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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal.

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Neu-Deutschland.

ihrem größten Schrecken beobachtet, daß viele Deutschen mit dem Messer essen und
häufig mit Kehltönen, statt durch die Nase sprechen.

Ich fürchte, daß Deutschland wegen solcher und ähnlichen Anklagen schuldig
befunden werden muß. Aber wenn man tiefer in das deutsche Leben eindringt,
so treten doch einige mildernde Umstände zu Tage. Der erste ist die Thatsache,
daß dem deutschen Durchschnittsmenschen von seiner Jugend an gelehrt wird, sich
der Gaben Gottes zu bedienen, ohne sie zu mißbrauchen, und uoch an etwas
andres neben der Sucht des bloßen Geldmachens zu glauben. Er erscheint häufig
derb genug in seinem äußern Auftreten, aber im Innern bewahrt er sich ein
höheres Ideal. Ihm erscheint die Aufhäufung von weltlichen Schätzen eitel Thorheit
ohne das gleichzeitige Anwachsen von geistiger Verfeinerung, welche den Reichtum
erst begehrenswert macht. Ich kenne kein Land der Welt, wo der Reichtum als
solcher so wenig zur Hebung der gesellschaftlichen Stellung beiträgt, und wo der
Mangel an Reichtum so wenig die gesellschaftliche Auszeichnung beeinträchtigt.
Ich kenne kein Land, wo der arme Manu mit wirklich tüchtigen schätzenswerten
Eigenschaften so geehrt wird, keins, wo der dnrch Schurkenstreiche reichgewordene
so unauslöschlicher Mißachtung verfällt.

Das ganze soziale Leben Deutschlands ist von der Idee getränkt, daß der
Mensch nicht vom Brot allein leben könne, daß er noch höhere Bedürfnisse habe
als solche, die durch Geld befriedigt werden können. Infolge dessen kenne ich auch
kein Land, in dem unsinniger Luxus und gemeine Prunksucht in geringerem Maße
gefunden würde.

Über die religiösen und sittlichen Zustände unsers Vaterlandes herrschen in
Amerika die entgegengesetztesten Anschauungen. Einesteils hält man Deutschland
in völligen Skeptizismus versunken, andernteils glaubt man an die Rückkehr
des Volkes vom frühern Rationalismus zur striktesten Orthodoxie. Beide
Annahmen sind nach der dreißigjährigen Erfahrung des Verfassers unrichtig.
In längerer Auseinandersetzung spricht er seine Ansicht dahin aus, daß die
Deutschen der Masse nach in der That tief religiös seien. "An ihren Früchten
sollt ihr sie erkennen," bemerkt Herr White. "In keinem Lande giebt es ein
reineres Familienleben, in keinem werden die Rechte des Individuums höher
gehalten, nirgends wird der Ruf des Einzelnen mehr von der Presse geachtet,
nirgends werden Privatgeschäfte sicherer und die Staatsgeschäfte so redlich be¬
trieben; in keinem andern Lande werden Wissenschaft, Literatur und Kunst mit
so hohem und reinem Sinn gepflegt, nirgends wird die heranwachsende Jugend
durch Verbreitung öffentlicher Ärgernisse weniger vergiftet, nirgends begegnet man
weniger Unehrerbietigkeit und Spottsucht, in keinem Lande findet sich weniger
Trunksucht, Schurkerei und Verbrechen."

In seinen Schlußsätzen zieht der Verfasser seine Folgerungen für die
Zukunft.

Betrachten wir Deutschland zunächst vom historischen Standpunkte. Eine Fülle
von zivilisatorischer Elementen hat sich entwickelt -- ideale und reale, theoretische
und praktische, ästhetische und alltägliche, bürgerliche und militärische, wissenschaft¬
liche und literarische, religiöse und sittliche, autokratische und demokratische, aristo-


Neu-Deutschland.

ihrem größten Schrecken beobachtet, daß viele Deutschen mit dem Messer essen und
häufig mit Kehltönen, statt durch die Nase sprechen.

Ich fürchte, daß Deutschland wegen solcher und ähnlichen Anklagen schuldig
befunden werden muß. Aber wenn man tiefer in das deutsche Leben eindringt,
so treten doch einige mildernde Umstände zu Tage. Der erste ist die Thatsache,
daß dem deutschen Durchschnittsmenschen von seiner Jugend an gelehrt wird, sich
der Gaben Gottes zu bedienen, ohne sie zu mißbrauchen, und uoch an etwas
andres neben der Sucht des bloßen Geldmachens zu glauben. Er erscheint häufig
derb genug in seinem äußern Auftreten, aber im Innern bewahrt er sich ein
höheres Ideal. Ihm erscheint die Aufhäufung von weltlichen Schätzen eitel Thorheit
ohne das gleichzeitige Anwachsen von geistiger Verfeinerung, welche den Reichtum
erst begehrenswert macht. Ich kenne kein Land der Welt, wo der Reichtum als
solcher so wenig zur Hebung der gesellschaftlichen Stellung beiträgt, und wo der
Mangel an Reichtum so wenig die gesellschaftliche Auszeichnung beeinträchtigt.
Ich kenne kein Land, wo der arme Manu mit wirklich tüchtigen schätzenswerten
Eigenschaften so geehrt wird, keins, wo der dnrch Schurkenstreiche reichgewordene
so unauslöschlicher Mißachtung verfällt.

Das ganze soziale Leben Deutschlands ist von der Idee getränkt, daß der
Mensch nicht vom Brot allein leben könne, daß er noch höhere Bedürfnisse habe
als solche, die durch Geld befriedigt werden können. Infolge dessen kenne ich auch
kein Land, in dem unsinniger Luxus und gemeine Prunksucht in geringerem Maße
gefunden würde.

Über die religiösen und sittlichen Zustände unsers Vaterlandes herrschen in
Amerika die entgegengesetztesten Anschauungen. Einesteils hält man Deutschland
in völligen Skeptizismus versunken, andernteils glaubt man an die Rückkehr
des Volkes vom frühern Rationalismus zur striktesten Orthodoxie. Beide
Annahmen sind nach der dreißigjährigen Erfahrung des Verfassers unrichtig.
In längerer Auseinandersetzung spricht er seine Ansicht dahin aus, daß die
Deutschen der Masse nach in der That tief religiös seien. „An ihren Früchten
sollt ihr sie erkennen," bemerkt Herr White. „In keinem Lande giebt es ein
reineres Familienleben, in keinem werden die Rechte des Individuums höher
gehalten, nirgends wird der Ruf des Einzelnen mehr von der Presse geachtet,
nirgends werden Privatgeschäfte sicherer und die Staatsgeschäfte so redlich be¬
trieben; in keinem andern Lande werden Wissenschaft, Literatur und Kunst mit
so hohem und reinem Sinn gepflegt, nirgends wird die heranwachsende Jugend
durch Verbreitung öffentlicher Ärgernisse weniger vergiftet, nirgends begegnet man
weniger Unehrerbietigkeit und Spottsucht, in keinem Lande findet sich weniger
Trunksucht, Schurkerei und Verbrechen."

In seinen Schlußsätzen zieht der Verfasser seine Folgerungen für die
Zukunft.

Betrachten wir Deutschland zunächst vom historischen Standpunkte. Eine Fülle
von zivilisatorischer Elementen hat sich entwickelt — ideale und reale, theoretische
und praktische, ästhetische und alltägliche, bürgerliche und militärische, wissenschaft¬
liche und literarische, religiöse und sittliche, autokratische und demokratische, aristo-


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[0451] Neu-Deutschland. ihrem größten Schrecken beobachtet, daß viele Deutschen mit dem Messer essen und häufig mit Kehltönen, statt durch die Nase sprechen. Ich fürchte, daß Deutschland wegen solcher und ähnlichen Anklagen schuldig befunden werden muß. Aber wenn man tiefer in das deutsche Leben eindringt, so treten doch einige mildernde Umstände zu Tage. Der erste ist die Thatsache, daß dem deutschen Durchschnittsmenschen von seiner Jugend an gelehrt wird, sich der Gaben Gottes zu bedienen, ohne sie zu mißbrauchen, und uoch an etwas andres neben der Sucht des bloßen Geldmachens zu glauben. Er erscheint häufig derb genug in seinem äußern Auftreten, aber im Innern bewahrt er sich ein höheres Ideal. Ihm erscheint die Aufhäufung von weltlichen Schätzen eitel Thorheit ohne das gleichzeitige Anwachsen von geistiger Verfeinerung, welche den Reichtum erst begehrenswert macht. Ich kenne kein Land der Welt, wo der Reichtum als solcher so wenig zur Hebung der gesellschaftlichen Stellung beiträgt, und wo der Mangel an Reichtum so wenig die gesellschaftliche Auszeichnung beeinträchtigt. Ich kenne kein Land, wo der arme Manu mit wirklich tüchtigen schätzenswerten Eigenschaften so geehrt wird, keins, wo der dnrch Schurkenstreiche reichgewordene so unauslöschlicher Mißachtung verfällt. Das ganze soziale Leben Deutschlands ist von der Idee getränkt, daß der Mensch nicht vom Brot allein leben könne, daß er noch höhere Bedürfnisse habe als solche, die durch Geld befriedigt werden können. Infolge dessen kenne ich auch kein Land, in dem unsinniger Luxus und gemeine Prunksucht in geringerem Maße gefunden würde. Über die religiösen und sittlichen Zustände unsers Vaterlandes herrschen in Amerika die entgegengesetztesten Anschauungen. Einesteils hält man Deutschland in völligen Skeptizismus versunken, andernteils glaubt man an die Rückkehr des Volkes vom frühern Rationalismus zur striktesten Orthodoxie. Beide Annahmen sind nach der dreißigjährigen Erfahrung des Verfassers unrichtig. In längerer Auseinandersetzung spricht er seine Ansicht dahin aus, daß die Deutschen der Masse nach in der That tief religiös seien. „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen," bemerkt Herr White. „In keinem Lande giebt es ein reineres Familienleben, in keinem werden die Rechte des Individuums höher gehalten, nirgends wird der Ruf des Einzelnen mehr von der Presse geachtet, nirgends werden Privatgeschäfte sicherer und die Staatsgeschäfte so redlich be¬ trieben; in keinem andern Lande werden Wissenschaft, Literatur und Kunst mit so hohem und reinem Sinn gepflegt, nirgends wird die heranwachsende Jugend durch Verbreitung öffentlicher Ärgernisse weniger vergiftet, nirgends begegnet man weniger Unehrerbietigkeit und Spottsucht, in keinem Lande findet sich weniger Trunksucht, Schurkerei und Verbrechen." In seinen Schlußsätzen zieht der Verfasser seine Folgerungen für die Zukunft. Betrachten wir Deutschland zunächst vom historischen Standpunkte. Eine Fülle von zivilisatorischer Elementen hat sich entwickelt — ideale und reale, theoretische und praktische, ästhetische und alltägliche, bürgerliche und militärische, wissenschaft¬ liche und literarische, religiöse und sittliche, autokratische und demokratische, aristo-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_153446/451>, abgerufen am 08.09.2024.