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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal.

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Don Atome.

verschieden Personen vorbringen läßt. Darnach hat Gian Francesco Sabattini
in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts als öffentlicher Schreiber und Jmprovi¬
sator in Neapel gelebt und hat im Don Atome ein nicht ganz getreu gezeichnetes
Abbild seiner selbst hinterlassen. Die Mehrzahl der Leser wird nicht in der
Lage sein, die Möglichkeit, Wahrscheinlichkeit oder Richtigkeit dieser Angaben
irgendwie zu prüfen, man kann sich dessen auch ruhig begeben: mag die Ge¬
schichte stammen, von wem sie will, sie wird von Waldmüllcr wunderhübsch er¬
zählt, und das ist denn doch die Hauptsache.

Don Atome ist ein junger Mensch, mit allerlei unfruchtbarer Gelehrsamkeit
vollgestopft, der immer unter der Vormundschaft seiner Mutter gestanden hat
und nach deren Tode auf Grund des mütterlichen letzten Willens mit feiner
listigen und lustigen Magd Fiammetta in die Welt zieht, um einen Schatz Geldes
an eine erst aufzusuchende Adresse zu befördern. Die Anfechtungen, die er dabei
zu bestehen hat, die Angriffe, denen er um des Geldes und des Mädchens willen
ausgesetzt ist, und die ihn im Anfange immer erbärmlich feig und unfähig finden,
wecken am Schlüsse doch endlich seine schlummernde Manneskraft, sodaß er unter
Beiseitesetzung aller Weisheitssprüche der Alten sich auf seine Arme und Beine
verlassen lernt, und nachdem er das Geld glücklich, wenn auch nicht an die be¬
stimmte Adresse, losgeworden ist, einen andern Schatz in Besitz nimmt, nämlich
Herz und Hand Fiammettas. Diese Ereignisse spielen sich zwischen Neapel und
Salerno ab, auf einem Schauplatz, dessen Vorstellung den Leser von vornherein
heiter und frei stimmt, und die Handlung geht vor sich "zur Zeit des Vize¬
königs," eine Zeitbestimmung, die einen leichten Schleier nebelhafter Unbestimmt¬
heit über das Ganze legt, welcher dem poetischen Eindruck nicht nachteilig ist.

Wir fühlen uns in "Don Atome" in die Welt der Lustspiele Shakespeares,
in die Zeit der italienischen Novellisten des vierzehnten und fünfzehnten Jahr¬
hunderts versetzt; es liegt auch etwas von der Anschaulichkeit und dem über¬
legenen Humor jener Erzähler in der ganzen Darstellung Waldmüllers. Dabei
weckt aber doch der Held unsre ganze Teilnahme dadurch, daß er der Repräsen¬
tant einer heutzutage weitverbreiteten geistigen Krankheitserscheinung ist. Der
Dichter schildert in ihm einen Menschen, der von den Meinungen und An¬
sichten andrer Leute so viel gehört und gelernt hat, daß er sich völlig entwöhnt
hat, selbst zu denken und sich zu entschließen, daß ihm alles Selbstvertrauen,
alle Entschlossenheit und Thatkraft abhanden gekommen ist. Dieser Spiegel, in
dem uns Waldmüller die entnervende Wirkung eines Bildungsganges zeigt, bei
dem der Mensch mehr lernt, als er verdauen kann, ist unsrer Zeit sehr heilsam,
in der so viele Menschen durch das Übermaß des Unterrichtes und der so¬
genannten Bildung in ihrer Charakterentwicklung gelähmt und verkümmert werden.
Doch diese satirische Nebenbeziehung ist zunächst nicht die Hauptsache an Wald¬
müllers Erzählung; sie giebt dem Ganzen nur einen bedeutungsvollen Hinter¬
grund, der es fast gestattet, an Cervantes' unsterbliches Meisterwerk zu erinnern,


Don Atome.

verschieden Personen vorbringen läßt. Darnach hat Gian Francesco Sabattini
in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts als öffentlicher Schreiber und Jmprovi¬
sator in Neapel gelebt und hat im Don Atome ein nicht ganz getreu gezeichnetes
Abbild seiner selbst hinterlassen. Die Mehrzahl der Leser wird nicht in der
Lage sein, die Möglichkeit, Wahrscheinlichkeit oder Richtigkeit dieser Angaben
irgendwie zu prüfen, man kann sich dessen auch ruhig begeben: mag die Ge¬
schichte stammen, von wem sie will, sie wird von Waldmüllcr wunderhübsch er¬
zählt, und das ist denn doch die Hauptsache.

Don Atome ist ein junger Mensch, mit allerlei unfruchtbarer Gelehrsamkeit
vollgestopft, der immer unter der Vormundschaft seiner Mutter gestanden hat
und nach deren Tode auf Grund des mütterlichen letzten Willens mit feiner
listigen und lustigen Magd Fiammetta in die Welt zieht, um einen Schatz Geldes
an eine erst aufzusuchende Adresse zu befördern. Die Anfechtungen, die er dabei
zu bestehen hat, die Angriffe, denen er um des Geldes und des Mädchens willen
ausgesetzt ist, und die ihn im Anfange immer erbärmlich feig und unfähig finden,
wecken am Schlüsse doch endlich seine schlummernde Manneskraft, sodaß er unter
Beiseitesetzung aller Weisheitssprüche der Alten sich auf seine Arme und Beine
verlassen lernt, und nachdem er das Geld glücklich, wenn auch nicht an die be¬
stimmte Adresse, losgeworden ist, einen andern Schatz in Besitz nimmt, nämlich
Herz und Hand Fiammettas. Diese Ereignisse spielen sich zwischen Neapel und
Salerno ab, auf einem Schauplatz, dessen Vorstellung den Leser von vornherein
heiter und frei stimmt, und die Handlung geht vor sich „zur Zeit des Vize¬
königs," eine Zeitbestimmung, die einen leichten Schleier nebelhafter Unbestimmt¬
heit über das Ganze legt, welcher dem poetischen Eindruck nicht nachteilig ist.

Wir fühlen uns in „Don Atome" in die Welt der Lustspiele Shakespeares,
in die Zeit der italienischen Novellisten des vierzehnten und fünfzehnten Jahr¬
hunderts versetzt; es liegt auch etwas von der Anschaulichkeit und dem über¬
legenen Humor jener Erzähler in der ganzen Darstellung Waldmüllers. Dabei
weckt aber doch der Held unsre ganze Teilnahme dadurch, daß er der Repräsen¬
tant einer heutzutage weitverbreiteten geistigen Krankheitserscheinung ist. Der
Dichter schildert in ihm einen Menschen, der von den Meinungen und An¬
sichten andrer Leute so viel gehört und gelernt hat, daß er sich völlig entwöhnt
hat, selbst zu denken und sich zu entschließen, daß ihm alles Selbstvertrauen,
alle Entschlossenheit und Thatkraft abhanden gekommen ist. Dieser Spiegel, in
dem uns Waldmüller die entnervende Wirkung eines Bildungsganges zeigt, bei
dem der Mensch mehr lernt, als er verdauen kann, ist unsrer Zeit sehr heilsam,
in der so viele Menschen durch das Übermaß des Unterrichtes und der so¬
genannten Bildung in ihrer Charakterentwicklung gelähmt und verkümmert werden.
Doch diese satirische Nebenbeziehung ist zunächst nicht die Hauptsache an Wald¬
müllers Erzählung; sie giebt dem Ganzen nur einen bedeutungsvollen Hinter¬
grund, der es fast gestattet, an Cervantes' unsterbliches Meisterwerk zu erinnern,


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[0470] Don Atome. verschieden Personen vorbringen läßt. Darnach hat Gian Francesco Sabattini in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts als öffentlicher Schreiber und Jmprovi¬ sator in Neapel gelebt und hat im Don Atome ein nicht ganz getreu gezeichnetes Abbild seiner selbst hinterlassen. Die Mehrzahl der Leser wird nicht in der Lage sein, die Möglichkeit, Wahrscheinlichkeit oder Richtigkeit dieser Angaben irgendwie zu prüfen, man kann sich dessen auch ruhig begeben: mag die Ge¬ schichte stammen, von wem sie will, sie wird von Waldmüllcr wunderhübsch er¬ zählt, und das ist denn doch die Hauptsache. Don Atome ist ein junger Mensch, mit allerlei unfruchtbarer Gelehrsamkeit vollgestopft, der immer unter der Vormundschaft seiner Mutter gestanden hat und nach deren Tode auf Grund des mütterlichen letzten Willens mit feiner listigen und lustigen Magd Fiammetta in die Welt zieht, um einen Schatz Geldes an eine erst aufzusuchende Adresse zu befördern. Die Anfechtungen, die er dabei zu bestehen hat, die Angriffe, denen er um des Geldes und des Mädchens willen ausgesetzt ist, und die ihn im Anfange immer erbärmlich feig und unfähig finden, wecken am Schlüsse doch endlich seine schlummernde Manneskraft, sodaß er unter Beiseitesetzung aller Weisheitssprüche der Alten sich auf seine Arme und Beine verlassen lernt, und nachdem er das Geld glücklich, wenn auch nicht an die be¬ stimmte Adresse, losgeworden ist, einen andern Schatz in Besitz nimmt, nämlich Herz und Hand Fiammettas. Diese Ereignisse spielen sich zwischen Neapel und Salerno ab, auf einem Schauplatz, dessen Vorstellung den Leser von vornherein heiter und frei stimmt, und die Handlung geht vor sich „zur Zeit des Vize¬ königs," eine Zeitbestimmung, die einen leichten Schleier nebelhafter Unbestimmt¬ heit über das Ganze legt, welcher dem poetischen Eindruck nicht nachteilig ist. Wir fühlen uns in „Don Atome" in die Welt der Lustspiele Shakespeares, in die Zeit der italienischen Novellisten des vierzehnten und fünfzehnten Jahr¬ hunderts versetzt; es liegt auch etwas von der Anschaulichkeit und dem über¬ legenen Humor jener Erzähler in der ganzen Darstellung Waldmüllers. Dabei weckt aber doch der Held unsre ganze Teilnahme dadurch, daß er der Repräsen¬ tant einer heutzutage weitverbreiteten geistigen Krankheitserscheinung ist. Der Dichter schildert in ihm einen Menschen, der von den Meinungen und An¬ sichten andrer Leute so viel gehört und gelernt hat, daß er sich völlig entwöhnt hat, selbst zu denken und sich zu entschließen, daß ihm alles Selbstvertrauen, alle Entschlossenheit und Thatkraft abhanden gekommen ist. Dieser Spiegel, in dem uns Waldmüller die entnervende Wirkung eines Bildungsganges zeigt, bei dem der Mensch mehr lernt, als er verdauen kann, ist unsrer Zeit sehr heilsam, in der so viele Menschen durch das Übermaß des Unterrichtes und der so¬ genannten Bildung in ihrer Charakterentwicklung gelähmt und verkümmert werden. Doch diese satirische Nebenbeziehung ist zunächst nicht die Hauptsache an Wald¬ müllers Erzählung; sie giebt dem Ganzen nur einen bedeutungsvollen Hinter¬ grund, der es fast gestattet, an Cervantes' unsterbliches Meisterwerk zu erinnern,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_153446/470>, abgerufen am 08.09.2024.