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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal.

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Friedrich Schlegel.

größtes Verdienst und sein größtes Mißverdicnst war es zugleich, in Literatur,
Moral, Philosophie und Leben die nötigen ebensowohl wie die hemmenden Schranken
niedergerissen zu haben. Daher auf der einen Seite die unleugbare Erweiterung
des Gesichtskreises, die Entfesselung der gebundenen Poesie und Moral -- ans
der andern Seite das Unbegrenzte, Maß- und Formlose aller seiner Bestrebungen,
weil er die äußern Schranken umstürzte, ohne in sich selbst Maß und Be¬
schränkung finden zu können. So werden auf poetischem Gebiete nicht nur die
Grenzen zwischen Poesie und Leben, Dichtung und Wissenschaft aufgehoben,
sondern die Kunst selber und innerhalb derselben die Kunstgattungen, und
Dichtungsgattungen zerrinnen in einander. Kritik soll Poesie, und der Poet
zugleich Philosoph, Kritiker, ja Physiker sein. Bilder werden auf ihren poetischen
Gedanken hin, Dichtungen auf ihre musikalischen und malerischen Effekte hin
beurteilt. "Die romantische Dichtung ist die einzige, die mehr als Art und
gleichsam die Dichtung selbst ist; denn in einem gewissen Sinn ist oder soll
alle Poesie romantisch sein"; so schließt die Definition, und der Begriff der
Poesie hat sich hier ganz in den allgemeinen Begriff des sogenannten Poetischen
verflüchtigt. Nachdem alle Grenzen beseitigt sind, bleibt allein das Elementare
zurück, welches als Geist Gottes über den Wassern schwebt. Und welchen weiten
Weg die Romantik zu machen hat, um sich aus diesem chaotische" Gewirre
aufs neue zu geordneten Begriffen emporzuarbeiten, das beweisen zur Genüge
die potenzirenden Genetive, welche unter ihren Schlagworten eine so große Rolle
spielen. So ist z. B. nach Wilhelm Schlegels Deduktion in seinen Berliner
Vorlesungen dasjenige, was wir Dichtung nennen, bereits Dichtung in dritter
Potenz; denn es setzt Mythologie (einen poetisch geformten Stoff) und die
Sprache, die an sich schon Poesie ist, voraus.

Fruchtbar, aber auch gefährlich und schädlich war weiter der Begriff der
romantischen Ironie, welcher in der besprochenen Definition in den Worten zur
Geltung kommt, daß die Willkür des Dichters kein Gesetz über sich leide. Schon
Heumann hatte mit der Ironie des Sokrates in den Platonischen Dialogen
Mißbrauch getrieben; Friedrich Schlegel fing das Wort in seiner ersten Periode
dort ebenfalls auf. Zur Erweiterung und Fixirung des Begriffes verhalf ihm,
wie Haym mit Recht hervorgehoben hat, die Fichtesche Philosophie. Diese
berücksichtigt im Denken des Menschen zwei Momente: erstens das Ich schafft
sich die Außenwelt; zweitens das Ich wird sich seiner selbst bewußt und zerstört
somit gewissermaßen wieder die Außenwelt. Auf die Thätigkeit des Künstlers
übertragen, ergab dies den Begriff der Ironie mit Notwendigkeit. Der Künstler
schafft sich ebenso eine neue Welt; er wird sich ebenso seiner Thätigkeit bewußt
und zerstört so gewissermaßen wieder die selbstgeschcifsene Welt. Die Ironie
offenbart sich nicht nur, wenn der Dichter, anstatt hinter seinem Werke zu ver¬
schwinden, aus demselben heraustritt; sie offenbart sich nicht bloß, wenn der
Mutwille eines Aristophanes oder Tieck die selbstgeschaffene Form zerstört, sondern


Friedrich Schlegel.

größtes Verdienst und sein größtes Mißverdicnst war es zugleich, in Literatur,
Moral, Philosophie und Leben die nötigen ebensowohl wie die hemmenden Schranken
niedergerissen zu haben. Daher auf der einen Seite die unleugbare Erweiterung
des Gesichtskreises, die Entfesselung der gebundenen Poesie und Moral — ans
der andern Seite das Unbegrenzte, Maß- und Formlose aller seiner Bestrebungen,
weil er die äußern Schranken umstürzte, ohne in sich selbst Maß und Be¬
schränkung finden zu können. So werden auf poetischem Gebiete nicht nur die
Grenzen zwischen Poesie und Leben, Dichtung und Wissenschaft aufgehoben,
sondern die Kunst selber und innerhalb derselben die Kunstgattungen, und
Dichtungsgattungen zerrinnen in einander. Kritik soll Poesie, und der Poet
zugleich Philosoph, Kritiker, ja Physiker sein. Bilder werden auf ihren poetischen
Gedanken hin, Dichtungen auf ihre musikalischen und malerischen Effekte hin
beurteilt. „Die romantische Dichtung ist die einzige, die mehr als Art und
gleichsam die Dichtung selbst ist; denn in einem gewissen Sinn ist oder soll
alle Poesie romantisch sein"; so schließt die Definition, und der Begriff der
Poesie hat sich hier ganz in den allgemeinen Begriff des sogenannten Poetischen
verflüchtigt. Nachdem alle Grenzen beseitigt sind, bleibt allein das Elementare
zurück, welches als Geist Gottes über den Wassern schwebt. Und welchen weiten
Weg die Romantik zu machen hat, um sich aus diesem chaotische« Gewirre
aufs neue zu geordneten Begriffen emporzuarbeiten, das beweisen zur Genüge
die potenzirenden Genetive, welche unter ihren Schlagworten eine so große Rolle
spielen. So ist z. B. nach Wilhelm Schlegels Deduktion in seinen Berliner
Vorlesungen dasjenige, was wir Dichtung nennen, bereits Dichtung in dritter
Potenz; denn es setzt Mythologie (einen poetisch geformten Stoff) und die
Sprache, die an sich schon Poesie ist, voraus.

Fruchtbar, aber auch gefährlich und schädlich war weiter der Begriff der
romantischen Ironie, welcher in der besprochenen Definition in den Worten zur
Geltung kommt, daß die Willkür des Dichters kein Gesetz über sich leide. Schon
Heumann hatte mit der Ironie des Sokrates in den Platonischen Dialogen
Mißbrauch getrieben; Friedrich Schlegel fing das Wort in seiner ersten Periode
dort ebenfalls auf. Zur Erweiterung und Fixirung des Begriffes verhalf ihm,
wie Haym mit Recht hervorgehoben hat, die Fichtesche Philosophie. Diese
berücksichtigt im Denken des Menschen zwei Momente: erstens das Ich schafft
sich die Außenwelt; zweitens das Ich wird sich seiner selbst bewußt und zerstört
somit gewissermaßen wieder die Außenwelt. Auf die Thätigkeit des Künstlers
übertragen, ergab dies den Begriff der Ironie mit Notwendigkeit. Der Künstler
schafft sich ebenso eine neue Welt; er wird sich ebenso seiner Thätigkeit bewußt
und zerstört so gewissermaßen wieder die selbstgeschcifsene Welt. Die Ironie
offenbart sich nicht nur, wenn der Dichter, anstatt hinter seinem Werke zu ver¬
schwinden, aus demselben heraustritt; sie offenbart sich nicht bloß, wenn der
Mutwille eines Aristophanes oder Tieck die selbstgeschaffene Form zerstört, sondern


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[0350] Friedrich Schlegel. größtes Verdienst und sein größtes Mißverdicnst war es zugleich, in Literatur, Moral, Philosophie und Leben die nötigen ebensowohl wie die hemmenden Schranken niedergerissen zu haben. Daher auf der einen Seite die unleugbare Erweiterung des Gesichtskreises, die Entfesselung der gebundenen Poesie und Moral — ans der andern Seite das Unbegrenzte, Maß- und Formlose aller seiner Bestrebungen, weil er die äußern Schranken umstürzte, ohne in sich selbst Maß und Be¬ schränkung finden zu können. So werden auf poetischem Gebiete nicht nur die Grenzen zwischen Poesie und Leben, Dichtung und Wissenschaft aufgehoben, sondern die Kunst selber und innerhalb derselben die Kunstgattungen, und Dichtungsgattungen zerrinnen in einander. Kritik soll Poesie, und der Poet zugleich Philosoph, Kritiker, ja Physiker sein. Bilder werden auf ihren poetischen Gedanken hin, Dichtungen auf ihre musikalischen und malerischen Effekte hin beurteilt. „Die romantische Dichtung ist die einzige, die mehr als Art und gleichsam die Dichtung selbst ist; denn in einem gewissen Sinn ist oder soll alle Poesie romantisch sein"; so schließt die Definition, und der Begriff der Poesie hat sich hier ganz in den allgemeinen Begriff des sogenannten Poetischen verflüchtigt. Nachdem alle Grenzen beseitigt sind, bleibt allein das Elementare zurück, welches als Geist Gottes über den Wassern schwebt. Und welchen weiten Weg die Romantik zu machen hat, um sich aus diesem chaotische« Gewirre aufs neue zu geordneten Begriffen emporzuarbeiten, das beweisen zur Genüge die potenzirenden Genetive, welche unter ihren Schlagworten eine so große Rolle spielen. So ist z. B. nach Wilhelm Schlegels Deduktion in seinen Berliner Vorlesungen dasjenige, was wir Dichtung nennen, bereits Dichtung in dritter Potenz; denn es setzt Mythologie (einen poetisch geformten Stoff) und die Sprache, die an sich schon Poesie ist, voraus. Fruchtbar, aber auch gefährlich und schädlich war weiter der Begriff der romantischen Ironie, welcher in der besprochenen Definition in den Worten zur Geltung kommt, daß die Willkür des Dichters kein Gesetz über sich leide. Schon Heumann hatte mit der Ironie des Sokrates in den Platonischen Dialogen Mißbrauch getrieben; Friedrich Schlegel fing das Wort in seiner ersten Periode dort ebenfalls auf. Zur Erweiterung und Fixirung des Begriffes verhalf ihm, wie Haym mit Recht hervorgehoben hat, die Fichtesche Philosophie. Diese berücksichtigt im Denken des Menschen zwei Momente: erstens das Ich schafft sich die Außenwelt; zweitens das Ich wird sich seiner selbst bewußt und zerstört somit gewissermaßen wieder die Außenwelt. Auf die Thätigkeit des Künstlers übertragen, ergab dies den Begriff der Ironie mit Notwendigkeit. Der Künstler schafft sich ebenso eine neue Welt; er wird sich ebenso seiner Thätigkeit bewußt und zerstört so gewissermaßen wieder die selbstgeschcifsene Welt. Die Ironie offenbart sich nicht nur, wenn der Dichter, anstatt hinter seinem Werke zu ver¬ schwinden, aus demselben heraustritt; sie offenbart sich nicht bloß, wenn der Mutwille eines Aristophanes oder Tieck die selbstgeschaffene Form zerstört, sondern

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_153446/350>, abgerufen am 08.09.2024.