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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal.

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Agraria.

s ist nicht zu leugnen, daß zwischen Handel und Industrie einer¬
seits und Landwirtschaft andrerseits ein gewisser Gegensatz besteht,
und daß mit dem Aufschwünge des erstern ein entsprechender Nieder¬
gang der letztern, namentlich ein Verfall des bäuerlichen Mittelstandes
verbunden ist. In solchen Epochen beginnt dann eigentlich erst eine
agrarische Frage, und wer es genau verfolgt, wie sich dieser Gegensatz entwickelt,
der kann schon aus der römischen Geschichte lernen, wie den großen Eroberungen
des republikanischen Staates jedesmal agrarische Unruhen und agrarische Gesetze
gefolgt sind. Denn jedesmal erschlossen sich mit der Eroberung neue Absatz-
quellen für den Handel, und damit war die Landwirtschaft zurückgedrängt.
So dürfen wir uns nicht wundern, wenn seit der Gründung des neuen deutschen
Reiches auch die agrarischen Fragen aufs neue auftauchen, und es ist gewiß
ein Zeichen der gesundesten Politik, wenn einsichtsvolle Staatsmänner und
Volksfreunde sich den neu auftauchenden Erscheinungen nicht verschließen, sondern
das ihrige zur Klärung der verschiednen Ansichten beizutragen suchen, bis der
Weg zur Reform geebnet ist. Gegenwärtig befinden wir uns noch in der Periode
des Kampfes, und eben deshalb darf es nicht befremden, wenn die Geister mit
besondrer Schürfe aufeinander platzen und in ihren Kampfmitteln nicht immer
loyale Waffen wählen. Die einen finden die Zustände so unhaltbar, daß sie
die menschliche Gesellschaft vollständig umstürzen und ein neues Gebäude nach
ihrer Phantasie aufrichten wollen, die andern glauben, daß sich die Verhältnisse
von selbst regeln werden, und daß der jedesmalige wirtschaftliche Zustand eines
Volkes der naturgemäße Ausdruck seiner ganzen Entwicklung sei. Beide ent¬
gegengesetzte Ansichten berühren sich in der Negative; den erstern kann es nicht
verborgen sein, daß sich ihre Wünsche jedenfalls zur Zeit nicht verwirklichen


Grmzlwtm IH. 1883, 68


Agraria.

s ist nicht zu leugnen, daß zwischen Handel und Industrie einer¬
seits und Landwirtschaft andrerseits ein gewisser Gegensatz besteht,
und daß mit dem Aufschwünge des erstern ein entsprechender Nieder¬
gang der letztern, namentlich ein Verfall des bäuerlichen Mittelstandes
verbunden ist. In solchen Epochen beginnt dann eigentlich erst eine
agrarische Frage, und wer es genau verfolgt, wie sich dieser Gegensatz entwickelt,
der kann schon aus der römischen Geschichte lernen, wie den großen Eroberungen
des republikanischen Staates jedesmal agrarische Unruhen und agrarische Gesetze
gefolgt sind. Denn jedesmal erschlossen sich mit der Eroberung neue Absatz-
quellen für den Handel, und damit war die Landwirtschaft zurückgedrängt.
So dürfen wir uns nicht wundern, wenn seit der Gründung des neuen deutschen
Reiches auch die agrarischen Fragen aufs neue auftauchen, und es ist gewiß
ein Zeichen der gesundesten Politik, wenn einsichtsvolle Staatsmänner und
Volksfreunde sich den neu auftauchenden Erscheinungen nicht verschließen, sondern
das ihrige zur Klärung der verschiednen Ansichten beizutragen suchen, bis der
Weg zur Reform geebnet ist. Gegenwärtig befinden wir uns noch in der Periode
des Kampfes, und eben deshalb darf es nicht befremden, wenn die Geister mit
besondrer Schürfe aufeinander platzen und in ihren Kampfmitteln nicht immer
loyale Waffen wählen. Die einen finden die Zustände so unhaltbar, daß sie
die menschliche Gesellschaft vollständig umstürzen und ein neues Gebäude nach
ihrer Phantasie aufrichten wollen, die andern glauben, daß sich die Verhältnisse
von selbst regeln werden, und daß der jedesmalige wirtschaftliche Zustand eines
Volkes der naturgemäße Ausdruck seiner ganzen Entwicklung sei. Beide ent¬
gegengesetzte Ansichten berühren sich in der Negative; den erstern kann es nicht
verborgen sein, daß sich ihre Wünsche jedenfalls zur Zeit nicht verwirklichen


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[0545] [Abbildung] Agraria. s ist nicht zu leugnen, daß zwischen Handel und Industrie einer¬ seits und Landwirtschaft andrerseits ein gewisser Gegensatz besteht, und daß mit dem Aufschwünge des erstern ein entsprechender Nieder¬ gang der letztern, namentlich ein Verfall des bäuerlichen Mittelstandes verbunden ist. In solchen Epochen beginnt dann eigentlich erst eine agrarische Frage, und wer es genau verfolgt, wie sich dieser Gegensatz entwickelt, der kann schon aus der römischen Geschichte lernen, wie den großen Eroberungen des republikanischen Staates jedesmal agrarische Unruhen und agrarische Gesetze gefolgt sind. Denn jedesmal erschlossen sich mit der Eroberung neue Absatz- quellen für den Handel, und damit war die Landwirtschaft zurückgedrängt. So dürfen wir uns nicht wundern, wenn seit der Gründung des neuen deutschen Reiches auch die agrarischen Fragen aufs neue auftauchen, und es ist gewiß ein Zeichen der gesundesten Politik, wenn einsichtsvolle Staatsmänner und Volksfreunde sich den neu auftauchenden Erscheinungen nicht verschließen, sondern das ihrige zur Klärung der verschiednen Ansichten beizutragen suchen, bis der Weg zur Reform geebnet ist. Gegenwärtig befinden wir uns noch in der Periode des Kampfes, und eben deshalb darf es nicht befremden, wenn die Geister mit besondrer Schürfe aufeinander platzen und in ihren Kampfmitteln nicht immer loyale Waffen wählen. Die einen finden die Zustände so unhaltbar, daß sie die menschliche Gesellschaft vollständig umstürzen und ein neues Gebäude nach ihrer Phantasie aufrichten wollen, die andern glauben, daß sich die Verhältnisse von selbst regeln werden, und daß der jedesmalige wirtschaftliche Zustand eines Volkes der naturgemäße Ausdruck seiner ganzen Entwicklung sei. Beide ent¬ gegengesetzte Ansichten berühren sich in der Negative; den erstern kann es nicht verborgen sein, daß sich ihre Wünsche jedenfalls zur Zeit nicht verwirklichen Grmzlwtm IH. 1883, 68

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_153446/545>, abgerufen am 08.09.2024.