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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal.

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Die Entstehung der sinnlichen Wahrnehmung.

daß dieselbe Bedeutung und Anwendung der Kategorien für Kant ein unumstö߬
lich festes Prinzip geworden war.

Für die Erklärung der sinnlichen Wahrnehmung ist ihre Anwendung aller¬
dings noch ganz neu und unverstanden, aber nichtsdestoweniger von enormer
Tragweite. Wir wollen sie an dieser Stelle nur andeuten. Es ist leicht ein¬
zusehen, daß die Qualitäten der verschiednen Sinnesempfindungen unter sich
garnicht zu vergleichen sind. Was haben Ton und Licht mit einander zu
schaffen? In diesen Blättern ist unlängst von Schafter auseinandergesetzt
worden, wie wenig Analogien zwischen den Schall- und den Lichtwellen auf¬
zufinden sind. Was hat der Druck meiner Hand mit dem Geschmack oder
Geruch, mit Ton oder Farben zu thun? Aber Thatsache ist es doch, daß wir
von harten, kalten oder warmen Farben, daß wir von weichen oder rauhen
Tönen, schreienden Lichtern, hellen Tönen u. s. w. reden, genng, daß wir immer
die scheinbar unvergleichbaren Empfindungen aufs mannichfachste mit ein¬
ander vergleichen. Das ist aber nur möglich durch die erfassender Funktionen,
die zugleich allem Denken und darum auch allem Vergleichen wieder zu Grunde
liegen. Die Physiologen mögen sich lange die Köpfe zerbrechen, warum ein
Helles Ding immer größer aussieht als ein in Wirklichkeit ebenso großes dunkles,
warum ein erwärmtes Gewicht leichter erscheint als ein ebenso schweres kaltes,
warum Rot immer breiter sich ausnimmt als ein ebenso breites Grün, warum
schwarz und blau so gut zusammenstimmen, warum mit Grau das Zeitwort
Grauen zusammenhängt, und das Böse schwarz genannt wird. Diese und
Hunderte von ähnlichen Thatsachen der Wahrnehmung sind nicht aus dem Ma¬
terial der sinnlichen Erregung zu erklären, sondern nur aus der gesetzmäßigen
Verbindung der Funktionen, wenn sie sich der sinnlichen Anschauung bemächtigen
und dieselbe für unser geistiges Leben verarbeiten.

Was wir also beweisen wollten, ist hiermit bewiesen. Die sinnliche Wahr¬
nehmung kommt nicht allein zustande durch physische Bewegungen, die bis auf
die Nervenenden der Sinnesorgane treffen. Sie kommt auch nicht zustande
durch physische oder chemische Veränderungen in den Sinnesnerven oder im
Gehirn, sondern es ist zu ihrer Erklärung durchaus ein transcendentales Ver¬
mögen notwendig, welches einmal als Rezeptivität das Material der Anschauung
darbietet, zweitens aber als Spontaneität dies Material acceptirt und weiter
verarbeitet. Dies Vermögen entsteht nicht und entwickelt sich nicht aus der
sinnlichen Wahrnehmung, sondern es macht die Wahrnehmung überhaupt erst
möglich und bestimmt ihren Charakter. Befruchtet wird es allerdings durch die
sinnlichen Reize, aber es entspringt nicht aus ihnen. Es schafft nicht die Welt,
wie manche Philosophen behauptet haben, aber es bestimmt allerdings die Ge¬
setze der Wahrnehmung und damit in der Konsequenz die Gesetze der Natur¬
wissenschaft. Diese mögen sich, so viel sie wollen, auf die bloße Erfahrung
stützen, sie können niemals bestreiten, daß die Erfahrung selbst nicht möglich ist


Die Entstehung der sinnlichen Wahrnehmung.

daß dieselbe Bedeutung und Anwendung der Kategorien für Kant ein unumstö߬
lich festes Prinzip geworden war.

Für die Erklärung der sinnlichen Wahrnehmung ist ihre Anwendung aller¬
dings noch ganz neu und unverstanden, aber nichtsdestoweniger von enormer
Tragweite. Wir wollen sie an dieser Stelle nur andeuten. Es ist leicht ein¬
zusehen, daß die Qualitäten der verschiednen Sinnesempfindungen unter sich
garnicht zu vergleichen sind. Was haben Ton und Licht mit einander zu
schaffen? In diesen Blättern ist unlängst von Schafter auseinandergesetzt
worden, wie wenig Analogien zwischen den Schall- und den Lichtwellen auf¬
zufinden sind. Was hat der Druck meiner Hand mit dem Geschmack oder
Geruch, mit Ton oder Farben zu thun? Aber Thatsache ist es doch, daß wir
von harten, kalten oder warmen Farben, daß wir von weichen oder rauhen
Tönen, schreienden Lichtern, hellen Tönen u. s. w. reden, genng, daß wir immer
die scheinbar unvergleichbaren Empfindungen aufs mannichfachste mit ein¬
ander vergleichen. Das ist aber nur möglich durch die erfassender Funktionen,
die zugleich allem Denken und darum auch allem Vergleichen wieder zu Grunde
liegen. Die Physiologen mögen sich lange die Köpfe zerbrechen, warum ein
Helles Ding immer größer aussieht als ein in Wirklichkeit ebenso großes dunkles,
warum ein erwärmtes Gewicht leichter erscheint als ein ebenso schweres kaltes,
warum Rot immer breiter sich ausnimmt als ein ebenso breites Grün, warum
schwarz und blau so gut zusammenstimmen, warum mit Grau das Zeitwort
Grauen zusammenhängt, und das Böse schwarz genannt wird. Diese und
Hunderte von ähnlichen Thatsachen der Wahrnehmung sind nicht aus dem Ma¬
terial der sinnlichen Erregung zu erklären, sondern nur aus der gesetzmäßigen
Verbindung der Funktionen, wenn sie sich der sinnlichen Anschauung bemächtigen
und dieselbe für unser geistiges Leben verarbeiten.

Was wir also beweisen wollten, ist hiermit bewiesen. Die sinnliche Wahr¬
nehmung kommt nicht allein zustande durch physische Bewegungen, die bis auf
die Nervenenden der Sinnesorgane treffen. Sie kommt auch nicht zustande
durch physische oder chemische Veränderungen in den Sinnesnerven oder im
Gehirn, sondern es ist zu ihrer Erklärung durchaus ein transcendentales Ver¬
mögen notwendig, welches einmal als Rezeptivität das Material der Anschauung
darbietet, zweitens aber als Spontaneität dies Material acceptirt und weiter
verarbeitet. Dies Vermögen entsteht nicht und entwickelt sich nicht aus der
sinnlichen Wahrnehmung, sondern es macht die Wahrnehmung überhaupt erst
möglich und bestimmt ihren Charakter. Befruchtet wird es allerdings durch die
sinnlichen Reize, aber es entspringt nicht aus ihnen. Es schafft nicht die Welt,
wie manche Philosophen behauptet haben, aber es bestimmt allerdings die Ge¬
setze der Wahrnehmung und damit in der Konsequenz die Gesetze der Natur¬
wissenschaft. Diese mögen sich, so viel sie wollen, auf die bloße Erfahrung
stützen, sie können niemals bestreiten, daß die Erfahrung selbst nicht möglich ist


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[0347] Die Entstehung der sinnlichen Wahrnehmung. daß dieselbe Bedeutung und Anwendung der Kategorien für Kant ein unumstö߬ lich festes Prinzip geworden war. Für die Erklärung der sinnlichen Wahrnehmung ist ihre Anwendung aller¬ dings noch ganz neu und unverstanden, aber nichtsdestoweniger von enormer Tragweite. Wir wollen sie an dieser Stelle nur andeuten. Es ist leicht ein¬ zusehen, daß die Qualitäten der verschiednen Sinnesempfindungen unter sich garnicht zu vergleichen sind. Was haben Ton und Licht mit einander zu schaffen? In diesen Blättern ist unlängst von Schafter auseinandergesetzt worden, wie wenig Analogien zwischen den Schall- und den Lichtwellen auf¬ zufinden sind. Was hat der Druck meiner Hand mit dem Geschmack oder Geruch, mit Ton oder Farben zu thun? Aber Thatsache ist es doch, daß wir von harten, kalten oder warmen Farben, daß wir von weichen oder rauhen Tönen, schreienden Lichtern, hellen Tönen u. s. w. reden, genng, daß wir immer die scheinbar unvergleichbaren Empfindungen aufs mannichfachste mit ein¬ ander vergleichen. Das ist aber nur möglich durch die erfassender Funktionen, die zugleich allem Denken und darum auch allem Vergleichen wieder zu Grunde liegen. Die Physiologen mögen sich lange die Köpfe zerbrechen, warum ein Helles Ding immer größer aussieht als ein in Wirklichkeit ebenso großes dunkles, warum ein erwärmtes Gewicht leichter erscheint als ein ebenso schweres kaltes, warum Rot immer breiter sich ausnimmt als ein ebenso breites Grün, warum schwarz und blau so gut zusammenstimmen, warum mit Grau das Zeitwort Grauen zusammenhängt, und das Böse schwarz genannt wird. Diese und Hunderte von ähnlichen Thatsachen der Wahrnehmung sind nicht aus dem Ma¬ terial der sinnlichen Erregung zu erklären, sondern nur aus der gesetzmäßigen Verbindung der Funktionen, wenn sie sich der sinnlichen Anschauung bemächtigen und dieselbe für unser geistiges Leben verarbeiten. Was wir also beweisen wollten, ist hiermit bewiesen. Die sinnliche Wahr¬ nehmung kommt nicht allein zustande durch physische Bewegungen, die bis auf die Nervenenden der Sinnesorgane treffen. Sie kommt auch nicht zustande durch physische oder chemische Veränderungen in den Sinnesnerven oder im Gehirn, sondern es ist zu ihrer Erklärung durchaus ein transcendentales Ver¬ mögen notwendig, welches einmal als Rezeptivität das Material der Anschauung darbietet, zweitens aber als Spontaneität dies Material acceptirt und weiter verarbeitet. Dies Vermögen entsteht nicht und entwickelt sich nicht aus der sinnlichen Wahrnehmung, sondern es macht die Wahrnehmung überhaupt erst möglich und bestimmt ihren Charakter. Befruchtet wird es allerdings durch die sinnlichen Reize, aber es entspringt nicht aus ihnen. Es schafft nicht die Welt, wie manche Philosophen behauptet haben, aber es bestimmt allerdings die Ge¬ setze der Wahrnehmung und damit in der Konsequenz die Gesetze der Natur¬ wissenschaft. Diese mögen sich, so viel sie wollen, auf die bloße Erfahrung stützen, sie können niemals bestreiten, daß die Erfahrung selbst nicht möglich ist

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_153446/347>, abgerufen am 08.09.2024.