Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Entstehung der sinnlichen Wahrnehmung,

Da Wir nichts wissen von einer transcendentalen Fähigkeit zur Erzeugung von
Vorstellungen im Raume, so behaupten wir, daß nicht der Tisch durch die
Nervenerregung wahrgenommen wird, sondern nur die Erregung in den Nerven
selbst, und von diesen machen wir einen Schluß auf die Ursache des Druckes,
Ob der Tisch aber gerade so wirklich ist, wie wir nun schließen, ob er dieselbe
Härte, Glätte, Form wirklich hat, die wir ihm beilegen, das können wir nicht
wissen. Denn unsre Wahrnehmung ist ja nicht das Wesen der Sache selbst, sondern
die Erscheinung desselben, die zum größten Teil durch die Art unsrer Nerven-
erregung bestimmt ist. Höchstens der ganz tief denkende mathematische Natur¬
forscher hält sich noch eine kleine Hinterthür offen, durch die er sich gelegent¬
lich einen kleinen Ausblick in das Gebiet der Dinge an sich gestattet. So seltsam
es klingt, so ist es doch Thatsache, daß man bei Helmholtz von solchen Phanta¬
sien lesen kann. Wir dagegen, die wir Kant folgen, wissen allerdings etwas
von einer transcendentalen Fähigkeit, Vorstellungen im Raume zu erzeugen,
welche dnrch den Eindruck auf die Siunesnervcn zur That gezwungen wird.
Wir tasten alsdann den Tisch selbst genau so hart, so glatt und in der Form,
die er wirklich hat, und ruhen nicht eher aus, die tastenden Hände an ihm und
gegen ihn zu bewegen, bis wir feilte wahren Eigenschaften richtig erkannt haben.
Von einem etwa dahinter befindlichen Tische an sich, oder von einer Vorstellung
in unsern Nerven und in unserm Gehirn, die wir mit dem wirklichen Tisch ver¬
gleichen müßten, haben wir nie etwas gehört, und erlauben uns sogar die
Behauptung, daß es eine große Thorheit sei, von so etwas zu reden.

Der Unterschied liegt also darin, daß die einen eine transcendemale
Fähigkeit zur Erzeugung von Vorstellungen im Raume bei jeder Sinnesempfin-
dung voraussetzen, die andern aber diese Fähigkeit entweder geradezu leugnen
oder wenigstens keinen Gebrauch davon machen. Der Grund dieser Differenz
könnte nun vielleicht darin liegen, daß über die Bedeutung des Wortes tran¬
scendental, wie das ja mit dem Kantschen Sprachgebrauch öfter gegangen ist,
keine allseitige Klarheit herrschte. Giebt es doch thatsächlich hochgebildete Ärzte
und Physiologen, die der festen Überzeugung leben, daß weder Kant noch irgend
jemand sonst über die Bedeutung dieses Wortes völlig klar gewesen sei. Ja
es sind uns sogar echte Philosophieprofessoren vorgekommen, die dieselbe
Meinung geäußert haben. Darum ist es sehr nötig, daß man es deutlich macht.
Natürlich ergiebt die sprachliche Abstammung, daß das Wort etwas bezeichnen
soll, was eine Grenze übersteigt, und zwar die Grenze dessen, was wir wissen
können. Diese Eigenschaft würde allein aber transcendere heißen, und von tran¬
scendenter Dingen spricht Kant immer nur völlig verneinend; mit solchen Dingen
hat keine Wissenschaft zu thun. Transcendental soll aber den Zusammenhang
mit etwas Transcendentem andeuten, also etwas, dessen Wurzel transcendere
und unsrer Erkenntnis vollständig entrückt ist, das aber andrerseits doch ge¬
wisse Beziehungen zur Welt der Erscheinungen, welche wir erkennen tonnen,


Die Entstehung der sinnlichen Wahrnehmung,

Da Wir nichts wissen von einer transcendentalen Fähigkeit zur Erzeugung von
Vorstellungen im Raume, so behaupten wir, daß nicht der Tisch durch die
Nervenerregung wahrgenommen wird, sondern nur die Erregung in den Nerven
selbst, und von diesen machen wir einen Schluß auf die Ursache des Druckes,
Ob der Tisch aber gerade so wirklich ist, wie wir nun schließen, ob er dieselbe
Härte, Glätte, Form wirklich hat, die wir ihm beilegen, das können wir nicht
wissen. Denn unsre Wahrnehmung ist ja nicht das Wesen der Sache selbst, sondern
die Erscheinung desselben, die zum größten Teil durch die Art unsrer Nerven-
erregung bestimmt ist. Höchstens der ganz tief denkende mathematische Natur¬
forscher hält sich noch eine kleine Hinterthür offen, durch die er sich gelegent¬
lich einen kleinen Ausblick in das Gebiet der Dinge an sich gestattet. So seltsam
es klingt, so ist es doch Thatsache, daß man bei Helmholtz von solchen Phanta¬
sien lesen kann. Wir dagegen, die wir Kant folgen, wissen allerdings etwas
von einer transcendentalen Fähigkeit, Vorstellungen im Raume zu erzeugen,
welche dnrch den Eindruck auf die Siunesnervcn zur That gezwungen wird.
Wir tasten alsdann den Tisch selbst genau so hart, so glatt und in der Form,
die er wirklich hat, und ruhen nicht eher aus, die tastenden Hände an ihm und
gegen ihn zu bewegen, bis wir feilte wahren Eigenschaften richtig erkannt haben.
Von einem etwa dahinter befindlichen Tische an sich, oder von einer Vorstellung
in unsern Nerven und in unserm Gehirn, die wir mit dem wirklichen Tisch ver¬
gleichen müßten, haben wir nie etwas gehört, und erlauben uns sogar die
Behauptung, daß es eine große Thorheit sei, von so etwas zu reden.

Der Unterschied liegt also darin, daß die einen eine transcendemale
Fähigkeit zur Erzeugung von Vorstellungen im Raume bei jeder Sinnesempfin-
dung voraussetzen, die andern aber diese Fähigkeit entweder geradezu leugnen
oder wenigstens keinen Gebrauch davon machen. Der Grund dieser Differenz
könnte nun vielleicht darin liegen, daß über die Bedeutung des Wortes tran¬
scendental, wie das ja mit dem Kantschen Sprachgebrauch öfter gegangen ist,
keine allseitige Klarheit herrschte. Giebt es doch thatsächlich hochgebildete Ärzte
und Physiologen, die der festen Überzeugung leben, daß weder Kant noch irgend
jemand sonst über die Bedeutung dieses Wortes völlig klar gewesen sei. Ja
es sind uns sogar echte Philosophieprofessoren vorgekommen, die dieselbe
Meinung geäußert haben. Darum ist es sehr nötig, daß man es deutlich macht.
Natürlich ergiebt die sprachliche Abstammung, daß das Wort etwas bezeichnen
soll, was eine Grenze übersteigt, und zwar die Grenze dessen, was wir wissen
können. Diese Eigenschaft würde allein aber transcendere heißen, und von tran¬
scendenter Dingen spricht Kant immer nur völlig verneinend; mit solchen Dingen
hat keine Wissenschaft zu thun. Transcendental soll aber den Zusammenhang
mit etwas Transcendentem andeuten, also etwas, dessen Wurzel transcendere
und unsrer Erkenntnis vollständig entrückt ist, das aber andrerseits doch ge¬
wisse Beziehungen zur Welt der Erscheinungen, welche wir erkennen tonnen,


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0342" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/153789"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Entstehung der sinnlichen Wahrnehmung,</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1484" prev="#ID_1483"> Da Wir nichts wissen von einer transcendentalen Fähigkeit zur Erzeugung von<lb/>
Vorstellungen im Raume, so behaupten wir, daß nicht der Tisch durch die<lb/>
Nervenerregung wahrgenommen wird, sondern nur die Erregung in den Nerven<lb/>
selbst, und von diesen machen wir einen Schluß auf die Ursache des Druckes,<lb/>
Ob der Tisch aber gerade so wirklich ist, wie wir nun schließen, ob er dieselbe<lb/>
Härte, Glätte, Form wirklich hat, die wir ihm beilegen, das können wir nicht<lb/>
wissen. Denn unsre Wahrnehmung ist ja nicht das Wesen der Sache selbst, sondern<lb/>
die Erscheinung desselben, die zum größten Teil durch die Art unsrer Nerven-<lb/>
erregung bestimmt ist. Höchstens der ganz tief denkende mathematische Natur¬<lb/>
forscher hält sich noch eine kleine Hinterthür offen, durch die er sich gelegent¬<lb/>
lich einen kleinen Ausblick in das Gebiet der Dinge an sich gestattet. So seltsam<lb/>
es klingt, so ist es doch Thatsache, daß man bei Helmholtz von solchen Phanta¬<lb/>
sien lesen kann. Wir dagegen, die wir Kant folgen, wissen allerdings etwas<lb/>
von einer transcendentalen Fähigkeit, Vorstellungen im Raume zu erzeugen,<lb/>
welche dnrch den Eindruck auf die Siunesnervcn zur That gezwungen wird.<lb/>
Wir tasten alsdann den Tisch selbst genau so hart, so glatt und in der Form,<lb/>
die er wirklich hat, und ruhen nicht eher aus, die tastenden Hände an ihm und<lb/>
gegen ihn zu bewegen, bis wir feilte wahren Eigenschaften richtig erkannt haben.<lb/>
Von einem etwa dahinter befindlichen Tische an sich, oder von einer Vorstellung<lb/>
in unsern Nerven und in unserm Gehirn, die wir mit dem wirklichen Tisch ver¬<lb/>
gleichen müßten, haben wir nie etwas gehört, und erlauben uns sogar die<lb/>
Behauptung, daß es eine große Thorheit sei, von so etwas zu reden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1485" next="#ID_1486"> Der Unterschied liegt also darin, daß die einen eine transcendemale<lb/>
Fähigkeit zur Erzeugung von Vorstellungen im Raume bei jeder Sinnesempfin-<lb/>
dung voraussetzen, die andern aber diese Fähigkeit entweder geradezu leugnen<lb/>
oder wenigstens keinen Gebrauch davon machen. Der Grund dieser Differenz<lb/>
könnte nun vielleicht darin liegen, daß über die Bedeutung des Wortes tran¬<lb/>
scendental, wie das ja mit dem Kantschen Sprachgebrauch öfter gegangen ist,<lb/>
keine allseitige Klarheit herrschte. Giebt es doch thatsächlich hochgebildete Ärzte<lb/>
und Physiologen, die der festen Überzeugung leben, daß weder Kant noch irgend<lb/>
jemand sonst über die Bedeutung dieses Wortes völlig klar gewesen sei. Ja<lb/>
es sind uns sogar echte Philosophieprofessoren vorgekommen, die dieselbe<lb/>
Meinung geäußert haben. Darum ist es sehr nötig, daß man es deutlich macht.<lb/>
Natürlich ergiebt die sprachliche Abstammung, daß das Wort etwas bezeichnen<lb/>
soll, was eine Grenze übersteigt, und zwar die Grenze dessen, was wir wissen<lb/>
können. Diese Eigenschaft würde allein aber transcendere heißen, und von tran¬<lb/>
scendenter Dingen spricht Kant immer nur völlig verneinend; mit solchen Dingen<lb/>
hat keine Wissenschaft zu thun. Transcendental soll aber den Zusammenhang<lb/>
mit etwas Transcendentem andeuten, also etwas, dessen Wurzel transcendere<lb/>
und unsrer Erkenntnis vollständig entrückt ist, das aber andrerseits doch ge¬<lb/>
wisse Beziehungen zur Welt der Erscheinungen, welche wir erkennen tonnen,</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0342] Die Entstehung der sinnlichen Wahrnehmung, Da Wir nichts wissen von einer transcendentalen Fähigkeit zur Erzeugung von Vorstellungen im Raume, so behaupten wir, daß nicht der Tisch durch die Nervenerregung wahrgenommen wird, sondern nur die Erregung in den Nerven selbst, und von diesen machen wir einen Schluß auf die Ursache des Druckes, Ob der Tisch aber gerade so wirklich ist, wie wir nun schließen, ob er dieselbe Härte, Glätte, Form wirklich hat, die wir ihm beilegen, das können wir nicht wissen. Denn unsre Wahrnehmung ist ja nicht das Wesen der Sache selbst, sondern die Erscheinung desselben, die zum größten Teil durch die Art unsrer Nerven- erregung bestimmt ist. Höchstens der ganz tief denkende mathematische Natur¬ forscher hält sich noch eine kleine Hinterthür offen, durch die er sich gelegent¬ lich einen kleinen Ausblick in das Gebiet der Dinge an sich gestattet. So seltsam es klingt, so ist es doch Thatsache, daß man bei Helmholtz von solchen Phanta¬ sien lesen kann. Wir dagegen, die wir Kant folgen, wissen allerdings etwas von einer transcendentalen Fähigkeit, Vorstellungen im Raume zu erzeugen, welche dnrch den Eindruck auf die Siunesnervcn zur That gezwungen wird. Wir tasten alsdann den Tisch selbst genau so hart, so glatt und in der Form, die er wirklich hat, und ruhen nicht eher aus, die tastenden Hände an ihm und gegen ihn zu bewegen, bis wir feilte wahren Eigenschaften richtig erkannt haben. Von einem etwa dahinter befindlichen Tische an sich, oder von einer Vorstellung in unsern Nerven und in unserm Gehirn, die wir mit dem wirklichen Tisch ver¬ gleichen müßten, haben wir nie etwas gehört, und erlauben uns sogar die Behauptung, daß es eine große Thorheit sei, von so etwas zu reden. Der Unterschied liegt also darin, daß die einen eine transcendemale Fähigkeit zur Erzeugung von Vorstellungen im Raume bei jeder Sinnesempfin- dung voraussetzen, die andern aber diese Fähigkeit entweder geradezu leugnen oder wenigstens keinen Gebrauch davon machen. Der Grund dieser Differenz könnte nun vielleicht darin liegen, daß über die Bedeutung des Wortes tran¬ scendental, wie das ja mit dem Kantschen Sprachgebrauch öfter gegangen ist, keine allseitige Klarheit herrschte. Giebt es doch thatsächlich hochgebildete Ärzte und Physiologen, die der festen Überzeugung leben, daß weder Kant noch irgend jemand sonst über die Bedeutung dieses Wortes völlig klar gewesen sei. Ja es sind uns sogar echte Philosophieprofessoren vorgekommen, die dieselbe Meinung geäußert haben. Darum ist es sehr nötig, daß man es deutlich macht. Natürlich ergiebt die sprachliche Abstammung, daß das Wort etwas bezeichnen soll, was eine Grenze übersteigt, und zwar die Grenze dessen, was wir wissen können. Diese Eigenschaft würde allein aber transcendere heißen, und von tran¬ scendenter Dingen spricht Kant immer nur völlig verneinend; mit solchen Dingen hat keine Wissenschaft zu thun. Transcendental soll aber den Zusammenhang mit etwas Transcendentem andeuten, also etwas, dessen Wurzel transcendere und unsrer Erkenntnis vollständig entrückt ist, das aber andrerseits doch ge¬ wisse Beziehungen zur Welt der Erscheinungen, welche wir erkennen tonnen,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_153446
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_153446/342
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_153446/342>, abgerufen am 08.09.2024.