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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal.

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Friedrich Schlegel.

überhaupt, nicht mehr bloß die Geschichte der griechische" Poesie im besondern,
enthält die Regeln für die Dichtung. Kurz, der Aufsatz über die Epochen der
Dichtkunst steht als Vorläufer zu deu Vorlesungen, welche Schlegel im Jahre
1812 in Wien über Geschichte der alten und neuen Poesie hielt, in demselben
Verhältnisse, in welchem die Schrift über das Studium zu der Geschichte der
griechischen Poesie steht. Was die neue deutsche Literatur betrifft, so wird jetzt
Schiller ganz ignorirt und die Bedeutung Goethes über ihn selbst hinaus in
feine Schule verlegt. Von dieser Seite schließt sich der dem Stilisten des Kreises,
seinem Bruder Markus-Wilhelm, in den Mund gelegte "Versuch über den ver-
schiednen Stil in Goethes frühern und spätern Werken" an. Goethes Poesie
(so heißt es hier) umfaßt die ganze Poesie des Alten und Moderne" und
ist durchaus progressiv, sie enthält den Keim eines ewige" Fortschreitens.
Gerade diese universelle Tendenz, die progressiven Maximen müsse man sich
z" eigen machen; man müsse wie Goethe nach Ideen dichten. Auf diese Weise
würde Goethe der Stifter und das Haupt einer neuen Schule sein, worunter
der Vortragende natürlich die romcuitische versteht. Aus den Begriff der Schule,
des kuustmäßigeu Erlernens kommt Friedrich Schlegel hier überhaupt wieder¬
holt zurück; zu einer Zeit, wo er selbst vom Bruder Wilhelm die ersten technischen
Kunstgriffe des dichterische" Handwerkes erlernte, berührt er sogar den Unterschied
der Dichtungsarten, in welche der vage Begriff der Poesie eingeschränkt werden
müsse. Neben der Geschichte der Dichtung fordert er Schulen der Dichtung in
dem Sinne, wie eine solche im Hause feines Bruders bestand, und Theorie" der
verschiednen Dichtarten. Den Verfasser der Lucindebriefe läßt er einen "Brief über
den Roman" zur Vorlesung bringe", der vielfach mit Schleiermachers Ansichten
über den Roman und das Drama zusammenstimmt. Positives über die Theorie
des Romans erfahren wir freilich wenig, und wieder scheitert Schlegel bei diesem
Punkte an der Unklarheit seines Denkens, indem der Roman und das Romantische,
das Element der Dichtung und die Dichtungsart beständig durcheinander geworfen
werden. Während auf diese Weise der Roman einmal dein Drama entgegengesetzt
wird, wird ein andersmal auch vom Drama verlangt, daß es el" Roman (d. h. eine
romantische Dichtung) sei. Gerade so wie in der bald darauf entstandenen
glänzenden Charakteristik des Boccaccio Schlegel eben im besten Zuge ist, die
Theorie der Novelle zu entwickeln und gleich darauf Shakespeares Romeo und
Julie als dramatisirte Novelle mit in Betrachtung zieht. Und wie Schlegels
Charakteristik des Romans sowohl wie der Novelle letztlich in den allgemeinen
und unbestimmten Begriff des Romantischen zerfließen, so darf es uus auch
nicht wundern, daß sich in dem Aufsatze über Boccaccio die Novelle, das
"wilde Naturgewächs der neuern Poesie," als die eigentliche romantische
Dichtmigsart herausstellt. So wenig gelingt es ihn:, sich in formeller Be¬
ziehung über die romantische Dichtung klar zu werde"; und was ihren Inhalt
betrifft, so überläßt er hier das Wort fast ganz und gar dem Begründer der


Friedrich Schlegel.

überhaupt, nicht mehr bloß die Geschichte der griechische» Poesie im besondern,
enthält die Regeln für die Dichtung. Kurz, der Aufsatz über die Epochen der
Dichtkunst steht als Vorläufer zu deu Vorlesungen, welche Schlegel im Jahre
1812 in Wien über Geschichte der alten und neuen Poesie hielt, in demselben
Verhältnisse, in welchem die Schrift über das Studium zu der Geschichte der
griechischen Poesie steht. Was die neue deutsche Literatur betrifft, so wird jetzt
Schiller ganz ignorirt und die Bedeutung Goethes über ihn selbst hinaus in
feine Schule verlegt. Von dieser Seite schließt sich der dem Stilisten des Kreises,
seinem Bruder Markus-Wilhelm, in den Mund gelegte „Versuch über den ver-
schiednen Stil in Goethes frühern und spätern Werken" an. Goethes Poesie
(so heißt es hier) umfaßt die ganze Poesie des Alten und Moderne» und
ist durchaus progressiv, sie enthält den Keim eines ewige» Fortschreitens.
Gerade diese universelle Tendenz, die progressiven Maximen müsse man sich
z» eigen machen; man müsse wie Goethe nach Ideen dichten. Auf diese Weise
würde Goethe der Stifter und das Haupt einer neuen Schule sein, worunter
der Vortragende natürlich die romcuitische versteht. Aus den Begriff der Schule,
des kuustmäßigeu Erlernens kommt Friedrich Schlegel hier überhaupt wieder¬
holt zurück; zu einer Zeit, wo er selbst vom Bruder Wilhelm die ersten technischen
Kunstgriffe des dichterische» Handwerkes erlernte, berührt er sogar den Unterschied
der Dichtungsarten, in welche der vage Begriff der Poesie eingeschränkt werden
müsse. Neben der Geschichte der Dichtung fordert er Schulen der Dichtung in
dem Sinne, wie eine solche im Hause feines Bruders bestand, und Theorie» der
verschiednen Dichtarten. Den Verfasser der Lucindebriefe läßt er einen „Brief über
den Roman" zur Vorlesung bringe», der vielfach mit Schleiermachers Ansichten
über den Roman und das Drama zusammenstimmt. Positives über die Theorie
des Romans erfahren wir freilich wenig, und wieder scheitert Schlegel bei diesem
Punkte an der Unklarheit seines Denkens, indem der Roman und das Romantische,
das Element der Dichtung und die Dichtungsart beständig durcheinander geworfen
werden. Während auf diese Weise der Roman einmal dein Drama entgegengesetzt
wird, wird ein andersmal auch vom Drama verlangt, daß es el» Roman (d. h. eine
romantische Dichtung) sei. Gerade so wie in der bald darauf entstandenen
glänzenden Charakteristik des Boccaccio Schlegel eben im besten Zuge ist, die
Theorie der Novelle zu entwickeln und gleich darauf Shakespeares Romeo und
Julie als dramatisirte Novelle mit in Betrachtung zieht. Und wie Schlegels
Charakteristik des Romans sowohl wie der Novelle letztlich in den allgemeinen
und unbestimmten Begriff des Romantischen zerfließen, so darf es uus auch
nicht wundern, daß sich in dem Aufsatze über Boccaccio die Novelle, das
„wilde Naturgewächs der neuern Poesie," als die eigentliche romantische
Dichtmigsart herausstellt. So wenig gelingt es ihn:, sich in formeller Be¬
ziehung über die romantische Dichtung klar zu werde»; und was ihren Inhalt
betrifft, so überläßt er hier das Wort fast ganz und gar dem Begründer der


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[0355] Friedrich Schlegel. überhaupt, nicht mehr bloß die Geschichte der griechische» Poesie im besondern, enthält die Regeln für die Dichtung. Kurz, der Aufsatz über die Epochen der Dichtkunst steht als Vorläufer zu deu Vorlesungen, welche Schlegel im Jahre 1812 in Wien über Geschichte der alten und neuen Poesie hielt, in demselben Verhältnisse, in welchem die Schrift über das Studium zu der Geschichte der griechischen Poesie steht. Was die neue deutsche Literatur betrifft, so wird jetzt Schiller ganz ignorirt und die Bedeutung Goethes über ihn selbst hinaus in feine Schule verlegt. Von dieser Seite schließt sich der dem Stilisten des Kreises, seinem Bruder Markus-Wilhelm, in den Mund gelegte „Versuch über den ver- schiednen Stil in Goethes frühern und spätern Werken" an. Goethes Poesie (so heißt es hier) umfaßt die ganze Poesie des Alten und Moderne» und ist durchaus progressiv, sie enthält den Keim eines ewige» Fortschreitens. Gerade diese universelle Tendenz, die progressiven Maximen müsse man sich z» eigen machen; man müsse wie Goethe nach Ideen dichten. Auf diese Weise würde Goethe der Stifter und das Haupt einer neuen Schule sein, worunter der Vortragende natürlich die romcuitische versteht. Aus den Begriff der Schule, des kuustmäßigeu Erlernens kommt Friedrich Schlegel hier überhaupt wieder¬ holt zurück; zu einer Zeit, wo er selbst vom Bruder Wilhelm die ersten technischen Kunstgriffe des dichterische» Handwerkes erlernte, berührt er sogar den Unterschied der Dichtungsarten, in welche der vage Begriff der Poesie eingeschränkt werden müsse. Neben der Geschichte der Dichtung fordert er Schulen der Dichtung in dem Sinne, wie eine solche im Hause feines Bruders bestand, und Theorie» der verschiednen Dichtarten. Den Verfasser der Lucindebriefe läßt er einen „Brief über den Roman" zur Vorlesung bringe», der vielfach mit Schleiermachers Ansichten über den Roman und das Drama zusammenstimmt. Positives über die Theorie des Romans erfahren wir freilich wenig, und wieder scheitert Schlegel bei diesem Punkte an der Unklarheit seines Denkens, indem der Roman und das Romantische, das Element der Dichtung und die Dichtungsart beständig durcheinander geworfen werden. Während auf diese Weise der Roman einmal dein Drama entgegengesetzt wird, wird ein andersmal auch vom Drama verlangt, daß es el» Roman (d. h. eine romantische Dichtung) sei. Gerade so wie in der bald darauf entstandenen glänzenden Charakteristik des Boccaccio Schlegel eben im besten Zuge ist, die Theorie der Novelle zu entwickeln und gleich darauf Shakespeares Romeo und Julie als dramatisirte Novelle mit in Betrachtung zieht. Und wie Schlegels Charakteristik des Romans sowohl wie der Novelle letztlich in den allgemeinen und unbestimmten Begriff des Romantischen zerfließen, so darf es uus auch nicht wundern, daß sich in dem Aufsatze über Boccaccio die Novelle, das „wilde Naturgewächs der neuern Poesie," als die eigentliche romantische Dichtmigsart herausstellt. So wenig gelingt es ihn:, sich in formeller Be¬ ziehung über die romantische Dichtung klar zu werde»; und was ihren Inhalt betrifft, so überläßt er hier das Wort fast ganz und gar dem Begründer der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_153446/355>, abgerufen am 08.09.2024.