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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal.

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Glosse" zu den modernen Kreditbestrebnngen.

Kenntnis der wirtschaftlichen Lage gegen den Schluß des vierzehnten Jahrhunderts
muß man jene Aufhebung der "Judenschulden" als eine so notwendige, sozial-
retterische bezeichnen, daß sie sogar ihrem Urheber das Kennzeichen politischer
Größe und Entschlossenheit geben konnte. Wenzel indeß war dieser Urheber
nicht. Es hat nur gewissen Leuten, die ausschließlich als genial und "moralisch"
stempeln möchten, was in ihren und der ihrigen Geldbeutel arbeitet, gefallen,
den übeln Ruf, in den König Wenzel ziemlich schuldlos geraten ist, zur Vogel¬
scheuche aufzuputzen.

Die Aufhebung der "Judenschulden" war gegen das Ende des vierzehnten
Jahrhunderts unbedingt notwendig geworden. Sie entsprang nicht dem Willen
eines Einzelnen, sondern der Stimmung und Forderung der Gesamtbevölkerung.
Das gesamte wirtschaftliche Leben in den betreffenden Landesteilen drohte unter
der Last jener schulde" zu stocken, und eine gewaltsame Revolution die ihre
blutige Schärfe unausbleiblich gegen die Juden gekehrt haben würde, wäre
ohne jene Maßnahme sicher gewesen. Diese Revolution hatte sogar schon einen
Vorschein an dem blutigen Angriff, der am 18. April 1389 sich gegen die
Juden in Prag richtete und der den gegen sie angehäuften Haß zu unheimlichem
Ausdruck brachte. Daß dieser Haß lediglich materielle, wirtschaftliche Gründe
hatte, wird zwar oft in Abrede zu stellen gesucht, ist aber durch die Thatsachen
so sicher bewiesen, daß nur die größte Oberflächlichkeit sich darüber täusche" und
daß nnr das selbstsüchtigste Interesse, welches über die Sclbstberechtiguug völlig
blind macht, versuchen kann, nach dieser Richtung hin Irrtümer geflissentlich zu
unterhalten. Man darf auch keineswegs annehmen, daß diejenigen, welche an¬
scheinend unter der Maßnahme der Beseitigung der "Judenschulden" (wofür man
heutzutage "Börsenschulden" sagen muß) litten, davon irgend welchen Schaden
gehabt hätten. Der Zinsfuß war zu jener Zeit so hoch, und der wirkliche Betrag
der an die Schuldner geliehenen Summen war so erheblich niedriger als die
verschriebene Summe, daß nach beiden Seiten hin an eine Benachteiligung der
Gläubiger durch den "Bankerott," die "Repudiation" oder wie wir sonst die
Maßnahme vom 16. September 1390 nennen wollen, garnicht zu denken war.
Stieg doch der Zins, den die Schuldner für Darlehen an die Gläubiger zu
zahlen hatten, bis zu 108 Prozent jährlich und hie und da noch höher; in
der Regel betrug er aber 43 Prozent, in manchen Gegenden sogar 78. Die
Höhe des Zinses wurde meist verdeckt durch die übliche wöchentliche Zinszahlung.*)



*) Auch heutzutage ist beim Pfandwncher noch die wöchentliche Zinszahlung, und zwar
mit ebenso ungeheuerlichen Zins wie in jenen Zeiten, üblich. In einem besondern Falle,
der beispielsweise angeführt sei, wurden auf ein Darlehn von 30 Mark 83 Mark nach acht
Tagen zurückgezahlt; dabei bestand der Pfandgcgcnstand aus Uhr mit Kette im Werte von
fast 300 Mark! Leider war der betreffende Darlehnsnehmer -- übrigens ein Beamter, der
derartige Darlehen gegen das Ende seiner Gehaltspcriodc ganz regelmäßig machte -- ge¬
bildet genug, um die soziale Sünde, die er hier beging, einsehen zu können, umsomehr, als
Glosse» zu den modernen Kreditbestrebnngen.

Kenntnis der wirtschaftlichen Lage gegen den Schluß des vierzehnten Jahrhunderts
muß man jene Aufhebung der „Judenschulden" als eine so notwendige, sozial-
retterische bezeichnen, daß sie sogar ihrem Urheber das Kennzeichen politischer
Größe und Entschlossenheit geben konnte. Wenzel indeß war dieser Urheber
nicht. Es hat nur gewissen Leuten, die ausschließlich als genial und „moralisch"
stempeln möchten, was in ihren und der ihrigen Geldbeutel arbeitet, gefallen,
den übeln Ruf, in den König Wenzel ziemlich schuldlos geraten ist, zur Vogel¬
scheuche aufzuputzen.

Die Aufhebung der „Judenschulden" war gegen das Ende des vierzehnten
Jahrhunderts unbedingt notwendig geworden. Sie entsprang nicht dem Willen
eines Einzelnen, sondern der Stimmung und Forderung der Gesamtbevölkerung.
Das gesamte wirtschaftliche Leben in den betreffenden Landesteilen drohte unter
der Last jener schulde» zu stocken, und eine gewaltsame Revolution die ihre
blutige Schärfe unausbleiblich gegen die Juden gekehrt haben würde, wäre
ohne jene Maßnahme sicher gewesen. Diese Revolution hatte sogar schon einen
Vorschein an dem blutigen Angriff, der am 18. April 1389 sich gegen die
Juden in Prag richtete und der den gegen sie angehäuften Haß zu unheimlichem
Ausdruck brachte. Daß dieser Haß lediglich materielle, wirtschaftliche Gründe
hatte, wird zwar oft in Abrede zu stellen gesucht, ist aber durch die Thatsachen
so sicher bewiesen, daß nur die größte Oberflächlichkeit sich darüber täusche» und
daß nnr das selbstsüchtigste Interesse, welches über die Sclbstberechtiguug völlig
blind macht, versuchen kann, nach dieser Richtung hin Irrtümer geflissentlich zu
unterhalten. Man darf auch keineswegs annehmen, daß diejenigen, welche an¬
scheinend unter der Maßnahme der Beseitigung der „Judenschulden" (wofür man
heutzutage „Börsenschulden" sagen muß) litten, davon irgend welchen Schaden
gehabt hätten. Der Zinsfuß war zu jener Zeit so hoch, und der wirkliche Betrag
der an die Schuldner geliehenen Summen war so erheblich niedriger als die
verschriebene Summe, daß nach beiden Seiten hin an eine Benachteiligung der
Gläubiger durch den „Bankerott," die „Repudiation" oder wie wir sonst die
Maßnahme vom 16. September 1390 nennen wollen, garnicht zu denken war.
Stieg doch der Zins, den die Schuldner für Darlehen an die Gläubiger zu
zahlen hatten, bis zu 108 Prozent jährlich und hie und da noch höher; in
der Regel betrug er aber 43 Prozent, in manchen Gegenden sogar 78. Die
Höhe des Zinses wurde meist verdeckt durch die übliche wöchentliche Zinszahlung.*)



*) Auch heutzutage ist beim Pfandwncher noch die wöchentliche Zinszahlung, und zwar
mit ebenso ungeheuerlichen Zins wie in jenen Zeiten, üblich. In einem besondern Falle,
der beispielsweise angeführt sei, wurden auf ein Darlehn von 30 Mark 83 Mark nach acht
Tagen zurückgezahlt; dabei bestand der Pfandgcgcnstand aus Uhr mit Kette im Werte von
fast 300 Mark! Leider war der betreffende Darlehnsnehmer — übrigens ein Beamter, der
derartige Darlehen gegen das Ende seiner Gehaltspcriodc ganz regelmäßig machte — ge¬
bildet genug, um die soziale Sünde, die er hier beging, einsehen zu können, umsomehr, als
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_153446/278>, abgerufen am 08.09.2024.