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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal.

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<L. F. Pohls Lsaydn - Biographie.

An einer Stelle der Vorrede hält es Pohl für nötig, sich über die Be¬
rechtigung einer Haydn-Biographie mit dem Leser zu verständigen. Unsrer Mei¬
nung nach ist alles und jedes in der Welt, was von der menschlichen Erkenntnis
noch nicht völlig durchdrungen worden ist, ein würdiges Objekt der Forschung,
und es bedyrf keines Wortes der Rechtfertigung dazu. Nun gar Haydn, der
zu den anerkannt größten deutschen Meistern gehört, über dessen größten Lebens¬
teil bis jetzt nur lückenhafte und ungeordnete Kenntnis bestand, von dessen
Kompositionen mehr als die Hälfte sogut wie unbekannt geblieben ist! Wer,
so sollte man denken, würde nicht mit Begierde nach einem Buche greifen, das
über diese Dinge zuni erstenmale gründliche Auskunft zu geben verspricht? Eine
andre Frage würde es sein, ob es zur Zeit schon möglich sei, eine erschöpfende
Darstellung von Haydns Wirken und künstlerischer Bedeutung zu liefern. Aber
freilich, diese Frage ließe sich bei jedem andern großen Musiker, wenn er nicht
gerade ins neunzehnte Jahrhundert gehört, mit demselben Rechte stellen. Wenn
die neuere Forschung sich mit Vorliebe ans die wissenschaftliche Bewältigung
der größten Meister wirft, so darf man ihr den Vorwurf der Verzagtheit we¬
nigstens nicht machen. Sie wählt sich das Schwerste gleich im ersten Angriff,
sie faßt den Stier bei den Hörnern. Darf sie bei dieser Methode der Erobe¬
rung der Teilnahme eines größern Kreises von Gebildeten noch am ehesten ver¬
sichert sein, so muß sie sich freilich auch sagen, daß es bei dem Mangel an vor¬
bereitenden Arbeiten fast unmöglich ist, nicht in allerhand Irrtümer zu geraten.
Sie muß sich aus eigner Kraft den Weg zur Höhe bahnen, sogut es gehen will,
und sich bescheiden, wenn sie nur in den Hauptsachen das Richtige gefunden
haben wird.

Wenn der Verfasser des "Joseph Haydn," ein Wort seines Helden auf sich
anwendend, hofft, man werde seine Arbeit "nicht allzu streng anfassen und ihr
dabei zu wehe thun," so glaube ich, daß das letztere niemand einfallen wird,
an dessen Urteil ihm etwas liegen kann. Das erstere, das "streng anfassen,"
aber braucht er garnicht zu scheuen, sobald der Beurteiler nur im Auge behält,
was Pohl mit dieser Arbeit überhaupt hat leisten wollen. Sollte ich ihr Wesen
mit einem Wort bezeichnen, so würde ich sagen, sie sei keine historische, auch
keine biographische, sondern mehr eine antiquarische Arbeit. Wir finden in ihr
dieselbe Methode angewandt, deren sich der Verfasser auch in seinem ältern
Buche "Haydn in London" (Wien, Gerold, 1867) bedient hat. Die Erlebnisse
Haydns und seiner Werke bilden den Faden, an welchem alles aufgereiht wird,
was zu jenem in näherer oder fernerer Beziehung steht. Die Sorgsamkeit und
Gründlichkeit im Aufsuchen der Thatsachen, sei es, daß diese Haydns Leben
direkt betreffen oder auch nicht, ist preiswürdig im höchsten Grade; sie ist eine
solche, wie sie nur bei einem Manne vorhanden sein kann, der an jedem Stückchen,
das er aus dem Ruin vergangner Tage hervorzieht und erhält, seine innige
Freude hat. Diese Freude wiederum ist nur möglich, wenn die Reste der Ver-


Grcnzboten M. 1883. 57
<L. F. Pohls Lsaydn - Biographie.

An einer Stelle der Vorrede hält es Pohl für nötig, sich über die Be¬
rechtigung einer Haydn-Biographie mit dem Leser zu verständigen. Unsrer Mei¬
nung nach ist alles und jedes in der Welt, was von der menschlichen Erkenntnis
noch nicht völlig durchdrungen worden ist, ein würdiges Objekt der Forschung,
und es bedyrf keines Wortes der Rechtfertigung dazu. Nun gar Haydn, der
zu den anerkannt größten deutschen Meistern gehört, über dessen größten Lebens¬
teil bis jetzt nur lückenhafte und ungeordnete Kenntnis bestand, von dessen
Kompositionen mehr als die Hälfte sogut wie unbekannt geblieben ist! Wer,
so sollte man denken, würde nicht mit Begierde nach einem Buche greifen, das
über diese Dinge zuni erstenmale gründliche Auskunft zu geben verspricht? Eine
andre Frage würde es sein, ob es zur Zeit schon möglich sei, eine erschöpfende
Darstellung von Haydns Wirken und künstlerischer Bedeutung zu liefern. Aber
freilich, diese Frage ließe sich bei jedem andern großen Musiker, wenn er nicht
gerade ins neunzehnte Jahrhundert gehört, mit demselben Rechte stellen. Wenn
die neuere Forschung sich mit Vorliebe ans die wissenschaftliche Bewältigung
der größten Meister wirft, so darf man ihr den Vorwurf der Verzagtheit we¬
nigstens nicht machen. Sie wählt sich das Schwerste gleich im ersten Angriff,
sie faßt den Stier bei den Hörnern. Darf sie bei dieser Methode der Erobe¬
rung der Teilnahme eines größern Kreises von Gebildeten noch am ehesten ver¬
sichert sein, so muß sie sich freilich auch sagen, daß es bei dem Mangel an vor¬
bereitenden Arbeiten fast unmöglich ist, nicht in allerhand Irrtümer zu geraten.
Sie muß sich aus eigner Kraft den Weg zur Höhe bahnen, sogut es gehen will,
und sich bescheiden, wenn sie nur in den Hauptsachen das Richtige gefunden
haben wird.

Wenn der Verfasser des „Joseph Haydn," ein Wort seines Helden auf sich
anwendend, hofft, man werde seine Arbeit „nicht allzu streng anfassen und ihr
dabei zu wehe thun," so glaube ich, daß das letztere niemand einfallen wird,
an dessen Urteil ihm etwas liegen kann. Das erstere, das „streng anfassen,"
aber braucht er garnicht zu scheuen, sobald der Beurteiler nur im Auge behält,
was Pohl mit dieser Arbeit überhaupt hat leisten wollen. Sollte ich ihr Wesen
mit einem Wort bezeichnen, so würde ich sagen, sie sei keine historische, auch
keine biographische, sondern mehr eine antiquarische Arbeit. Wir finden in ihr
dieselbe Methode angewandt, deren sich der Verfasser auch in seinem ältern
Buche „Haydn in London" (Wien, Gerold, 1867) bedient hat. Die Erlebnisse
Haydns und seiner Werke bilden den Faden, an welchem alles aufgereiht wird,
was zu jenem in näherer oder fernerer Beziehung steht. Die Sorgsamkeit und
Gründlichkeit im Aufsuchen der Thatsachen, sei es, daß diese Haydns Leben
direkt betreffen oder auch nicht, ist preiswürdig im höchsten Grade; sie ist eine
solche, wie sie nur bei einem Manne vorhanden sein kann, der an jedem Stückchen,
das er aus dem Ruin vergangner Tage hervorzieht und erhält, seine innige
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Grcnzboten M. 1883. 57
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_153446/457>, abgerufen am 08.09.2024.