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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal.

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L. F. podis L^aydii-Biographie.

Für die ungeschminkte Art, wie Pohl Haydns Beziehungen zu Luigia
Polzelli behandelt hat, wird man ihm besondern Dank wissen. Gewisse Punkte
dieser Angelegenheit -- ich meine Haydns mehr oder weniger nahes Verhältnis
zu den Söhnen Pietro und Anton -- dürften ihre völlige Erledigung gefunden
haben, und es ist zu wünschen, daß fortan die öffentliche Diskussion diesen
Gegenstand gänzlich ruhen lasse. Im übrigen möchte der unbefangene Leser
wohl den Eindruck haben, als ob Pohl die Polzelli etwas zu ungünstig be¬
urteile. Der natürliche Verstand sagt sich, daß die Frau, welche einen Haydn
zwanzig Jahre fesselte, ungewöhnliche Eigenschaften besessen haben muß. Mehr
läßt sich hier nicht sagen. Aus Haydns Briefen an sie hat Pohl nur wenige
Sätze mitgeteilt; jene Briefe, oder auch nur einige von ihnen, ganz zu ver¬
öffentlichen, hat er sich nicht bewogen gefunden, und es mag endlich auch das
beste sein, wenn sie unveröffentlicht bleiben. Bei Gelegenheit der Mrs. Schroeter
in London scheint der Verfasser auf die Angelegenheit nochmals zurückkommen
zu wollen. Vielleicht, daß sie dann für den Leser erst in das rechte Licht tritt.
Dagegen ist zu bedauern, daß Pohl an einer andern Stelle in Mitteilung
Haydnscher Schriftstücke nicht etwas freigebiger gewesen ist. Was er I, 228
über den amtlichen Verkehr zwischen Haydn und dem Fürsten Esterhazh zu er¬
zählen weiß, ist so anziehend, daß man von den im Interesse seiner Kapell¬
musiker verfaßten Gesuchen gern das eine und andre im Original läse. Briefe
bleiben doch immer eines der wichtigsten Mittel, das Wesen eines Menschen
kennen zu lernen.

Ich habe schon gesagt, daß der in? höhern Sinne historische Charakter dem
Buche Pohls nicht eigen ist. Es sei das hier wiederholt, zunächst um hinzu¬
zufügen, daß ich mit diesem Urteil nicht sowohl einen Tadel ausgesprochen, als
nur ein bezeichnendes Merkmal der Arbeit anzudeuten beabsichtige. Historisch
würde der Gegenstand behandelt sein, wenn bei all den verschiednen Kunstgattungen
der Nachweis geführt wäre, wie sich das, was Haydn in ihnen geschaffen, zu
den Leistungen seiner Vorgänger verhalte, wo und wie er entweder über die¬
selben hinausgegangen oder hinter ihnen zurückgeblieben sei. Diese bedeutende
und schwierige Aufgabe bleibt noch zu lösen. Pohl hat sich mehr darauf be¬
schränkt, die Kompositionen Haydns an sich zu besprechen. Der Standpunkt
der Beurteilung, welchen er hierbei einnimmt, ist im allgemeinen derjenige der
heutigen Musikwelt. Daß sehr vieles von ihm gesagt wird, was diese Musik¬
welt nicht sagt, versteht sich, weil er von den Dingen eben unvergleichlich viel
mehr weiß. Er kennt alle Kompositionen Haydns, und der Durchschnitt unsrer
Musiker und Musikfreunde kennt von ihnen vielleicht den zehnten Teil. Es ist
also auch in dieser Beziehung eine reiche Fülle von Belehrung aus seiner Arbeit
zu schöpfen. Dagegen wird auch unvermeidlich sein, daß Haydns Musik manchmal
von einem Lichte beleuchtet wird, welches nicht dasjenige ist, in dem sie zur Zeit
ihres Erscheinens stand. Damit soll nicht gesagt sein, daß das Buch überhaupt


L. F. podis L^aydii-Biographie.

Für die ungeschminkte Art, wie Pohl Haydns Beziehungen zu Luigia
Polzelli behandelt hat, wird man ihm besondern Dank wissen. Gewisse Punkte
dieser Angelegenheit — ich meine Haydns mehr oder weniger nahes Verhältnis
zu den Söhnen Pietro und Anton — dürften ihre völlige Erledigung gefunden
haben, und es ist zu wünschen, daß fortan die öffentliche Diskussion diesen
Gegenstand gänzlich ruhen lasse. Im übrigen möchte der unbefangene Leser
wohl den Eindruck haben, als ob Pohl die Polzelli etwas zu ungünstig be¬
urteile. Der natürliche Verstand sagt sich, daß die Frau, welche einen Haydn
zwanzig Jahre fesselte, ungewöhnliche Eigenschaften besessen haben muß. Mehr
läßt sich hier nicht sagen. Aus Haydns Briefen an sie hat Pohl nur wenige
Sätze mitgeteilt; jene Briefe, oder auch nur einige von ihnen, ganz zu ver¬
öffentlichen, hat er sich nicht bewogen gefunden, und es mag endlich auch das
beste sein, wenn sie unveröffentlicht bleiben. Bei Gelegenheit der Mrs. Schroeter
in London scheint der Verfasser auf die Angelegenheit nochmals zurückkommen
zu wollen. Vielleicht, daß sie dann für den Leser erst in das rechte Licht tritt.
Dagegen ist zu bedauern, daß Pohl an einer andern Stelle in Mitteilung
Haydnscher Schriftstücke nicht etwas freigebiger gewesen ist. Was er I, 228
über den amtlichen Verkehr zwischen Haydn und dem Fürsten Esterhazh zu er¬
zählen weiß, ist so anziehend, daß man von den im Interesse seiner Kapell¬
musiker verfaßten Gesuchen gern das eine und andre im Original läse. Briefe
bleiben doch immer eines der wichtigsten Mittel, das Wesen eines Menschen
kennen zu lernen.

Ich habe schon gesagt, daß der in? höhern Sinne historische Charakter dem
Buche Pohls nicht eigen ist. Es sei das hier wiederholt, zunächst um hinzu¬
zufügen, daß ich mit diesem Urteil nicht sowohl einen Tadel ausgesprochen, als
nur ein bezeichnendes Merkmal der Arbeit anzudeuten beabsichtige. Historisch
würde der Gegenstand behandelt sein, wenn bei all den verschiednen Kunstgattungen
der Nachweis geführt wäre, wie sich das, was Haydn in ihnen geschaffen, zu
den Leistungen seiner Vorgänger verhalte, wo und wie er entweder über die¬
selben hinausgegangen oder hinter ihnen zurückgeblieben sei. Diese bedeutende
und schwierige Aufgabe bleibt noch zu lösen. Pohl hat sich mehr darauf be¬
schränkt, die Kompositionen Haydns an sich zu besprechen. Der Standpunkt
der Beurteilung, welchen er hierbei einnimmt, ist im allgemeinen derjenige der
heutigen Musikwelt. Daß sehr vieles von ihm gesagt wird, was diese Musik¬
welt nicht sagt, versteht sich, weil er von den Dingen eben unvergleichlich viel
mehr weiß. Er kennt alle Kompositionen Haydns, und der Durchschnitt unsrer
Musiker und Musikfreunde kennt von ihnen vielleicht den zehnten Teil. Es ist
also auch in dieser Beziehung eine reiche Fülle von Belehrung aus seiner Arbeit
zu schöpfen. Dagegen wird auch unvermeidlich sein, daß Haydns Musik manchmal
von einem Lichte beleuchtet wird, welches nicht dasjenige ist, in dem sie zur Zeit
ihres Erscheinens stand. Damit soll nicht gesagt sein, daß das Buch überhaupt


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_153446/462>, abgerufen am 08.09.2024.