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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal.

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Die Entstehung der sinnlichen !vcchr"ehmung.

Die Dinge außer uns wirken nicht so auf uns ein, daß wir irgend eine be¬
liebige Vorstellung in unserm Kopfe erzeugen, die gar keine Ähnlichkeit mit ihnen
selbst hat, sondern so, daß wir sie vorstellen müssen, wie sie wirklich sind,
natürlich im Verhältnis zu uns; denn wie sie ohne unsre Anschauungsformen
sein würden, das ist eine thörichte, müßige Frage, deren Beantwortung gar kein
Interesse für uns haben kann. Die Dinge in der Welt find unsre Vorstellungen,
und es ist thöricht, von Vorstellungen in unserm Kopfe zu reden, die mehr oder
weniger Ähnlichkeit mit den Dingen hätten.

Noch bei Lotze, der doch gewiß zu den bedeutendsten Kennern der Er-
fahrungs- und Geisteswissenschaften gezählt werden muß, finden wir das Wort
Vorstellung in ganz andrer Bedeutung gebraucht. Er sagt (Grundzüge der
Psychologie, 1881): "Vorstellungen, im Gegensatz zu Empfindungen, nennen wir
zunächst die Erinnerungsbilder, die wir von frühern Empfindungen im Bewußt¬
sein antreffen. Dies ist in Übereinstimmung mit dem Sprachgebrauch: wir stellen
das Abwesende vor, das wir nicht empfinden, empfinden aber das Anwesende,
das wir eben deswegen nicht vorzustellen brauchen." Kants Sprachgebrauch
ist aber ein ganz andrer, und da es bei allen streitigen Fragen die erste Be¬
dingung für eine endgiltige Entscheidung ist,-sich über die Bedeutung der ge¬
brauchten Wörter zu verständigen, so müssen wir erst feststellen, was denn Kant
mit dein Worte Vorstellung gemeint hat. Nun hat aber Vorstellung bei ihm
eine viel allgemeinere Bedeutung und geht geradezu auf alle Produkte jeder
geistigen Thätigkeit. Anschauungen und Begriffe, empirische und reine, alle
werden gelegentlich unter den gemeinsamen Begriff Vorstellung untergeordnet.
Das wesentliche Merkmal einer Vorstellung ist bei Kant, daß sie auf einer
Thätigkeit von mir, d. i. des menschlichen Geistes, beruhen muß. Aber wie alle
derartig gebildeten Substantiva im Dentschen ebensowohl die Thätigkeit wie
das Produkt der Thätigkeit bezeichnen, so ist bei Kant auch das Produkt der
vorstellenden Thätigkeit meine Vorstellung. Darum ist der Gegenstand meiner
Empfindung auch meine Vorstellung, denn daß ich ihn empfinde, beruht auf
einer Thätigkeit vou mir. Die Erregung eines Sinnesorgans, wie z. B. der
Tastnerven in der Hand, zwingt mich zu der Vorstellung, daß etwas im Raume
nußer mir sei. So lauge dies Etwas noch völlig unbestimmt und mir un¬
bekannt ist, nennen wir den Vorgang Empfindung; brauche ich aber meine Ver-
ftandesfunktiouen, die in diesem Falle von Kant auch Einbildungskraft genannt
werden, um dies Etwas mit alle" möglichen Hilfsmitteln zu bestimmen, so
nennen wir das letztere die Wahrnehmung. Die Empfindung und die Wahr¬
nehmung sind aber beides Vorstellungen, uur dadurch unterschieden, daß der
Gegenstand derselben das einemal noch unbestimmt, das andremal bestimmt und
bekannt ist.

Nichts ist so abgeschmackt, als zu sagen, es wäre das Ding an sich,
welches die Sinnesorgane reizt, sodaß wir auf Grund unsrer Empfindung eine


Die Entstehung der sinnlichen !vcchr»ehmung.

Die Dinge außer uns wirken nicht so auf uns ein, daß wir irgend eine be¬
liebige Vorstellung in unserm Kopfe erzeugen, die gar keine Ähnlichkeit mit ihnen
selbst hat, sondern so, daß wir sie vorstellen müssen, wie sie wirklich sind,
natürlich im Verhältnis zu uns; denn wie sie ohne unsre Anschauungsformen
sein würden, das ist eine thörichte, müßige Frage, deren Beantwortung gar kein
Interesse für uns haben kann. Die Dinge in der Welt find unsre Vorstellungen,
und es ist thöricht, von Vorstellungen in unserm Kopfe zu reden, die mehr oder
weniger Ähnlichkeit mit den Dingen hätten.

Noch bei Lotze, der doch gewiß zu den bedeutendsten Kennern der Er-
fahrungs- und Geisteswissenschaften gezählt werden muß, finden wir das Wort
Vorstellung in ganz andrer Bedeutung gebraucht. Er sagt (Grundzüge der
Psychologie, 1881): „Vorstellungen, im Gegensatz zu Empfindungen, nennen wir
zunächst die Erinnerungsbilder, die wir von frühern Empfindungen im Bewußt¬
sein antreffen. Dies ist in Übereinstimmung mit dem Sprachgebrauch: wir stellen
das Abwesende vor, das wir nicht empfinden, empfinden aber das Anwesende,
das wir eben deswegen nicht vorzustellen brauchen." Kants Sprachgebrauch
ist aber ein ganz andrer, und da es bei allen streitigen Fragen die erste Be¬
dingung für eine endgiltige Entscheidung ist,-sich über die Bedeutung der ge¬
brauchten Wörter zu verständigen, so müssen wir erst feststellen, was denn Kant
mit dein Worte Vorstellung gemeint hat. Nun hat aber Vorstellung bei ihm
eine viel allgemeinere Bedeutung und geht geradezu auf alle Produkte jeder
geistigen Thätigkeit. Anschauungen und Begriffe, empirische und reine, alle
werden gelegentlich unter den gemeinsamen Begriff Vorstellung untergeordnet.
Das wesentliche Merkmal einer Vorstellung ist bei Kant, daß sie auf einer
Thätigkeit von mir, d. i. des menschlichen Geistes, beruhen muß. Aber wie alle
derartig gebildeten Substantiva im Dentschen ebensowohl die Thätigkeit wie
das Produkt der Thätigkeit bezeichnen, so ist bei Kant auch das Produkt der
vorstellenden Thätigkeit meine Vorstellung. Darum ist der Gegenstand meiner
Empfindung auch meine Vorstellung, denn daß ich ihn empfinde, beruht auf
einer Thätigkeit vou mir. Die Erregung eines Sinnesorgans, wie z. B. der
Tastnerven in der Hand, zwingt mich zu der Vorstellung, daß etwas im Raume
nußer mir sei. So lauge dies Etwas noch völlig unbestimmt und mir un¬
bekannt ist, nennen wir den Vorgang Empfindung; brauche ich aber meine Ver-
ftandesfunktiouen, die in diesem Falle von Kant auch Einbildungskraft genannt
werden, um dies Etwas mit alle» möglichen Hilfsmitteln zu bestimmen, so
nennen wir das letztere die Wahrnehmung. Die Empfindung und die Wahr¬
nehmung sind aber beides Vorstellungen, uur dadurch unterschieden, daß der
Gegenstand derselben das einemal noch unbestimmt, das andremal bestimmt und
bekannt ist.

Nichts ist so abgeschmackt, als zu sagen, es wäre das Ding an sich,
welches die Sinnesorgane reizt, sodaß wir auf Grund unsrer Empfindung eine


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[0340] Die Entstehung der sinnlichen !vcchr»ehmung. Die Dinge außer uns wirken nicht so auf uns ein, daß wir irgend eine be¬ liebige Vorstellung in unserm Kopfe erzeugen, die gar keine Ähnlichkeit mit ihnen selbst hat, sondern so, daß wir sie vorstellen müssen, wie sie wirklich sind, natürlich im Verhältnis zu uns; denn wie sie ohne unsre Anschauungsformen sein würden, das ist eine thörichte, müßige Frage, deren Beantwortung gar kein Interesse für uns haben kann. Die Dinge in der Welt find unsre Vorstellungen, und es ist thöricht, von Vorstellungen in unserm Kopfe zu reden, die mehr oder weniger Ähnlichkeit mit den Dingen hätten. Noch bei Lotze, der doch gewiß zu den bedeutendsten Kennern der Er- fahrungs- und Geisteswissenschaften gezählt werden muß, finden wir das Wort Vorstellung in ganz andrer Bedeutung gebraucht. Er sagt (Grundzüge der Psychologie, 1881): „Vorstellungen, im Gegensatz zu Empfindungen, nennen wir zunächst die Erinnerungsbilder, die wir von frühern Empfindungen im Bewußt¬ sein antreffen. Dies ist in Übereinstimmung mit dem Sprachgebrauch: wir stellen das Abwesende vor, das wir nicht empfinden, empfinden aber das Anwesende, das wir eben deswegen nicht vorzustellen brauchen." Kants Sprachgebrauch ist aber ein ganz andrer, und da es bei allen streitigen Fragen die erste Be¬ dingung für eine endgiltige Entscheidung ist,-sich über die Bedeutung der ge¬ brauchten Wörter zu verständigen, so müssen wir erst feststellen, was denn Kant mit dein Worte Vorstellung gemeint hat. Nun hat aber Vorstellung bei ihm eine viel allgemeinere Bedeutung und geht geradezu auf alle Produkte jeder geistigen Thätigkeit. Anschauungen und Begriffe, empirische und reine, alle werden gelegentlich unter den gemeinsamen Begriff Vorstellung untergeordnet. Das wesentliche Merkmal einer Vorstellung ist bei Kant, daß sie auf einer Thätigkeit von mir, d. i. des menschlichen Geistes, beruhen muß. Aber wie alle derartig gebildeten Substantiva im Dentschen ebensowohl die Thätigkeit wie das Produkt der Thätigkeit bezeichnen, so ist bei Kant auch das Produkt der vorstellenden Thätigkeit meine Vorstellung. Darum ist der Gegenstand meiner Empfindung auch meine Vorstellung, denn daß ich ihn empfinde, beruht auf einer Thätigkeit vou mir. Die Erregung eines Sinnesorgans, wie z. B. der Tastnerven in der Hand, zwingt mich zu der Vorstellung, daß etwas im Raume nußer mir sei. So lauge dies Etwas noch völlig unbestimmt und mir un¬ bekannt ist, nennen wir den Vorgang Empfindung; brauche ich aber meine Ver- ftandesfunktiouen, die in diesem Falle von Kant auch Einbildungskraft genannt werden, um dies Etwas mit alle» möglichen Hilfsmitteln zu bestimmen, so nennen wir das letztere die Wahrnehmung. Die Empfindung und die Wahr¬ nehmung sind aber beides Vorstellungen, uur dadurch unterschieden, daß der Gegenstand derselben das einemal noch unbestimmt, das andremal bestimmt und bekannt ist. Nichts ist so abgeschmackt, als zu sagen, es wäre das Ding an sich, welches die Sinnesorgane reizt, sodaß wir auf Grund unsrer Empfindung eine

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_153446/340>, abgerufen am 08.09.2024.