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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal.

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Die Entstehung der sinnlichen Wahrnehmung.

einfach weg. Eine punktförmige Seele kann freilich nicht zu gleicher Zeit viele
sinnliche Eindrücke nebeneinander in sich aufnehmen, wie doch der Schalt durch
das Auge verlangt; sie muß deshalb die successive aufgenommenen Lichteindrucke
in Verbindung setzen mit Mnskelgefühlen, die aus der Bewegung des Auges
entspringen sollen, und aus der Intensität der Bewegungstriebe die äußerst
mühsame Arbeit verrichten, die mannichfaltigen Lichteindrucke in eine anschaulich
räumliche Ordnung zu bringen, deren Richtigkeit wieder durch nichts verbürgt
wird. Schon der oberflächliche Vergleich der unendlich genauen Auffassung
räumlicher Bilder durch die Netzhaut im Auge mit der ungenügenden Sicher¬
heit, die wir im Dunkel" durch unsre Muskelgefühle über Raumverhältnisse ge¬
winnen, belehrt uns über die Unmöglichkeit einer solchen Theorie. Wir brauchen
nur zu bedenken, mit welcher Präzision die Gesichtsbilder sich vergrößern und
verkleinern durch optische Gläser, bald undeutlich werden durch Zerstreunngs-
kreise und bald wieder deutlich und scharf, wir brauchen nur zu beobachte", wie
überall die räumliche Anordnung der gesehenen Dinge die Bewegungen des
Auges beherrscht -- niemals umgekehrt --, dann begreifen wir garnicht mehr,
wie solche Theorien noch bis zum heutigen Tage verteidigt werden können. Es
ist immer nur durch den alten Fehler möglich, daß man sagt: "Wir sehen
unsre Netzhautbilder und konstruiren darnach unsre Vorstellung vou der Welt,
von der wir garnicht wissen, ob sie der wirklichen Welt ähnlich ist"; während
wir doch in Wahrheit nur durch unsre Netzhautbilder die wirklichen Dinge in
der Welt sehen.

Eins ist freilich noch erforderlich, ehe wir bei der an der leitenden Hand
Kants gewonnenen Einsicht in die Sinneswahrnehmung uns beruhigen können.
Wir haben physikalische und anatomisch physiologische Kenntnisse in reichem
Maße gesammelt. Wir wissen von den Endigungen der Tastnerven in der
Haut, die durch die Berührung und den Druck fremder Körper eigentümlich
erregt werden, sodaß die Vorstellungen von getasteten Körpern im Raum
entstehen; wir wissen vou dem sorgfältigen Bau des Auges und der feinen
Anordnung der Elemente der Netzhaut, welche die Lichtreize in ganz präziser
räumlicher Ordnung aufzufangen geeignet sind; wir wissen von der Ausbreitung
der Gehörnerven an den häutigen Platten des Labyrinthes im Gehörorgan,
welches zum Auffangen der Schallwellen wunderbar eingerichtet ist; wir finden
mehr oder weniger den Tastpapilleu analoge Nervenenden in den Gegenden der
Zunge und Nase, die für die Erregung der Geschmacks- und Geruchsempfindungen
bestimmt sind. Wir haben auch die Grundzüge uns klar gemacht von dem
Verhältnis der physikalischen Prozesse, der Nervencrregungen zu den transcen¬
dentalen Fähigkeiten des Geistes, die doch schließlich die Empfindungen auf¬
nehmen und weiter verarbeiten sollen. Wir haben eine Reihe von Fragen
richtig gestellt. Es heißt nicht mehr: wie kommen diese oder jene Eindrücke in
unser Gehirn hinein? sondern vielmehr: welche Vorstellung im Raume muß


Grcnzlwtni M, 1883, 48
Die Entstehung der sinnlichen Wahrnehmung.

einfach weg. Eine punktförmige Seele kann freilich nicht zu gleicher Zeit viele
sinnliche Eindrücke nebeneinander in sich aufnehmen, wie doch der Schalt durch
das Auge verlangt; sie muß deshalb die successive aufgenommenen Lichteindrucke
in Verbindung setzen mit Mnskelgefühlen, die aus der Bewegung des Auges
entspringen sollen, und aus der Intensität der Bewegungstriebe die äußerst
mühsame Arbeit verrichten, die mannichfaltigen Lichteindrucke in eine anschaulich
räumliche Ordnung zu bringen, deren Richtigkeit wieder durch nichts verbürgt
wird. Schon der oberflächliche Vergleich der unendlich genauen Auffassung
räumlicher Bilder durch die Netzhaut im Auge mit der ungenügenden Sicher¬
heit, die wir im Dunkel» durch unsre Muskelgefühle über Raumverhältnisse ge¬
winnen, belehrt uns über die Unmöglichkeit einer solchen Theorie. Wir brauchen
nur zu bedenken, mit welcher Präzision die Gesichtsbilder sich vergrößern und
verkleinern durch optische Gläser, bald undeutlich werden durch Zerstreunngs-
kreise und bald wieder deutlich und scharf, wir brauchen nur zu beobachte», wie
überall die räumliche Anordnung der gesehenen Dinge die Bewegungen des
Auges beherrscht — niemals umgekehrt —, dann begreifen wir garnicht mehr,
wie solche Theorien noch bis zum heutigen Tage verteidigt werden können. Es
ist immer nur durch den alten Fehler möglich, daß man sagt: „Wir sehen
unsre Netzhautbilder und konstruiren darnach unsre Vorstellung vou der Welt,
von der wir garnicht wissen, ob sie der wirklichen Welt ähnlich ist"; während
wir doch in Wahrheit nur durch unsre Netzhautbilder die wirklichen Dinge in
der Welt sehen.

Eins ist freilich noch erforderlich, ehe wir bei der an der leitenden Hand
Kants gewonnenen Einsicht in die Sinneswahrnehmung uns beruhigen können.
Wir haben physikalische und anatomisch physiologische Kenntnisse in reichem
Maße gesammelt. Wir wissen von den Endigungen der Tastnerven in der
Haut, die durch die Berührung und den Druck fremder Körper eigentümlich
erregt werden, sodaß die Vorstellungen von getasteten Körpern im Raum
entstehen; wir wissen vou dem sorgfältigen Bau des Auges und der feinen
Anordnung der Elemente der Netzhaut, welche die Lichtreize in ganz präziser
räumlicher Ordnung aufzufangen geeignet sind; wir wissen von der Ausbreitung
der Gehörnerven an den häutigen Platten des Labyrinthes im Gehörorgan,
welches zum Auffangen der Schallwellen wunderbar eingerichtet ist; wir finden
mehr oder weniger den Tastpapilleu analoge Nervenenden in den Gegenden der
Zunge und Nase, die für die Erregung der Geschmacks- und Geruchsempfindungen
bestimmt sind. Wir haben auch die Grundzüge uns klar gemacht von dem
Verhältnis der physikalischen Prozesse, der Nervencrregungen zu den transcen¬
dentalen Fähigkeiten des Geistes, die doch schließlich die Empfindungen auf¬
nehmen und weiter verarbeiten sollen. Wir haben eine Reihe von Fragen
richtig gestellt. Es heißt nicht mehr: wie kommen diese oder jene Eindrücke in
unser Gehirn hinein? sondern vielmehr: welche Vorstellung im Raume muß


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[0345] Die Entstehung der sinnlichen Wahrnehmung. einfach weg. Eine punktförmige Seele kann freilich nicht zu gleicher Zeit viele sinnliche Eindrücke nebeneinander in sich aufnehmen, wie doch der Schalt durch das Auge verlangt; sie muß deshalb die successive aufgenommenen Lichteindrucke in Verbindung setzen mit Mnskelgefühlen, die aus der Bewegung des Auges entspringen sollen, und aus der Intensität der Bewegungstriebe die äußerst mühsame Arbeit verrichten, die mannichfaltigen Lichteindrucke in eine anschaulich räumliche Ordnung zu bringen, deren Richtigkeit wieder durch nichts verbürgt wird. Schon der oberflächliche Vergleich der unendlich genauen Auffassung räumlicher Bilder durch die Netzhaut im Auge mit der ungenügenden Sicher¬ heit, die wir im Dunkel» durch unsre Muskelgefühle über Raumverhältnisse ge¬ winnen, belehrt uns über die Unmöglichkeit einer solchen Theorie. Wir brauchen nur zu bedenken, mit welcher Präzision die Gesichtsbilder sich vergrößern und verkleinern durch optische Gläser, bald undeutlich werden durch Zerstreunngs- kreise und bald wieder deutlich und scharf, wir brauchen nur zu beobachte», wie überall die räumliche Anordnung der gesehenen Dinge die Bewegungen des Auges beherrscht — niemals umgekehrt —, dann begreifen wir garnicht mehr, wie solche Theorien noch bis zum heutigen Tage verteidigt werden können. Es ist immer nur durch den alten Fehler möglich, daß man sagt: „Wir sehen unsre Netzhautbilder und konstruiren darnach unsre Vorstellung vou der Welt, von der wir garnicht wissen, ob sie der wirklichen Welt ähnlich ist"; während wir doch in Wahrheit nur durch unsre Netzhautbilder die wirklichen Dinge in der Welt sehen. Eins ist freilich noch erforderlich, ehe wir bei der an der leitenden Hand Kants gewonnenen Einsicht in die Sinneswahrnehmung uns beruhigen können. Wir haben physikalische und anatomisch physiologische Kenntnisse in reichem Maße gesammelt. Wir wissen von den Endigungen der Tastnerven in der Haut, die durch die Berührung und den Druck fremder Körper eigentümlich erregt werden, sodaß die Vorstellungen von getasteten Körpern im Raum entstehen; wir wissen vou dem sorgfältigen Bau des Auges und der feinen Anordnung der Elemente der Netzhaut, welche die Lichtreize in ganz präziser räumlicher Ordnung aufzufangen geeignet sind; wir wissen von der Ausbreitung der Gehörnerven an den häutigen Platten des Labyrinthes im Gehörorgan, welches zum Auffangen der Schallwellen wunderbar eingerichtet ist; wir finden mehr oder weniger den Tastpapilleu analoge Nervenenden in den Gegenden der Zunge und Nase, die für die Erregung der Geschmacks- und Geruchsempfindungen bestimmt sind. Wir haben auch die Grundzüge uns klar gemacht von dem Verhältnis der physikalischen Prozesse, der Nervencrregungen zu den transcen¬ dentalen Fähigkeiten des Geistes, die doch schließlich die Empfindungen auf¬ nehmen und weiter verarbeiten sollen. Wir haben eine Reihe von Fragen richtig gestellt. Es heißt nicht mehr: wie kommen diese oder jene Eindrücke in unser Gehirn hinein? sondern vielmehr: welche Vorstellung im Raume muß Grcnzlwtni M, 1883, 48

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_153446/345>, abgerufen am 08.09.2024.