Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Friedrich Schlegel.

Naturphilosophie Ludovico-Schelling, welcher in der "Rede über die Mythologie"
unsern ganzen Nachteil gegenüber den Dichtern der Alten in die Worte zu¬
sammenfaßt: "Wir haben keine Mythologie!" Eine neue Mythologie aber wird
aus dem Studium der Physik, d. i. der Naturphilosophie, erwartet; und um
ihre Entstehung zu beschleunigen, empfiehlt Schlegel nicht bloß die Wieder¬
erweckung der Mythologie des klassischen Altertums und andrer Mythologien,
welche wir voll von Spinoza und den Ansichten der neuern Physik betrachten
sollten, sondern er richtet seinen Blick auch auf Indien hin und eröffnet eine
neue Quelle der Poesie mit den Worten: "Im Orient müssen wir das höchste
Romantische suchen."

Hiermit sind Nur deutlich in Schlegels folgende Periode, in die Zeit seines
Pariser Aufenthalts, hinübergewiesen, während dessen die orientalischen Studien
und der Gedanke einer Verbindung der Eisenkraft des Nordens mit der Lichtglut des
Orients sein Hauptaugenmerk bildeten. Mit einer Reihe großer Versprechungen,
Paradoxen und literarischer Übermütigkeiten schied er ans Deutschland. Das
Athenäum, welches hauptsächlich seiner UnVerständlichkeit wegen angegriffen wurde,
schloß er mit einer Fuge vou Ironie "Über die UnVerständlichkeit," in welcher er
diese als die größte Tugend feiert, auf welcher das Heil der Familien, Staaten und
Nationen, ja selbst die innere Zufriedenheit beruhe, während die platte Verständ¬
lichkeit der Aufklärung die wahre UnVerständlichkeit sei. Wie zum Hohne seiner
Gegner, besonders Nikolais, wiederholt er die am meisten angegriffenen Fragmente
von den drei Tendenzen und der Ironie. Seinen Abschied von der Kritik und
zugleich eine Rechtfertigung seiner kritischen Thätigkeit enthält der "Abschluß des
Aufsatzes über Lessing," der sich freilich mir in zweiter Linie mit Lessing, in
erster mit Friedrich Schlegel selber beschäftigt. Die Polemik, welche seine Phi¬
losophie und sein Leben rechtfertigen sollten, erscheint hier als notwendiges Be¬
dürfnis der "Encyclopädie," welche die Quelle objektiver Gesetze für die positive
Kritik sei, und welche also nichts andres ist als der alte Gedanke einer Natur¬
geschichte der Dichtung, aber nicht mehr auf Grundlagen einer griechischen, son¬
dern nach der Weiterentwicklung seiner Ideen in dem "Gespräche über Poesie"
auf Grundlage einer Geschichte der Dichtung überhaupt. Und das sind auch
die beiden großen Werke, welche Friedrich Schlegel für die Folgezeit in Aus¬
sicht nimmt: eine Geschichte der Dichtkunst und eine Kritik der Philosophie.
Die erste ist in den Wiener Vorlesungen zu Tage getreten; die zweite steht mit
den Vorlesungen in Verbindung, welche er erst als Dozent an der Universität
in Jena auf dem Katheder Reinholds, Fichtes, Schillers und Schellings und
dann privatim in Paris und Köln vor den Brüdern Boisseree und einem größern
Publikum hielt.




Friedrich Schlegel.

Naturphilosophie Ludovico-Schelling, welcher in der „Rede über die Mythologie"
unsern ganzen Nachteil gegenüber den Dichtern der Alten in die Worte zu¬
sammenfaßt: „Wir haben keine Mythologie!" Eine neue Mythologie aber wird
aus dem Studium der Physik, d. i. der Naturphilosophie, erwartet; und um
ihre Entstehung zu beschleunigen, empfiehlt Schlegel nicht bloß die Wieder¬
erweckung der Mythologie des klassischen Altertums und andrer Mythologien,
welche wir voll von Spinoza und den Ansichten der neuern Physik betrachten
sollten, sondern er richtet seinen Blick auch auf Indien hin und eröffnet eine
neue Quelle der Poesie mit den Worten: „Im Orient müssen wir das höchste
Romantische suchen."

Hiermit sind Nur deutlich in Schlegels folgende Periode, in die Zeit seines
Pariser Aufenthalts, hinübergewiesen, während dessen die orientalischen Studien
und der Gedanke einer Verbindung der Eisenkraft des Nordens mit der Lichtglut des
Orients sein Hauptaugenmerk bildeten. Mit einer Reihe großer Versprechungen,
Paradoxen und literarischer Übermütigkeiten schied er ans Deutschland. Das
Athenäum, welches hauptsächlich seiner UnVerständlichkeit wegen angegriffen wurde,
schloß er mit einer Fuge vou Ironie „Über die UnVerständlichkeit," in welcher er
diese als die größte Tugend feiert, auf welcher das Heil der Familien, Staaten und
Nationen, ja selbst die innere Zufriedenheit beruhe, während die platte Verständ¬
lichkeit der Aufklärung die wahre UnVerständlichkeit sei. Wie zum Hohne seiner
Gegner, besonders Nikolais, wiederholt er die am meisten angegriffenen Fragmente
von den drei Tendenzen und der Ironie. Seinen Abschied von der Kritik und
zugleich eine Rechtfertigung seiner kritischen Thätigkeit enthält der „Abschluß des
Aufsatzes über Lessing," der sich freilich mir in zweiter Linie mit Lessing, in
erster mit Friedrich Schlegel selber beschäftigt. Die Polemik, welche seine Phi¬
losophie und sein Leben rechtfertigen sollten, erscheint hier als notwendiges Be¬
dürfnis der „Encyclopädie," welche die Quelle objektiver Gesetze für die positive
Kritik sei, und welche also nichts andres ist als der alte Gedanke einer Natur¬
geschichte der Dichtung, aber nicht mehr auf Grundlagen einer griechischen, son¬
dern nach der Weiterentwicklung seiner Ideen in dem „Gespräche über Poesie"
auf Grundlage einer Geschichte der Dichtung überhaupt. Und das sind auch
die beiden großen Werke, welche Friedrich Schlegel für die Folgezeit in Aus¬
sicht nimmt: eine Geschichte der Dichtkunst und eine Kritik der Philosophie.
Die erste ist in den Wiener Vorlesungen zu Tage getreten; die zweite steht mit
den Vorlesungen in Verbindung, welche er erst als Dozent an der Universität
in Jena auf dem Katheder Reinholds, Fichtes, Schillers und Schellings und
dann privatim in Paris und Köln vor den Brüdern Boisseree und einem größern
Publikum hielt.




<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0356" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/153803"/>
          <fw type="header" place="top"> Friedrich Schlegel.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1519" prev="#ID_1518"> Naturphilosophie Ludovico-Schelling, welcher in der &#x201E;Rede über die Mythologie"<lb/>
unsern ganzen Nachteil gegenüber den Dichtern der Alten in die Worte zu¬<lb/>
sammenfaßt: &#x201E;Wir haben keine Mythologie!" Eine neue Mythologie aber wird<lb/>
aus dem Studium der Physik, d. i. der Naturphilosophie, erwartet; und um<lb/>
ihre Entstehung zu beschleunigen, empfiehlt Schlegel nicht bloß die Wieder¬<lb/>
erweckung der Mythologie des klassischen Altertums und andrer Mythologien,<lb/>
welche wir voll von Spinoza und den Ansichten der neuern Physik betrachten<lb/>
sollten, sondern er richtet seinen Blick auch auf Indien hin und eröffnet eine<lb/>
neue Quelle der Poesie mit den Worten: &#x201E;Im Orient müssen wir das höchste<lb/>
Romantische suchen."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1520"> Hiermit sind Nur deutlich in Schlegels folgende Periode, in die Zeit seines<lb/>
Pariser Aufenthalts, hinübergewiesen, während dessen die orientalischen Studien<lb/>
und der Gedanke einer Verbindung der Eisenkraft des Nordens mit der Lichtglut des<lb/>
Orients sein Hauptaugenmerk bildeten. Mit einer Reihe großer Versprechungen,<lb/>
Paradoxen und literarischer Übermütigkeiten schied er ans Deutschland. Das<lb/>
Athenäum, welches hauptsächlich seiner UnVerständlichkeit wegen angegriffen wurde,<lb/>
schloß er mit einer Fuge vou Ironie &#x201E;Über die UnVerständlichkeit," in welcher er<lb/>
diese als die größte Tugend feiert, auf welcher das Heil der Familien, Staaten und<lb/>
Nationen, ja selbst die innere Zufriedenheit beruhe, während die platte Verständ¬<lb/>
lichkeit der Aufklärung die wahre UnVerständlichkeit sei. Wie zum Hohne seiner<lb/>
Gegner, besonders Nikolais, wiederholt er die am meisten angegriffenen Fragmente<lb/>
von den drei Tendenzen und der Ironie. Seinen Abschied von der Kritik und<lb/>
zugleich eine Rechtfertigung seiner kritischen Thätigkeit enthält der &#x201E;Abschluß des<lb/>
Aufsatzes über Lessing," der sich freilich mir in zweiter Linie mit Lessing, in<lb/>
erster mit Friedrich Schlegel selber beschäftigt. Die Polemik, welche seine Phi¬<lb/>
losophie und sein Leben rechtfertigen sollten, erscheint hier als notwendiges Be¬<lb/>
dürfnis der &#x201E;Encyclopädie," welche die Quelle objektiver Gesetze für die positive<lb/>
Kritik sei, und welche also nichts andres ist als der alte Gedanke einer Natur¬<lb/>
geschichte der Dichtung, aber nicht mehr auf Grundlagen einer griechischen, son¬<lb/>
dern nach der Weiterentwicklung seiner Ideen in dem &#x201E;Gespräche über Poesie"<lb/>
auf Grundlage einer Geschichte der Dichtung überhaupt. Und das sind auch<lb/>
die beiden großen Werke, welche Friedrich Schlegel für die Folgezeit in Aus¬<lb/>
sicht nimmt: eine Geschichte der Dichtkunst und eine Kritik der Philosophie.<lb/>
Die erste ist in den Wiener Vorlesungen zu Tage getreten; die zweite steht mit<lb/>
den Vorlesungen in Verbindung, welche er erst als Dozent an der Universität<lb/>
in Jena auf dem Katheder Reinholds, Fichtes, Schillers und Schellings und<lb/>
dann privatim in Paris und Köln vor den Brüdern Boisseree und einem größern<lb/>
Publikum hielt.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0356] Friedrich Schlegel. Naturphilosophie Ludovico-Schelling, welcher in der „Rede über die Mythologie" unsern ganzen Nachteil gegenüber den Dichtern der Alten in die Worte zu¬ sammenfaßt: „Wir haben keine Mythologie!" Eine neue Mythologie aber wird aus dem Studium der Physik, d. i. der Naturphilosophie, erwartet; und um ihre Entstehung zu beschleunigen, empfiehlt Schlegel nicht bloß die Wieder¬ erweckung der Mythologie des klassischen Altertums und andrer Mythologien, welche wir voll von Spinoza und den Ansichten der neuern Physik betrachten sollten, sondern er richtet seinen Blick auch auf Indien hin und eröffnet eine neue Quelle der Poesie mit den Worten: „Im Orient müssen wir das höchste Romantische suchen." Hiermit sind Nur deutlich in Schlegels folgende Periode, in die Zeit seines Pariser Aufenthalts, hinübergewiesen, während dessen die orientalischen Studien und der Gedanke einer Verbindung der Eisenkraft des Nordens mit der Lichtglut des Orients sein Hauptaugenmerk bildeten. Mit einer Reihe großer Versprechungen, Paradoxen und literarischer Übermütigkeiten schied er ans Deutschland. Das Athenäum, welches hauptsächlich seiner UnVerständlichkeit wegen angegriffen wurde, schloß er mit einer Fuge vou Ironie „Über die UnVerständlichkeit," in welcher er diese als die größte Tugend feiert, auf welcher das Heil der Familien, Staaten und Nationen, ja selbst die innere Zufriedenheit beruhe, während die platte Verständ¬ lichkeit der Aufklärung die wahre UnVerständlichkeit sei. Wie zum Hohne seiner Gegner, besonders Nikolais, wiederholt er die am meisten angegriffenen Fragmente von den drei Tendenzen und der Ironie. Seinen Abschied von der Kritik und zugleich eine Rechtfertigung seiner kritischen Thätigkeit enthält der „Abschluß des Aufsatzes über Lessing," der sich freilich mir in zweiter Linie mit Lessing, in erster mit Friedrich Schlegel selber beschäftigt. Die Polemik, welche seine Phi¬ losophie und sein Leben rechtfertigen sollten, erscheint hier als notwendiges Be¬ dürfnis der „Encyclopädie," welche die Quelle objektiver Gesetze für die positive Kritik sei, und welche also nichts andres ist als der alte Gedanke einer Natur¬ geschichte der Dichtung, aber nicht mehr auf Grundlagen einer griechischen, son¬ dern nach der Weiterentwicklung seiner Ideen in dem „Gespräche über Poesie" auf Grundlage einer Geschichte der Dichtung überhaupt. Und das sind auch die beiden großen Werke, welche Friedrich Schlegel für die Folgezeit in Aus¬ sicht nimmt: eine Geschichte der Dichtkunst und eine Kritik der Philosophie. Die erste ist in den Wiener Vorlesungen zu Tage getreten; die zweite steht mit den Vorlesungen in Verbindung, welche er erst als Dozent an der Universität in Jena auf dem Katheder Reinholds, Fichtes, Schillers und Schellings und dann privatim in Paris und Köln vor den Brüdern Boisseree und einem größern Publikum hielt.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_153446
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_153446/356
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_153446/356>, abgerufen am 08.09.2024.