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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal.

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Friedrich Schlegel.

bilden als den Sinn und die Fähigkeit, nach dem Unendlichen und Heiligen zu
strebein

Die Freundin, in welcher Schlegel sein Ideal der "Göttlichkeit mit Härte"
verwirklicht fand, ist auch das Urbild seines berüchtigten Romans, der Lucinde.
Aus den Berliner Judenkreisen, an welche sie ein ungeliebter Gatte und zwei
unmündige Söhne nicht länger fesseln konnten, riß sich die Tochter Moses
Mendelssohns los und folgte dem Manne ihrer Wahl, ihrem geliebten, an¬
gebeteten Friedrich, welchem sie zeitlebens mit größerer Aufopferung gedient hat,
als sich mit den Schlegelschen Ideen von wiederhergestellter Menschlichkeit des
Weibes zu vertragen schien. Zu dem Skandale, welchen die Scheidung Doro-
theens von ihrem Gatten verursachte, fügte Schlegel einen neuen, indem er ihre
Liebe in der unbekümmertsten und leichtfertigsten Gestalt vor den Augen des
Publikums bloßstellte. In den Berliner Gesellschaftskreisen, und nicht bloß in
den jüdischen, waren sogenannte Vernunftheiraten, bei welchen der Wille der
minderjährigen Frau übervorteilt wurde/an der Tagesordnung; Schlegel er¬
klärte nicht bloß die Heiraten ohne Liebe, sondern alle bestehenden Ehen für
Kvnknbinate, für bloße Versuche zweier Personen, eine Ehe mit einander ein¬
zugehen, und stellte die freie Liebe in der Lucinde als die wahre Ehe hin. Wie
aber bei ihm immer die eine Maßlosigkeit die andre erzeugt, so wird hier nicht
bloß die "göttliche Wollust," sondern auch der Müßiggang, die göttliche Faul¬
heit bis zur Kunst und Wissenschaft, ja bis zur Religion ausgebildet, und als
das höchste, vollendetste Leben ein reines Vegetiren hingestellt, welches jede
moralische Erziehung von sich abwehrt. Kann man den Inhalt der Lucinde
von einer Seite als begreiflichen, ja sogar nützlichen und notwendigen Rück¬
schlag betrachten, so findet der Ton, in welchem sich dieser Emanzipationsrvman
gefällt, weder vor dem ästhetischen noch dem moralischen Forum eine Entschul¬
digung. Geflissentlich wird die raffinirteste und pointirteste Darstellung gewählt
und, wo der Inhalt am meisten nach Schonung verlangt, da wühlt die
Bvuffvuerie des Verfassers förmlich in den Blößen. Weder Plato noch die
Spanier noch Wilhelm Meister waren hier seine Lehrmeister; das ist Friedrich
Schlegels feine geistige Wollust, das ist derselbe Mangel an Geschmack, der die
ganze Monstrosität dieses ästhetischem Ungetüms veranlaßt hat.

Im September 1799 zog Friedrich wieder nach Jena, wohin ihm seine
treue Dorothea bald nachfolgte. In seines Bruders Hause lernte der neu¬
gebackene Poet, der sich so spät erst seiner Begabung bewußt geworden war, auch
Verse machen; es kostete unendliche Mühe, es ging schwerfällig und langsam,
aber es gelang, und das Gelingen steigerte die Lust und die Kraft. Ein pro-
jcktirter zweiter Teil der Lucinde blieb liegen; es entstanden nur einige Dutzende
von Gedichten, welche für dieselbe bestimmt waren. In allen möglichen Silben¬
maßen werden Versuche angestellt, die schwierigsten und künstlichsten Strophen
werden überwunden; Schlegel ist von seinem dichterischen Berufe überzeugt, es


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Friedrich Schlegel.

bilden als den Sinn und die Fähigkeit, nach dem Unendlichen und Heiligen zu
strebein

Die Freundin, in welcher Schlegel sein Ideal der „Göttlichkeit mit Härte"
verwirklicht fand, ist auch das Urbild seines berüchtigten Romans, der Lucinde.
Aus den Berliner Judenkreisen, an welche sie ein ungeliebter Gatte und zwei
unmündige Söhne nicht länger fesseln konnten, riß sich die Tochter Moses
Mendelssohns los und folgte dem Manne ihrer Wahl, ihrem geliebten, an¬
gebeteten Friedrich, welchem sie zeitlebens mit größerer Aufopferung gedient hat,
als sich mit den Schlegelschen Ideen von wiederhergestellter Menschlichkeit des
Weibes zu vertragen schien. Zu dem Skandale, welchen die Scheidung Doro-
theens von ihrem Gatten verursachte, fügte Schlegel einen neuen, indem er ihre
Liebe in der unbekümmertsten und leichtfertigsten Gestalt vor den Augen des
Publikums bloßstellte. In den Berliner Gesellschaftskreisen, und nicht bloß in
den jüdischen, waren sogenannte Vernunftheiraten, bei welchen der Wille der
minderjährigen Frau übervorteilt wurde/an der Tagesordnung; Schlegel er¬
klärte nicht bloß die Heiraten ohne Liebe, sondern alle bestehenden Ehen für
Kvnknbinate, für bloße Versuche zweier Personen, eine Ehe mit einander ein¬
zugehen, und stellte die freie Liebe in der Lucinde als die wahre Ehe hin. Wie
aber bei ihm immer die eine Maßlosigkeit die andre erzeugt, so wird hier nicht
bloß die „göttliche Wollust," sondern auch der Müßiggang, die göttliche Faul¬
heit bis zur Kunst und Wissenschaft, ja bis zur Religion ausgebildet, und als
das höchste, vollendetste Leben ein reines Vegetiren hingestellt, welches jede
moralische Erziehung von sich abwehrt. Kann man den Inhalt der Lucinde
von einer Seite als begreiflichen, ja sogar nützlichen und notwendigen Rück¬
schlag betrachten, so findet der Ton, in welchem sich dieser Emanzipationsrvman
gefällt, weder vor dem ästhetischen noch dem moralischen Forum eine Entschul¬
digung. Geflissentlich wird die raffinirteste und pointirteste Darstellung gewählt
und, wo der Inhalt am meisten nach Schonung verlangt, da wühlt die
Bvuffvuerie des Verfassers förmlich in den Blößen. Weder Plato noch die
Spanier noch Wilhelm Meister waren hier seine Lehrmeister; das ist Friedrich
Schlegels feine geistige Wollust, das ist derselbe Mangel an Geschmack, der die
ganze Monstrosität dieses ästhetischem Ungetüms veranlaßt hat.

Im September 1799 zog Friedrich wieder nach Jena, wohin ihm seine
treue Dorothea bald nachfolgte. In seines Bruders Hause lernte der neu¬
gebackene Poet, der sich so spät erst seiner Begabung bewußt geworden war, auch
Verse machen; es kostete unendliche Mühe, es ging schwerfällig und langsam,
aber es gelang, und das Gelingen steigerte die Lust und die Kraft. Ein pro-
jcktirter zweiter Teil der Lucinde blieb liegen; es entstanden nur einige Dutzende
von Gedichten, welche für dieselbe bestimmt waren. In allen möglichen Silben¬
maßen werden Versuche angestellt, die schwierigsten und künstlichsten Strophen
werden überwunden; Schlegel ist von seinem dichterischen Berufe überzeugt, es


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[0353] Friedrich Schlegel. bilden als den Sinn und die Fähigkeit, nach dem Unendlichen und Heiligen zu strebein Die Freundin, in welcher Schlegel sein Ideal der „Göttlichkeit mit Härte" verwirklicht fand, ist auch das Urbild seines berüchtigten Romans, der Lucinde. Aus den Berliner Judenkreisen, an welche sie ein ungeliebter Gatte und zwei unmündige Söhne nicht länger fesseln konnten, riß sich die Tochter Moses Mendelssohns los und folgte dem Manne ihrer Wahl, ihrem geliebten, an¬ gebeteten Friedrich, welchem sie zeitlebens mit größerer Aufopferung gedient hat, als sich mit den Schlegelschen Ideen von wiederhergestellter Menschlichkeit des Weibes zu vertragen schien. Zu dem Skandale, welchen die Scheidung Doro- theens von ihrem Gatten verursachte, fügte Schlegel einen neuen, indem er ihre Liebe in der unbekümmertsten und leichtfertigsten Gestalt vor den Augen des Publikums bloßstellte. In den Berliner Gesellschaftskreisen, und nicht bloß in den jüdischen, waren sogenannte Vernunftheiraten, bei welchen der Wille der minderjährigen Frau übervorteilt wurde/an der Tagesordnung; Schlegel er¬ klärte nicht bloß die Heiraten ohne Liebe, sondern alle bestehenden Ehen für Kvnknbinate, für bloße Versuche zweier Personen, eine Ehe mit einander ein¬ zugehen, und stellte die freie Liebe in der Lucinde als die wahre Ehe hin. Wie aber bei ihm immer die eine Maßlosigkeit die andre erzeugt, so wird hier nicht bloß die „göttliche Wollust," sondern auch der Müßiggang, die göttliche Faul¬ heit bis zur Kunst und Wissenschaft, ja bis zur Religion ausgebildet, und als das höchste, vollendetste Leben ein reines Vegetiren hingestellt, welches jede moralische Erziehung von sich abwehrt. Kann man den Inhalt der Lucinde von einer Seite als begreiflichen, ja sogar nützlichen und notwendigen Rück¬ schlag betrachten, so findet der Ton, in welchem sich dieser Emanzipationsrvman gefällt, weder vor dem ästhetischen noch dem moralischen Forum eine Entschul¬ digung. Geflissentlich wird die raffinirteste und pointirteste Darstellung gewählt und, wo der Inhalt am meisten nach Schonung verlangt, da wühlt die Bvuffvuerie des Verfassers förmlich in den Blößen. Weder Plato noch die Spanier noch Wilhelm Meister waren hier seine Lehrmeister; das ist Friedrich Schlegels feine geistige Wollust, das ist derselbe Mangel an Geschmack, der die ganze Monstrosität dieses ästhetischem Ungetüms veranlaßt hat. Im September 1799 zog Friedrich wieder nach Jena, wohin ihm seine treue Dorothea bald nachfolgte. In seines Bruders Hause lernte der neu¬ gebackene Poet, der sich so spät erst seiner Begabung bewußt geworden war, auch Verse machen; es kostete unendliche Mühe, es ging schwerfällig und langsam, aber es gelang, und das Gelingen steigerte die Lust und die Kraft. Ein pro- jcktirter zweiter Teil der Lucinde blieb liegen; es entstanden nur einige Dutzende von Gedichten, welche für dieselbe bestimmt waren. In allen möglichen Silben¬ maßen werden Versuche angestellt, die schwierigsten und künstlichsten Strophen werden überwunden; Schlegel ist von seinem dichterischen Berufe überzeugt, es GrtmzboMl IU. 13L3. 44

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_153446/353>, abgerufen am 08.09.2024.