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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal.

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L. F. Pohls ^aydn - Biographie.

nehmklingende und somit auf idealerer Stufe das Urteil der Phantasie über
das Schöne. Außer Gebrauch gekommene Instrumente sucht man wieder her¬
zustellen; hat man damit auch sicher die Seele zurückgewonnen, welche ihnen
die Künstler einhauchten? Vollends der menschliche Gesang. Physiologische
Beweismittel mögen es wahrscheinlich machen, daß der Umfang der verschiednen
Stimmklasfen unter den Kulturvölkern Europas annähernd stets der gleiche
war. So gewiß die Italiener der Renaissance sich in Leben, Gesinnung, Inter¬
essen, Empfindung von der Gegenwart gründlich unterschiede", so gewiß war
es auch etwas andres, was ihren Gesang beseelte und ihm seinen eigentümlichen
Ausdruck lieh. Man sieht, daß man diesen Schwierigkeiten gegenüber mit der
philologischen Methode nicht weit kommt.

Aber nehmen wir einmal an, es gelänge, ein Musikstück vergangner Zeit
genau so wieder ins Leben zu rufen, wie es aus der Phantasie des Komponisten
hervortrat -- und nach diesem Ziele streben muß die Kunstwissenschaft, mag es
einstweilen auch noch unerreichbar scheinen --, dann wäre der Wert des ge¬
wonnenen Eindruckes zunächst immer nur ein ästhetischer. Zur Gewinnung
eines wissenschaftlichen Ergebnisses wäre das Erzielte nur eine, freilich not¬
wendige Vorstufe. Geschichte treiben heißt den Zusammenhang der Dinge er¬
kennen Wollen. Es würde nun darauf ankommen, den von Kunstwerk em¬
pfangenen Eindruck auf die Persönlichkeit des Komponisten zu beziehen, ihn mit
dem Eindruck von andern Kompositionen desselben Meisters zu vergleichen, in
dieser Thätigkeit zum Schauen eines Gesamtbildes des Künstlers vorzudringen,
alsdann dieses mit den ebenso gewonnenen Bildern andrer Persönlichkeiten zu¬
sammenzuhalten. Man würde eben die betreffenden Musikstücke als Urkunden
behandeln, die dem Geschichtsforscher ihren Gehalt herzugeben haben. Dies Ver¬
hältnis ist nicht das des Philologen. Der Philolog behandelt den ihm vor¬
liegenden Text in keiner andern Absicht, als um zu erkenne", was der Autor
geschrieben und gemeint hat. Diese Erkenntnis ist ihm Selbstzweck; sein Ziel
ist ein formales, es handelt sich bei ihm um das Wie, der Historiker fragt nach
dem Was, die Arbeit des Philologen muß vorhergegangen sein, dann beginnt
die seinige erst.

Jahr war ein biographisches Talent ersten Ranges; er hat dies auch auf
andern Gebieten glänzend bewährt. Ein historisches Talent war er nicht,
soweit ich urteilen kaun. Sein Auge wurde durch die einzelne Persönlichkeit
gefesselt. Diese liebevoll bis aufs Kleinste herauszuarbeiten, machte seine Freude
aus, dies zu können scheute er keine Mühe. Um sie recht sichtbar zu machen,
legte er ihr auch ein historisches Postament unter, aber der Accent liegt, wie
es in der Ordnung ist, nicht auf diesem, sondern ganz und gar auf jeuer. Man
hört sagen, daß auch die Arbeit des Biographen historischer Art sei. In ge¬
wissem Sinne wohl, aber mit gleichem Recht kann man beide Arten als gegen¬
sätzlich bezeichnen. Die Sache liegt keineswegs so, daß eine Persönlichkeit in


L. F. Pohls ^aydn - Biographie.

nehmklingende und somit auf idealerer Stufe das Urteil der Phantasie über
das Schöne. Außer Gebrauch gekommene Instrumente sucht man wieder her¬
zustellen; hat man damit auch sicher die Seele zurückgewonnen, welche ihnen
die Künstler einhauchten? Vollends der menschliche Gesang. Physiologische
Beweismittel mögen es wahrscheinlich machen, daß der Umfang der verschiednen
Stimmklasfen unter den Kulturvölkern Europas annähernd stets der gleiche
war. So gewiß die Italiener der Renaissance sich in Leben, Gesinnung, Inter¬
essen, Empfindung von der Gegenwart gründlich unterschiede», so gewiß war
es auch etwas andres, was ihren Gesang beseelte und ihm seinen eigentümlichen
Ausdruck lieh. Man sieht, daß man diesen Schwierigkeiten gegenüber mit der
philologischen Methode nicht weit kommt.

Aber nehmen wir einmal an, es gelänge, ein Musikstück vergangner Zeit
genau so wieder ins Leben zu rufen, wie es aus der Phantasie des Komponisten
hervortrat — und nach diesem Ziele streben muß die Kunstwissenschaft, mag es
einstweilen auch noch unerreichbar scheinen —, dann wäre der Wert des ge¬
wonnenen Eindruckes zunächst immer nur ein ästhetischer. Zur Gewinnung
eines wissenschaftlichen Ergebnisses wäre das Erzielte nur eine, freilich not¬
wendige Vorstufe. Geschichte treiben heißt den Zusammenhang der Dinge er¬
kennen Wollen. Es würde nun darauf ankommen, den von Kunstwerk em¬
pfangenen Eindruck auf die Persönlichkeit des Komponisten zu beziehen, ihn mit
dem Eindruck von andern Kompositionen desselben Meisters zu vergleichen, in
dieser Thätigkeit zum Schauen eines Gesamtbildes des Künstlers vorzudringen,
alsdann dieses mit den ebenso gewonnenen Bildern andrer Persönlichkeiten zu¬
sammenzuhalten. Man würde eben die betreffenden Musikstücke als Urkunden
behandeln, die dem Geschichtsforscher ihren Gehalt herzugeben haben. Dies Ver¬
hältnis ist nicht das des Philologen. Der Philolog behandelt den ihm vor¬
liegenden Text in keiner andern Absicht, als um zu erkenne», was der Autor
geschrieben und gemeint hat. Diese Erkenntnis ist ihm Selbstzweck; sein Ziel
ist ein formales, es handelt sich bei ihm um das Wie, der Historiker fragt nach
dem Was, die Arbeit des Philologen muß vorhergegangen sein, dann beginnt
die seinige erst.

Jahr war ein biographisches Talent ersten Ranges; er hat dies auch auf
andern Gebieten glänzend bewährt. Ein historisches Talent war er nicht,
soweit ich urteilen kaun. Sein Auge wurde durch die einzelne Persönlichkeit
gefesselt. Diese liebevoll bis aufs Kleinste herauszuarbeiten, machte seine Freude
aus, dies zu können scheute er keine Mühe. Um sie recht sichtbar zu machen,
legte er ihr auch ein historisches Postament unter, aber der Accent liegt, wie
es in der Ordnung ist, nicht auf diesem, sondern ganz und gar auf jeuer. Man
hört sagen, daß auch die Arbeit des Biographen historischer Art sei. In ge¬
wissem Sinne wohl, aber mit gleichem Recht kann man beide Arten als gegen¬
sätzlich bezeichnen. Die Sache liegt keineswegs so, daß eine Persönlichkeit in


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[0455] L. F. Pohls ^aydn - Biographie. nehmklingende und somit auf idealerer Stufe das Urteil der Phantasie über das Schöne. Außer Gebrauch gekommene Instrumente sucht man wieder her¬ zustellen; hat man damit auch sicher die Seele zurückgewonnen, welche ihnen die Künstler einhauchten? Vollends der menschliche Gesang. Physiologische Beweismittel mögen es wahrscheinlich machen, daß der Umfang der verschiednen Stimmklasfen unter den Kulturvölkern Europas annähernd stets der gleiche war. So gewiß die Italiener der Renaissance sich in Leben, Gesinnung, Inter¬ essen, Empfindung von der Gegenwart gründlich unterschiede», so gewiß war es auch etwas andres, was ihren Gesang beseelte und ihm seinen eigentümlichen Ausdruck lieh. Man sieht, daß man diesen Schwierigkeiten gegenüber mit der philologischen Methode nicht weit kommt. Aber nehmen wir einmal an, es gelänge, ein Musikstück vergangner Zeit genau so wieder ins Leben zu rufen, wie es aus der Phantasie des Komponisten hervortrat — und nach diesem Ziele streben muß die Kunstwissenschaft, mag es einstweilen auch noch unerreichbar scheinen —, dann wäre der Wert des ge¬ wonnenen Eindruckes zunächst immer nur ein ästhetischer. Zur Gewinnung eines wissenschaftlichen Ergebnisses wäre das Erzielte nur eine, freilich not¬ wendige Vorstufe. Geschichte treiben heißt den Zusammenhang der Dinge er¬ kennen Wollen. Es würde nun darauf ankommen, den von Kunstwerk em¬ pfangenen Eindruck auf die Persönlichkeit des Komponisten zu beziehen, ihn mit dem Eindruck von andern Kompositionen desselben Meisters zu vergleichen, in dieser Thätigkeit zum Schauen eines Gesamtbildes des Künstlers vorzudringen, alsdann dieses mit den ebenso gewonnenen Bildern andrer Persönlichkeiten zu¬ sammenzuhalten. Man würde eben die betreffenden Musikstücke als Urkunden behandeln, die dem Geschichtsforscher ihren Gehalt herzugeben haben. Dies Ver¬ hältnis ist nicht das des Philologen. Der Philolog behandelt den ihm vor¬ liegenden Text in keiner andern Absicht, als um zu erkenne», was der Autor geschrieben und gemeint hat. Diese Erkenntnis ist ihm Selbstzweck; sein Ziel ist ein formales, es handelt sich bei ihm um das Wie, der Historiker fragt nach dem Was, die Arbeit des Philologen muß vorhergegangen sein, dann beginnt die seinige erst. Jahr war ein biographisches Talent ersten Ranges; er hat dies auch auf andern Gebieten glänzend bewährt. Ein historisches Talent war er nicht, soweit ich urteilen kaun. Sein Auge wurde durch die einzelne Persönlichkeit gefesselt. Diese liebevoll bis aufs Kleinste herauszuarbeiten, machte seine Freude aus, dies zu können scheute er keine Mühe. Um sie recht sichtbar zu machen, legte er ihr auch ein historisches Postament unter, aber der Accent liegt, wie es in der Ordnung ist, nicht auf diesem, sondern ganz und gar auf jeuer. Man hört sagen, daß auch die Arbeit des Biographen historischer Art sei. In ge¬ wissem Sinne wohl, aber mit gleichem Recht kann man beide Arten als gegen¬ sätzlich bezeichnen. Die Sache liegt keineswegs so, daß eine Persönlichkeit in

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_153446/455>, abgerufen am 08.09.2024.