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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal.

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"österreichische !Virreil.

in Wien und Ofen, der ungarische Adel bleibt in Buda-Pest, der tschechische
in Prag, der polnische in Lemberg, und die von jeher rege Eifersucht der
Provinzen erwirkt fort und fort Maßregeln, durch welche Wien noch mehr
geschädigt, als die Kronlandshcmptstädte gefördert werden. Wenn es gilt, Opfer
für das Ganze zu bringen, räumt man willig Wien den ersten Platz ein, dann
ist es wieder der Reichshauptort und hat die schone Pflicht, den bescheidenem
Schwestern voranzuleuchten; in allem übrigen sucht man es zur Hauptstadt von
Österreich unter der Enns zu erniedrigen. Sehr scharfsinnig wird aufgespürt,
welche Vorteile Wien als Sitz der Zentralbehörden genießt, und wird der ge¬
bührende Anteil daran gefordert; von den Leistungen, welche in die andre
Wagschale fallen, ist nie die Rede. Und zwar datiren solche Bestrebungen nicht
von gestern und heute, schon zu Schmerlings Zeit mißgönnten die Landboten,
den berühmten Herrn Herbst an der Spitze, dem Lande Niederösterreich die
Zuschlage zu dem Steuererträgnis von den Eisenbahngesellschaften, die in Wien
ihren Sitz haben. Damals hatten wir es mit "Zentralisten" zu thun; darf
es wunder nehmen, daß die Autonomisten in ihre Fußtapfen treten? Andre
Ursachen für das Sinken des Wohlstandes kommen hinzu. Wien ist wegen
seiner östlichen Lage niemals bevorzugtes Ziel der Touristen gewesen, auch die
Pilger nach Italien machen nur noch ausnahmsweise den Umweg über Wien,
gegenwärtig wird es so wenig besucht, daß täglich in der Presse, in Versamm¬
lungen u. s. w. über diese befremdliche Erscheinung verhandelt wird und ein
eigner Verein "zur Hebung des Fremdenverkehrs" täglich neue Abgeschmackt¬
heiten aufs Tapet bringt. Die Wahrheit ist, daß Wien zu den allerteuersten
Städten gehört, und zwar infolge des unglücklichen Steuersystems und des
geradezu erbärmlichen Zustandes der Versorgung mit Lebensmitteln, und daß
den Fremden für das viele Geld zu wenig geboten wird. Im hohen Sommer
werden sämtliche Theater bis auf eine sogenannte Volksbühne im Prater geschlossen;
wo soll der Fremde bei ungünstigem Wetter die Abende verbringen? Ist es schön,
so könnte ihn die herrliche Umgegend entschädigen, aber nach zehn Uhr findet er
zur Rückkehr keine Fahrgelegenheit außer den Fiakern mit ihren Apothekerpreisen.
Für den Einheimischen beginnt das Leben früher als in andern Großstädten und
endigt demgemäß auch zeitiger; daß andre andre Gewohnheiten haben, das scheint
den Wienern nicht einleuchten zu wollen. Ehemals gab es eine Menge von
Belustigungsorten, die mit ihrem harmlosen, ungezwungner Treiben jeden Aus¬
länder anzogen, großenteils Weltruf hatten; sie sind verschwunden, und was an
deren Stelle getreten, kann nur als schlechte Kopie von Pariser Etablissements
gelten, wo die Kokotte und der jüdische Kommis ihr Wesen treiben Der alt-
berühmte Wiener Humor ist an solchen Orten so wenig wie in den Theatern
hente zu entdecken. Viel könnten zur Besserung die städtischen Behörden bei¬
tragen, aber, sei es Ungeschick oder was sonst, sie greifen die Dinge fast regel¬
mäßig am verkehrten Ende an. Kommt die "Approvisionirung" -- dieser schöne


«österreichische !Virreil.

in Wien und Ofen, der ungarische Adel bleibt in Buda-Pest, der tschechische
in Prag, der polnische in Lemberg, und die von jeher rege Eifersucht der
Provinzen erwirkt fort und fort Maßregeln, durch welche Wien noch mehr
geschädigt, als die Kronlandshcmptstädte gefördert werden. Wenn es gilt, Opfer
für das Ganze zu bringen, räumt man willig Wien den ersten Platz ein, dann
ist es wieder der Reichshauptort und hat die schone Pflicht, den bescheidenem
Schwestern voranzuleuchten; in allem übrigen sucht man es zur Hauptstadt von
Österreich unter der Enns zu erniedrigen. Sehr scharfsinnig wird aufgespürt,
welche Vorteile Wien als Sitz der Zentralbehörden genießt, und wird der ge¬
bührende Anteil daran gefordert; von den Leistungen, welche in die andre
Wagschale fallen, ist nie die Rede. Und zwar datiren solche Bestrebungen nicht
von gestern und heute, schon zu Schmerlings Zeit mißgönnten die Landboten,
den berühmten Herrn Herbst an der Spitze, dem Lande Niederösterreich die
Zuschlage zu dem Steuererträgnis von den Eisenbahngesellschaften, die in Wien
ihren Sitz haben. Damals hatten wir es mit „Zentralisten" zu thun; darf
es wunder nehmen, daß die Autonomisten in ihre Fußtapfen treten? Andre
Ursachen für das Sinken des Wohlstandes kommen hinzu. Wien ist wegen
seiner östlichen Lage niemals bevorzugtes Ziel der Touristen gewesen, auch die
Pilger nach Italien machen nur noch ausnahmsweise den Umweg über Wien,
gegenwärtig wird es so wenig besucht, daß täglich in der Presse, in Versamm¬
lungen u. s. w. über diese befremdliche Erscheinung verhandelt wird und ein
eigner Verein „zur Hebung des Fremdenverkehrs" täglich neue Abgeschmackt¬
heiten aufs Tapet bringt. Die Wahrheit ist, daß Wien zu den allerteuersten
Städten gehört, und zwar infolge des unglücklichen Steuersystems und des
geradezu erbärmlichen Zustandes der Versorgung mit Lebensmitteln, und daß
den Fremden für das viele Geld zu wenig geboten wird. Im hohen Sommer
werden sämtliche Theater bis auf eine sogenannte Volksbühne im Prater geschlossen;
wo soll der Fremde bei ungünstigem Wetter die Abende verbringen? Ist es schön,
so könnte ihn die herrliche Umgegend entschädigen, aber nach zehn Uhr findet er
zur Rückkehr keine Fahrgelegenheit außer den Fiakern mit ihren Apothekerpreisen.
Für den Einheimischen beginnt das Leben früher als in andern Großstädten und
endigt demgemäß auch zeitiger; daß andre andre Gewohnheiten haben, das scheint
den Wienern nicht einleuchten zu wollen. Ehemals gab es eine Menge von
Belustigungsorten, die mit ihrem harmlosen, ungezwungner Treiben jeden Aus¬
länder anzogen, großenteils Weltruf hatten; sie sind verschwunden, und was an
deren Stelle getreten, kann nur als schlechte Kopie von Pariser Etablissements
gelten, wo die Kokotte und der jüdische Kommis ihr Wesen treiben Der alt-
berühmte Wiener Humor ist an solchen Orten so wenig wie in den Theatern
hente zu entdecken. Viel könnten zur Besserung die städtischen Behörden bei¬
tragen, aber, sei es Ungeschick oder was sonst, sie greifen die Dinge fast regel¬
mäßig am verkehrten Ende an. Kommt die „Approvisionirung" — dieser schöne


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[0330] «österreichische !Virreil. in Wien und Ofen, der ungarische Adel bleibt in Buda-Pest, der tschechische in Prag, der polnische in Lemberg, und die von jeher rege Eifersucht der Provinzen erwirkt fort und fort Maßregeln, durch welche Wien noch mehr geschädigt, als die Kronlandshcmptstädte gefördert werden. Wenn es gilt, Opfer für das Ganze zu bringen, räumt man willig Wien den ersten Platz ein, dann ist es wieder der Reichshauptort und hat die schone Pflicht, den bescheidenem Schwestern voranzuleuchten; in allem übrigen sucht man es zur Hauptstadt von Österreich unter der Enns zu erniedrigen. Sehr scharfsinnig wird aufgespürt, welche Vorteile Wien als Sitz der Zentralbehörden genießt, und wird der ge¬ bührende Anteil daran gefordert; von den Leistungen, welche in die andre Wagschale fallen, ist nie die Rede. Und zwar datiren solche Bestrebungen nicht von gestern und heute, schon zu Schmerlings Zeit mißgönnten die Landboten, den berühmten Herrn Herbst an der Spitze, dem Lande Niederösterreich die Zuschlage zu dem Steuererträgnis von den Eisenbahngesellschaften, die in Wien ihren Sitz haben. Damals hatten wir es mit „Zentralisten" zu thun; darf es wunder nehmen, daß die Autonomisten in ihre Fußtapfen treten? Andre Ursachen für das Sinken des Wohlstandes kommen hinzu. Wien ist wegen seiner östlichen Lage niemals bevorzugtes Ziel der Touristen gewesen, auch die Pilger nach Italien machen nur noch ausnahmsweise den Umweg über Wien, gegenwärtig wird es so wenig besucht, daß täglich in der Presse, in Versamm¬ lungen u. s. w. über diese befremdliche Erscheinung verhandelt wird und ein eigner Verein „zur Hebung des Fremdenverkehrs" täglich neue Abgeschmackt¬ heiten aufs Tapet bringt. Die Wahrheit ist, daß Wien zu den allerteuersten Städten gehört, und zwar infolge des unglücklichen Steuersystems und des geradezu erbärmlichen Zustandes der Versorgung mit Lebensmitteln, und daß den Fremden für das viele Geld zu wenig geboten wird. Im hohen Sommer werden sämtliche Theater bis auf eine sogenannte Volksbühne im Prater geschlossen; wo soll der Fremde bei ungünstigem Wetter die Abende verbringen? Ist es schön, so könnte ihn die herrliche Umgegend entschädigen, aber nach zehn Uhr findet er zur Rückkehr keine Fahrgelegenheit außer den Fiakern mit ihren Apothekerpreisen. Für den Einheimischen beginnt das Leben früher als in andern Großstädten und endigt demgemäß auch zeitiger; daß andre andre Gewohnheiten haben, das scheint den Wienern nicht einleuchten zu wollen. Ehemals gab es eine Menge von Belustigungsorten, die mit ihrem harmlosen, ungezwungner Treiben jeden Aus¬ länder anzogen, großenteils Weltruf hatten; sie sind verschwunden, und was an deren Stelle getreten, kann nur als schlechte Kopie von Pariser Etablissements gelten, wo die Kokotte und der jüdische Kommis ihr Wesen treiben Der alt- berühmte Wiener Humor ist an solchen Orten so wenig wie in den Theatern hente zu entdecken. Viel könnten zur Besserung die städtischen Behörden bei¬ tragen, aber, sei es Ungeschick oder was sonst, sie greifen die Dinge fast regel¬ mäßig am verkehrten Ende an. Kommt die „Approvisionirung" — dieser schöne

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_153446/330>, abgerufen am 08.09.2024.