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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal.

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Friedrich Schlegel.

fällt ihm garnicht ein, an dem poetischen Inhalt seiner Verse zu zweifeln oder
zu bedenken, ob denn auch Fluß und Wärme in dem Ganzen sei. In der
That bleiben alle diese Reime und künstlichen Strophengebäude dem Ohre tot;
die Verse, steif und ungelenk, entbehren der Melodie, dürr und kalt sind diese
Treibhauspflanzen, einem kalten Geist entsprungen, dem die Musen keines ihrer
Geschenke in die Wiege gelegt haben. Diese Dichtung kommt vom Verstände,
sie ist aus keinem Herzen geflossen und klingt in keinem Herzen an. Mit seiner
Tragödie Alarcos war Schlegel nicht glücklicher. Der steife, gespreizte Glieder¬
mann, welcher in vollem Pathos den Tyrannen agirt, wurde trotz Goethes
Abwehr in Weimar ausgelacht. Alle die hundert überflüssigen Künstlichsten
und Spielereien im Verse, welche vorhanden sind, vermögen für die notwendigen
Eigenschaften, welche nicht vorhanden sind, keinen Ersatz zu bieten; denn es
fehlt nicht mehr und nicht weniger als alles, was ein Buch zum Drama oder
zum Gedicht macht.

Aus solchen dilettantischen Arbeiten auf einem ihm ewig verschlossenen Ge>
biete raffte sich Friedrich Schlegel noch einmal zu einer bedeutenden Mani¬
festation seines Geistes ans: in dem "Gespräch über Poesie." Wie sein Bruder
Wilhelm in den Gemäldegesprächen, wie Tieck noch viel später in der Einleitung
des Phantasus, führt er uns hier mitten in den geselligen, von geistreichen Ge¬
sprächen und Vorlesungen belebten Jenenser Kreis der Romantiker, den er dnrch
den nur im Geiste anwesenden Schleiermacher und die nur ab und zu ein¬
sprechende Autorität von Lothario-Goethe vermehrt. Jeder der drei Genossen
des Kreises trägt hier in einer längern Auseinandersetzung seine Lieblingsideen
vor, an welche sich eine zwar wilde und ungeregelte, trotz ihrer abspringenden
Art aber nicht unfruchtbare Debatte schließt. Zuerst ergreift, wie es sich ge¬
hört, Friedrich selbst in einem Vortrage über die Epochen 'der Dichtkunst das
Wort, welcher als eine Modifikation seiner Schrift "Über das Studium der
griechischen Dichtung" gelten muß. Als er an der letztern schrieb, war ihn.
eigentlich nur die griechische Dichtung selbst, von der modernen aber nur die
Dichtung Goethes bekannt; zwischen beiden schlug er in aller Eile eine fliegende
Brücke, und wir erinnern uns, wie er dabei mit sich selbst in Widerspruch ge¬
riet. In Jena hatte Friedrich, wovon bald sein Aufsatz über Boccaccio ein
schönes Zeugnis ablegen sollte, die romantischen Dichter genauer kennen ge¬
lernt; mit viel größern Kenntnissen ausgestattet, versucht er hier eine Rekapitu¬
lation der Ideen des frühern Aufsatzes, wobei die Widersprüche ausgeglichen,
die Irrtümer desselben vermiede", werden sollten. Aber anch der Gesichtspunkt
selbst war jetzt ein andrer geworden. Früher lautete der Grundsatz: "Geschichte
der griechischen Dichtung ist Naturgeschichte, Wissenschaft der Dichtung über¬
haupt"; jetzt steht Schlegel auf dem weitern Standpunkt einer allgemeinen
Dichtungsgeschichte, indem er sagt: "Poesie ist Kunst, die Kunst ruht auf dem
Wissen, die Wissenschaft der Kunst ist ihre Geschichte." Die Geschichte der Poesie


Friedrich Schlegel.

fällt ihm garnicht ein, an dem poetischen Inhalt seiner Verse zu zweifeln oder
zu bedenken, ob denn auch Fluß und Wärme in dem Ganzen sei. In der
That bleiben alle diese Reime und künstlichen Strophengebäude dem Ohre tot;
die Verse, steif und ungelenk, entbehren der Melodie, dürr und kalt sind diese
Treibhauspflanzen, einem kalten Geist entsprungen, dem die Musen keines ihrer
Geschenke in die Wiege gelegt haben. Diese Dichtung kommt vom Verstände,
sie ist aus keinem Herzen geflossen und klingt in keinem Herzen an. Mit seiner
Tragödie Alarcos war Schlegel nicht glücklicher. Der steife, gespreizte Glieder¬
mann, welcher in vollem Pathos den Tyrannen agirt, wurde trotz Goethes
Abwehr in Weimar ausgelacht. Alle die hundert überflüssigen Künstlichsten
und Spielereien im Verse, welche vorhanden sind, vermögen für die notwendigen
Eigenschaften, welche nicht vorhanden sind, keinen Ersatz zu bieten; denn es
fehlt nicht mehr und nicht weniger als alles, was ein Buch zum Drama oder
zum Gedicht macht.

Aus solchen dilettantischen Arbeiten auf einem ihm ewig verschlossenen Ge>
biete raffte sich Friedrich Schlegel noch einmal zu einer bedeutenden Mani¬
festation seines Geistes ans: in dem „Gespräch über Poesie." Wie sein Bruder
Wilhelm in den Gemäldegesprächen, wie Tieck noch viel später in der Einleitung
des Phantasus, führt er uns hier mitten in den geselligen, von geistreichen Ge¬
sprächen und Vorlesungen belebten Jenenser Kreis der Romantiker, den er dnrch
den nur im Geiste anwesenden Schleiermacher und die nur ab und zu ein¬
sprechende Autorität von Lothario-Goethe vermehrt. Jeder der drei Genossen
des Kreises trägt hier in einer längern Auseinandersetzung seine Lieblingsideen
vor, an welche sich eine zwar wilde und ungeregelte, trotz ihrer abspringenden
Art aber nicht unfruchtbare Debatte schließt. Zuerst ergreift, wie es sich ge¬
hört, Friedrich selbst in einem Vortrage über die Epochen 'der Dichtkunst das
Wort, welcher als eine Modifikation seiner Schrift „Über das Studium der
griechischen Dichtung" gelten muß. Als er an der letztern schrieb, war ihn.
eigentlich nur die griechische Dichtung selbst, von der modernen aber nur die
Dichtung Goethes bekannt; zwischen beiden schlug er in aller Eile eine fliegende
Brücke, und wir erinnern uns, wie er dabei mit sich selbst in Widerspruch ge¬
riet. In Jena hatte Friedrich, wovon bald sein Aufsatz über Boccaccio ein
schönes Zeugnis ablegen sollte, die romantischen Dichter genauer kennen ge¬
lernt; mit viel größern Kenntnissen ausgestattet, versucht er hier eine Rekapitu¬
lation der Ideen des frühern Aufsatzes, wobei die Widersprüche ausgeglichen,
die Irrtümer desselben vermiede», werden sollten. Aber anch der Gesichtspunkt
selbst war jetzt ein andrer geworden. Früher lautete der Grundsatz: „Geschichte
der griechischen Dichtung ist Naturgeschichte, Wissenschaft der Dichtung über¬
haupt"; jetzt steht Schlegel auf dem weitern Standpunkt einer allgemeinen
Dichtungsgeschichte, indem er sagt: „Poesie ist Kunst, die Kunst ruht auf dem
Wissen, die Wissenschaft der Kunst ist ihre Geschichte." Die Geschichte der Poesie


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[0354] Friedrich Schlegel. fällt ihm garnicht ein, an dem poetischen Inhalt seiner Verse zu zweifeln oder zu bedenken, ob denn auch Fluß und Wärme in dem Ganzen sei. In der That bleiben alle diese Reime und künstlichen Strophengebäude dem Ohre tot; die Verse, steif und ungelenk, entbehren der Melodie, dürr und kalt sind diese Treibhauspflanzen, einem kalten Geist entsprungen, dem die Musen keines ihrer Geschenke in die Wiege gelegt haben. Diese Dichtung kommt vom Verstände, sie ist aus keinem Herzen geflossen und klingt in keinem Herzen an. Mit seiner Tragödie Alarcos war Schlegel nicht glücklicher. Der steife, gespreizte Glieder¬ mann, welcher in vollem Pathos den Tyrannen agirt, wurde trotz Goethes Abwehr in Weimar ausgelacht. Alle die hundert überflüssigen Künstlichsten und Spielereien im Verse, welche vorhanden sind, vermögen für die notwendigen Eigenschaften, welche nicht vorhanden sind, keinen Ersatz zu bieten; denn es fehlt nicht mehr und nicht weniger als alles, was ein Buch zum Drama oder zum Gedicht macht. Aus solchen dilettantischen Arbeiten auf einem ihm ewig verschlossenen Ge> biete raffte sich Friedrich Schlegel noch einmal zu einer bedeutenden Mani¬ festation seines Geistes ans: in dem „Gespräch über Poesie." Wie sein Bruder Wilhelm in den Gemäldegesprächen, wie Tieck noch viel später in der Einleitung des Phantasus, führt er uns hier mitten in den geselligen, von geistreichen Ge¬ sprächen und Vorlesungen belebten Jenenser Kreis der Romantiker, den er dnrch den nur im Geiste anwesenden Schleiermacher und die nur ab und zu ein¬ sprechende Autorität von Lothario-Goethe vermehrt. Jeder der drei Genossen des Kreises trägt hier in einer längern Auseinandersetzung seine Lieblingsideen vor, an welche sich eine zwar wilde und ungeregelte, trotz ihrer abspringenden Art aber nicht unfruchtbare Debatte schließt. Zuerst ergreift, wie es sich ge¬ hört, Friedrich selbst in einem Vortrage über die Epochen 'der Dichtkunst das Wort, welcher als eine Modifikation seiner Schrift „Über das Studium der griechischen Dichtung" gelten muß. Als er an der letztern schrieb, war ihn. eigentlich nur die griechische Dichtung selbst, von der modernen aber nur die Dichtung Goethes bekannt; zwischen beiden schlug er in aller Eile eine fliegende Brücke, und wir erinnern uns, wie er dabei mit sich selbst in Widerspruch ge¬ riet. In Jena hatte Friedrich, wovon bald sein Aufsatz über Boccaccio ein schönes Zeugnis ablegen sollte, die romantischen Dichter genauer kennen ge¬ lernt; mit viel größern Kenntnissen ausgestattet, versucht er hier eine Rekapitu¬ lation der Ideen des frühern Aufsatzes, wobei die Widersprüche ausgeglichen, die Irrtümer desselben vermiede», werden sollten. Aber anch der Gesichtspunkt selbst war jetzt ein andrer geworden. Früher lautete der Grundsatz: „Geschichte der griechischen Dichtung ist Naturgeschichte, Wissenschaft der Dichtung über¬ haupt"; jetzt steht Schlegel auf dem weitern Standpunkt einer allgemeinen Dichtungsgeschichte, indem er sagt: „Poesie ist Kunst, die Kunst ruht auf dem Wissen, die Wissenschaft der Kunst ist ihre Geschichte." Die Geschichte der Poesie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_153446/354>, abgerufen am 08.09.2024.