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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal.

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Die Entstehung der sinnlichen Wahrnehmung.

mehr erfahren; vom Geist aber wissen wir nichts, selbst die Philosophen sind
nicht einig über seine Natur, die Existenz des Geistes kann uns bisher niemand
beweisen. Folglich bleibe es vorläufig dahingestellt, ob er wirklich existirt oder
nicht; wir gehen deu sichern Weg, zunächst die Thatsachen der Körperwelt zu
erforschen, von da aus mag uns vielleicht manchmal auch ein Einblick in die
problematische Welt des Geistes gelingen. Vielleicht gelingt es einmal, das
Gehirn eines lebenden Menschen durchsichtig zu machen, sodaß wir dann die
Thätigkeit des Gehirns und seine Art, geistige Thätigkeit hervorzubringen, direkt
studieren können.

Aber ist es denn wirklich wahr, daß wir vom Geist nichts wissen und
wissen können? Wenn es so wäre, dann wollten wir gern dem Materialismus
die Ehre erweisen, ihn wenigstens eine berechtigte Hypothese zu nennen, die
noch einmal von der Zukunft die Bestätigung erwarten könne. Denn müßten
die beiden Anschauungen, die eine, welche den Geist hoch hält und die Körper¬
welt ins Reich der unsicher" Täuschung verweist, und die andre, welche die
Körperwelt sür das einzig Sichere, Wirkliche und Reale hält, ewig mit einander
streiten, und es gäbe niemals Frieden zwischen ihnen. Aber es ist ja die
vollendete Unwahrheit, hundert Jahre, nachdem Kant die Kritik der reinen Ver¬
nunft geschrieben, noch zu erklären, daß wir von dem Verhältnis des mensch¬
lichen Geistes zur Körperwelt nichts wüßten. Freilich was die deutschen Pro¬
fessoren im Laufe der Zeit aus dem Werke Kants gemacht haben, ein gutes
Buch zur Schärfung des Verstandes, weil es sehr dunkel und schwer zu ver¬
stehen und bei Leibe nicht anzuwenden sei auf praktische Zwecke irgend einer
Wissenschaft, das würde uns wenig helfen. Allein das Echte und Wahre kann
doch nicht immer unterdrückt werden. Wohl sagt Goethe:


Sag, wie könnten wir das Wahre,
Denn es ist uns ungelegen,
Niederlegen auf die Bahre,
Daß es nie sich möchte regen?
Diese Mühe wird nicht groß sein
Kultivirten deutschen Orten.
Wollt ihr es auf ewig los sein,
So erstickt es nur mit Worten.

Und das Möglichste hat man in der That in diesem Sinne an Kant geleistet.
Aber so streng darf man dies "ewig" doch nicht auslegen; hundert Jahre siud
doch auch eine recht erhebliche Zeit im Fortschritt der Wissenschaften. Und das
Bedürfnis, einmal Ernst zu machen mit dem Kantstudium, ist aus mannichfachen
Zeichen der Zeit deutlich zu ersehen.

Zwar die eigentlichen Fachgelehrten in jeder Wissenschaft wollen noch wenig
von einem solchen Bedürfnis zugeben. Am wenigsten vielleicht gestehen die
Naturwissenschaften zu, daß sie irgendwo in ihrem Fortschritt gehemmt seien und


Die Entstehung der sinnlichen Wahrnehmung.

mehr erfahren; vom Geist aber wissen wir nichts, selbst die Philosophen sind
nicht einig über seine Natur, die Existenz des Geistes kann uns bisher niemand
beweisen. Folglich bleibe es vorläufig dahingestellt, ob er wirklich existirt oder
nicht; wir gehen deu sichern Weg, zunächst die Thatsachen der Körperwelt zu
erforschen, von da aus mag uns vielleicht manchmal auch ein Einblick in die
problematische Welt des Geistes gelingen. Vielleicht gelingt es einmal, das
Gehirn eines lebenden Menschen durchsichtig zu machen, sodaß wir dann die
Thätigkeit des Gehirns und seine Art, geistige Thätigkeit hervorzubringen, direkt
studieren können.

Aber ist es denn wirklich wahr, daß wir vom Geist nichts wissen und
wissen können? Wenn es so wäre, dann wollten wir gern dem Materialismus
die Ehre erweisen, ihn wenigstens eine berechtigte Hypothese zu nennen, die
noch einmal von der Zukunft die Bestätigung erwarten könne. Denn müßten
die beiden Anschauungen, die eine, welche den Geist hoch hält und die Körper¬
welt ins Reich der unsicher» Täuschung verweist, und die andre, welche die
Körperwelt sür das einzig Sichere, Wirkliche und Reale hält, ewig mit einander
streiten, und es gäbe niemals Frieden zwischen ihnen. Aber es ist ja die
vollendete Unwahrheit, hundert Jahre, nachdem Kant die Kritik der reinen Ver¬
nunft geschrieben, noch zu erklären, daß wir von dem Verhältnis des mensch¬
lichen Geistes zur Körperwelt nichts wüßten. Freilich was die deutschen Pro¬
fessoren im Laufe der Zeit aus dem Werke Kants gemacht haben, ein gutes
Buch zur Schärfung des Verstandes, weil es sehr dunkel und schwer zu ver¬
stehen und bei Leibe nicht anzuwenden sei auf praktische Zwecke irgend einer
Wissenschaft, das würde uns wenig helfen. Allein das Echte und Wahre kann
doch nicht immer unterdrückt werden. Wohl sagt Goethe:


Sag, wie könnten wir das Wahre,
Denn es ist uns ungelegen,
Niederlegen auf die Bahre,
Daß es nie sich möchte regen?
Diese Mühe wird nicht groß sein
Kultivirten deutschen Orten.
Wollt ihr es auf ewig los sein,
So erstickt es nur mit Worten.

Und das Möglichste hat man in der That in diesem Sinne an Kant geleistet.
Aber so streng darf man dies „ewig" doch nicht auslegen; hundert Jahre siud
doch auch eine recht erhebliche Zeit im Fortschritt der Wissenschaften. Und das
Bedürfnis, einmal Ernst zu machen mit dem Kantstudium, ist aus mannichfachen
Zeichen der Zeit deutlich zu ersehen.

Zwar die eigentlichen Fachgelehrten in jeder Wissenschaft wollen noch wenig
von einem solchen Bedürfnis zugeben. Am wenigsten vielleicht gestehen die
Naturwissenschaften zu, daß sie irgendwo in ihrem Fortschritt gehemmt seien und


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[0338] Die Entstehung der sinnlichen Wahrnehmung. mehr erfahren; vom Geist aber wissen wir nichts, selbst die Philosophen sind nicht einig über seine Natur, die Existenz des Geistes kann uns bisher niemand beweisen. Folglich bleibe es vorläufig dahingestellt, ob er wirklich existirt oder nicht; wir gehen deu sichern Weg, zunächst die Thatsachen der Körperwelt zu erforschen, von da aus mag uns vielleicht manchmal auch ein Einblick in die problematische Welt des Geistes gelingen. Vielleicht gelingt es einmal, das Gehirn eines lebenden Menschen durchsichtig zu machen, sodaß wir dann die Thätigkeit des Gehirns und seine Art, geistige Thätigkeit hervorzubringen, direkt studieren können. Aber ist es denn wirklich wahr, daß wir vom Geist nichts wissen und wissen können? Wenn es so wäre, dann wollten wir gern dem Materialismus die Ehre erweisen, ihn wenigstens eine berechtigte Hypothese zu nennen, die noch einmal von der Zukunft die Bestätigung erwarten könne. Denn müßten die beiden Anschauungen, die eine, welche den Geist hoch hält und die Körper¬ welt ins Reich der unsicher» Täuschung verweist, und die andre, welche die Körperwelt sür das einzig Sichere, Wirkliche und Reale hält, ewig mit einander streiten, und es gäbe niemals Frieden zwischen ihnen. Aber es ist ja die vollendete Unwahrheit, hundert Jahre, nachdem Kant die Kritik der reinen Ver¬ nunft geschrieben, noch zu erklären, daß wir von dem Verhältnis des mensch¬ lichen Geistes zur Körperwelt nichts wüßten. Freilich was die deutschen Pro¬ fessoren im Laufe der Zeit aus dem Werke Kants gemacht haben, ein gutes Buch zur Schärfung des Verstandes, weil es sehr dunkel und schwer zu ver¬ stehen und bei Leibe nicht anzuwenden sei auf praktische Zwecke irgend einer Wissenschaft, das würde uns wenig helfen. Allein das Echte und Wahre kann doch nicht immer unterdrückt werden. Wohl sagt Goethe: Sag, wie könnten wir das Wahre, Denn es ist uns ungelegen, Niederlegen auf die Bahre, Daß es nie sich möchte regen? Diese Mühe wird nicht groß sein Kultivirten deutschen Orten. Wollt ihr es auf ewig los sein, So erstickt es nur mit Worten. Und das Möglichste hat man in der That in diesem Sinne an Kant geleistet. Aber so streng darf man dies „ewig" doch nicht auslegen; hundert Jahre siud doch auch eine recht erhebliche Zeit im Fortschritt der Wissenschaften. Und das Bedürfnis, einmal Ernst zu machen mit dem Kantstudium, ist aus mannichfachen Zeichen der Zeit deutlich zu ersehen. Zwar die eigentlichen Fachgelehrten in jeder Wissenschaft wollen noch wenig von einem solchen Bedürfnis zugeben. Am wenigsten vielleicht gestehen die Naturwissenschaften zu, daß sie irgendwo in ihrem Fortschritt gehemmt seien und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_153446/338>, abgerufen am 08.09.2024.