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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal.

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L. F. podis^aydn-Biographie.

hat. Die deutsche Spielmannsmusik bildet zu ihr einen scharfen Gegensatz. Sie
ist Volksmusik, sie gehört nicht in den Salon, sondern ins Freie oder auf den
Tanzboden. Ihre Bedeutung für die höhere Kunstmusik ist zu allen Zeiten eine
sehr große gewesen, im achtzehnten Jahrhundert verdankt ihr kein Komponist
soviel wie Haydn, der mit Tanzkompositionen seine Laufbahn begonnen hat.
Dem Verfasser unsers Buches ist dies nicht unbemerkt geblieben. Er hat der
Wiener Tanzmusik mehrere Seiten des ersten Bandes gewidmet, aus denen viel
Belehrung zu entnehmen ist. Das eigentliche musikalische Wesen derselben und
wie dieses sich zu Haydns Tänzen verhält, wird dennoch nicht recht klar. Frei¬
lich ist es außerordentlich schwer, für eine geschichtliche Betrachtung dieser Musik¬
stücke, die wie kurzlebige Falter vorüberflatterten, jetzt noch ein ausreichendes
Material zusammenzubringen. Die Spielmannsmusik jener Zeit bestand aber
nicht nur aus Tänzen oder auch Märschen. Sie befaßte sich auch mit freier
gestalteten Tonstücken. Daß hier wiederum die Italiener vielfach eingewirkt
haben, namentlich in Österreich, ist sicher. Schon die Namen Lsröng-W und
vivsrtiiQöuw würden es beweisen. Ihnen gesellt sich dann aber, ohne greifbaren
Unterschied der formell-musikalischen Bedeutung, das aus der deutschen Studenten¬
sprache stammende "Kassation," von "Gasse" herkommend, indem MWatirn
gehen" gesagt wurde, wenn die Studenten, um den schönen Mädchen der Stadt
mit Musik aufzuwarten, durch die Gassen zogen.

Von der Kassation ist Haydns Quartettmusik ausgegangen. Er selbst be¬
zeichnete seine ersten Quartette mit diesem Namen. Aber auch die Form verrät
es, die überwiegende Fünfsätzigkeit, die Freiheit in der Ordnung der Sätze.
Denn die Kassation kannte -in Bezug auf Zahl, Folge und Charakter der Sätze
keine bindende Norm. Auch daß Haydn gleich auf die ersten Quartette sechs
LvU6r2ÄiM folgen ließ, bei denen noch Flöte, Oboe und Horn mitzuwirken
hatten, verdient bemerkt zu werden. Die Besetzung der Kassation bestand nicht
nur aus Streichinstrumenten. Gern nahm man auch einige Bläser hinzu.
Dabei blieben aber, wie auch Pohl einsichtig bemerkt, die Streichinstrumente
doch nur einfach besetzt. Es mag diese Zusammenstellung von Instrumenten
einen Beleg dafür bieten, wie sich der Sinn für das klanglich Angenehme mit
der Zeit verändern kann. Unsrer Empfindung erscheint der Ton der einfach
besetzten Streichinstrumente gegenüber dem dicken Ton der Flöte, der Klarinette,
des Horns zu dürftig, geradezu schäbig, auch schmelzen die einzelnen Elemente
nicht zu einem wohlthuenden Gesamtklange zusammen. Vollends nicht, wenn
im Freien gespielt wird. Die Ohren jener Zeit aber befanden sich bei diesen
Klängen sehr wohl. Sonst würden nicht noch Beethoven (im Septuor) und
Schubert (im Octett) die Kassation mit so sichtlichem Behagen gepflegt haben.

Den einzigen Ausgangspunkt für den Quartettkomponisten Haydn hat freilich
die Kassation schwerlich gebildet. Ohne allen Einfluß ist die italienische Kammer¬
musik sicher nicht geblieben. Das Wort Hrmrtstw oder Hug.6ro beweist, daß


Grenzboten III. 1883. 58
L. F. podis^aydn-Biographie.

hat. Die deutsche Spielmannsmusik bildet zu ihr einen scharfen Gegensatz. Sie
ist Volksmusik, sie gehört nicht in den Salon, sondern ins Freie oder auf den
Tanzboden. Ihre Bedeutung für die höhere Kunstmusik ist zu allen Zeiten eine
sehr große gewesen, im achtzehnten Jahrhundert verdankt ihr kein Komponist
soviel wie Haydn, der mit Tanzkompositionen seine Laufbahn begonnen hat.
Dem Verfasser unsers Buches ist dies nicht unbemerkt geblieben. Er hat der
Wiener Tanzmusik mehrere Seiten des ersten Bandes gewidmet, aus denen viel
Belehrung zu entnehmen ist. Das eigentliche musikalische Wesen derselben und
wie dieses sich zu Haydns Tänzen verhält, wird dennoch nicht recht klar. Frei¬
lich ist es außerordentlich schwer, für eine geschichtliche Betrachtung dieser Musik¬
stücke, die wie kurzlebige Falter vorüberflatterten, jetzt noch ein ausreichendes
Material zusammenzubringen. Die Spielmannsmusik jener Zeit bestand aber
nicht nur aus Tänzen oder auch Märschen. Sie befaßte sich auch mit freier
gestalteten Tonstücken. Daß hier wiederum die Italiener vielfach eingewirkt
haben, namentlich in Österreich, ist sicher. Schon die Namen Lsröng-W und
vivsrtiiQöuw würden es beweisen. Ihnen gesellt sich dann aber, ohne greifbaren
Unterschied der formell-musikalischen Bedeutung, das aus der deutschen Studenten¬
sprache stammende „Kassation," von „Gasse" herkommend, indem MWatirn
gehen" gesagt wurde, wenn die Studenten, um den schönen Mädchen der Stadt
mit Musik aufzuwarten, durch die Gassen zogen.

Von der Kassation ist Haydns Quartettmusik ausgegangen. Er selbst be¬
zeichnete seine ersten Quartette mit diesem Namen. Aber auch die Form verrät
es, die überwiegende Fünfsätzigkeit, die Freiheit in der Ordnung der Sätze.
Denn die Kassation kannte -in Bezug auf Zahl, Folge und Charakter der Sätze
keine bindende Norm. Auch daß Haydn gleich auf die ersten Quartette sechs
LvU6r2ÄiM folgen ließ, bei denen noch Flöte, Oboe und Horn mitzuwirken
hatten, verdient bemerkt zu werden. Die Besetzung der Kassation bestand nicht
nur aus Streichinstrumenten. Gern nahm man auch einige Bläser hinzu.
Dabei blieben aber, wie auch Pohl einsichtig bemerkt, die Streichinstrumente
doch nur einfach besetzt. Es mag diese Zusammenstellung von Instrumenten
einen Beleg dafür bieten, wie sich der Sinn für das klanglich Angenehme mit
der Zeit verändern kann. Unsrer Empfindung erscheint der Ton der einfach
besetzten Streichinstrumente gegenüber dem dicken Ton der Flöte, der Klarinette,
des Horns zu dürftig, geradezu schäbig, auch schmelzen die einzelnen Elemente
nicht zu einem wohlthuenden Gesamtklange zusammen. Vollends nicht, wenn
im Freien gespielt wird. Die Ohren jener Zeit aber befanden sich bei diesen
Klängen sehr wohl. Sonst würden nicht noch Beethoven (im Septuor) und
Schubert (im Octett) die Kassation mit so sichtlichem Behagen gepflegt haben.

Den einzigen Ausgangspunkt für den Quartettkomponisten Haydn hat freilich
die Kassation schwerlich gebildet. Ohne allen Einfluß ist die italienische Kammer¬
musik sicher nicht geblieben. Das Wort Hrmrtstw oder Hug.6ro beweist, daß


Grenzboten III. 1883. 58
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[0465] L. F. podis^aydn-Biographie. hat. Die deutsche Spielmannsmusik bildet zu ihr einen scharfen Gegensatz. Sie ist Volksmusik, sie gehört nicht in den Salon, sondern ins Freie oder auf den Tanzboden. Ihre Bedeutung für die höhere Kunstmusik ist zu allen Zeiten eine sehr große gewesen, im achtzehnten Jahrhundert verdankt ihr kein Komponist soviel wie Haydn, der mit Tanzkompositionen seine Laufbahn begonnen hat. Dem Verfasser unsers Buches ist dies nicht unbemerkt geblieben. Er hat der Wiener Tanzmusik mehrere Seiten des ersten Bandes gewidmet, aus denen viel Belehrung zu entnehmen ist. Das eigentliche musikalische Wesen derselben und wie dieses sich zu Haydns Tänzen verhält, wird dennoch nicht recht klar. Frei¬ lich ist es außerordentlich schwer, für eine geschichtliche Betrachtung dieser Musik¬ stücke, die wie kurzlebige Falter vorüberflatterten, jetzt noch ein ausreichendes Material zusammenzubringen. Die Spielmannsmusik jener Zeit bestand aber nicht nur aus Tänzen oder auch Märschen. Sie befaßte sich auch mit freier gestalteten Tonstücken. Daß hier wiederum die Italiener vielfach eingewirkt haben, namentlich in Österreich, ist sicher. Schon die Namen Lsröng-W und vivsrtiiQöuw würden es beweisen. Ihnen gesellt sich dann aber, ohne greifbaren Unterschied der formell-musikalischen Bedeutung, das aus der deutschen Studenten¬ sprache stammende „Kassation," von „Gasse" herkommend, indem MWatirn gehen" gesagt wurde, wenn die Studenten, um den schönen Mädchen der Stadt mit Musik aufzuwarten, durch die Gassen zogen. Von der Kassation ist Haydns Quartettmusik ausgegangen. Er selbst be¬ zeichnete seine ersten Quartette mit diesem Namen. Aber auch die Form verrät es, die überwiegende Fünfsätzigkeit, die Freiheit in der Ordnung der Sätze. Denn die Kassation kannte -in Bezug auf Zahl, Folge und Charakter der Sätze keine bindende Norm. Auch daß Haydn gleich auf die ersten Quartette sechs LvU6r2ÄiM folgen ließ, bei denen noch Flöte, Oboe und Horn mitzuwirken hatten, verdient bemerkt zu werden. Die Besetzung der Kassation bestand nicht nur aus Streichinstrumenten. Gern nahm man auch einige Bläser hinzu. Dabei blieben aber, wie auch Pohl einsichtig bemerkt, die Streichinstrumente doch nur einfach besetzt. Es mag diese Zusammenstellung von Instrumenten einen Beleg dafür bieten, wie sich der Sinn für das klanglich Angenehme mit der Zeit verändern kann. Unsrer Empfindung erscheint der Ton der einfach besetzten Streichinstrumente gegenüber dem dicken Ton der Flöte, der Klarinette, des Horns zu dürftig, geradezu schäbig, auch schmelzen die einzelnen Elemente nicht zu einem wohlthuenden Gesamtklange zusammen. Vollends nicht, wenn im Freien gespielt wird. Die Ohren jener Zeit aber befanden sich bei diesen Klängen sehr wohl. Sonst würden nicht noch Beethoven (im Septuor) und Schubert (im Octett) die Kassation mit so sichtlichem Behagen gepflegt haben. Den einzigen Ausgangspunkt für den Quartettkomponisten Haydn hat freilich die Kassation schwerlich gebildet. Ohne allen Einfluß ist die italienische Kammer¬ musik sicher nicht geblieben. Das Wort Hrmrtstw oder Hug.6ro beweist, daß Grenzboten III. 1883. 58

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_153446/465>, abgerufen am 08.09.2024.