vernunft, welchen Kant so vorsichtig ausgesprochen hatte, ohne den Interessen<lb/>
der theoretischen Vernunft das Geringste zu vergeben, vielmehr die Beherrschung<lb/>
der theoretischen Vernunft durch die praktische (S. 94). Er meint, die Lehre<lb/>
Kants von der Unerkennbarkeit der Dinge an sich werde durch die Erkenntnisse</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0562] Anno Fischer und sein Aare. um praktische Regeln für das moralische Handeln geben zu können. Die Kate¬ gorie der Kausalität läßt uns nicht etwa die Freiheit erkennen in ihrem Wesen oder in ihrer Wirklichkeit, diese steht ohnehin fest, weil ohne sie kein moralisches Gesetz sein könnte. Die Kausalität bezeichnet nur die Art, wie sich der freie Wille äußert als Ursache für unsre Handlungen. Die Realität, die sich mit dem Gedanken eines freien, selbstbewußten Wesens in uns verbindet, ist nicht der theoretische Grund dafür, daß wir uns in unserm Innern als ein Wesen für sich fühlen, sondern wir legen diesem geistigen Wesen in uns nur deswegen Realität bei, weil sonst die Freiheit und das Wollen und Handeln unmöglich wären. Ganz besonders scharf hebt Kant die Gefahren, die aus der Verwirrung beider Vermögen, der spekulativen und der praktischen Vernunft, entstehen müßte», in dem Kapitel „Von dem Primat der reinen praktischen Vernunft in ihrer Verbindung mit der spekulativen" hervor. Die praktische Vernunft hat ihre eignen Prinzipien 3, xriori und kann sich diese nicht von der spekulativen vor¬ schreiben lassen, weil diese Prinzipien (das Bewußtsein des moralischen Gesetzes) ganz außerhalb des Gebietes der spekulativen Vernunft liegen, und deren Kräfte also garnicht zureichen, darüber zu urteilen. „Weil alles Interesse zuletzt prak¬ tisch ist, und selbst das der spekulativen Vernunft nur bedingt und im prak¬ tischen Gebrauche allein vollständig ist," deshalb hat die praktische Vernunft den Primat über die spekulative. Aber sie hat auch der letztern keine Vorschriften zu machen, denn beide gehören im Grunde zur reinen Vernunft überhaupt, die doch nur eine ist, nur in verschiedner Absicht zu gebrauchen. Wenn also die spekulative Vernunft der praktischen untergeordnet ist und, so gut sie kann, sich mit den Sätzen in Einvernehmen setzen muß, die zwar nicht auf ihrem Boden gewachsen, aber doch durch das praktische Bedürfnis wohl begründet sind, so hat sie auch wieder das größte Interesse daran, den Mißbrauch der praktischen Vernunft, wenn dieselbe sich anmaßen sollte, ihre Grundsätze für spekulative Erkenntnisse auszugeben, zu verhindern. Sie würde sonst, wenn die Grenzen, die sie sich selbst gesetzt hat, aufgehoben würden, „allem Unsinn und Wahnsinn der Einbildungskraft" preisgegeben. Der Vernunft würden die Ungeheuer der Theosophen und Mystiker aufgedrängt, „und es wäre ebensogut, gar keine zu haben, als sie aus solche Weise allen Träumereien preiszugeben.... Das In¬ teresse der spekulativen Vernunft besteht in der Einschränkung des spekulativen Frevels." Wie vollständig anders gestaltet sich dieser ganze Gedankengang in der neuesten Schrift Kuno Fischers! Er versteht unter dem Primat der praktischen Vernunft, welchen Kant so vorsichtig ausgesprochen hatte, ohne den Interessen der theoretischen Vernunft das Geringste zu vergeben, vielmehr die Beherrschung der theoretischen Vernunft durch die praktische (S. 94). Er meint, die Lehre Kants von der Unerkennbarkeit der Dinge an sich werde durch die Erkenntnisse

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_153446
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_153446/562
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_153446/562>, abgerufen am 08.09.2024.