Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal.Das Schwurgericht. unsrer Geschwornen geneigt wäre, aus niedriger Gesinnung in bewußter Partei¬ Dieser Punkt würde einer weitern Erörterung nicht bedürfen, wenn man Mit ebensoviel Grund könnte ein Staarblinder sagen: Von einem berühmten Das Schwurgericht. unsrer Geschwornen geneigt wäre, aus niedriger Gesinnung in bewußter Partei¬ Dieser Punkt würde einer weitern Erörterung nicht bedürfen, wenn man Mit ebensoviel Grund könnte ein Staarblinder sagen: Von einem berühmten <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0027" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/153474"/> <fw type="header" place="top"> Das Schwurgericht.</fw><lb/> <p xml:id="ID_56" prev="#ID_55"> unsrer Geschwornen geneigt wäre, aus niedriger Gesinnung in bewußter Partei¬<lb/> lichkeit seiue Pflicht zu verletzen. Aber was sie häufig vermisse» lassen, viel<lb/> häufiger jedenfalls, als mit den Interessen der Rechtspflege verträglich ist, das<lb/> ist die Charakterfestigkeit, die man vom Richter verlangen muß, die Unabhängig¬<lb/> keit des Urteils von allen Regungen der Sympathie wie der Antipathie, und<lb/> die Energie der Überzeugung, die vor der Verantwortlichkeit nicht zurückschreckt.<lb/> Es liegt auf der Hand, daß dies Eigenschaften sind, die durch die Übung im<lb/> Rechtsprecher erworben oder doch gefestigt werden. Das Fehlen derselben bei<lb/> den Geschwornen tritt beispielsweise hervor in dem ganz übertriebenen Ge¬<lb/> wicht, welches sie zu Ungunsten wie zu Gunsten des Angeklagten auf den Ein¬<lb/> druck seiner persönlichen Erscheinung legen, und, was die Scheu vor der Ver¬<lb/> antwortlichkeit betrifft, in der Redensart, die man so häufig zur Entschuldigung<lb/> einer unbegreiflichen Freisprechung hören kann: „Ja, gethan wird er's wohl haben;<lb/> aber absolut gewiß ist es doch nicht; und dann die hohe Strafe!"</p><lb/> <p xml:id="ID_57"> Dieser Punkt würde einer weitern Erörterung nicht bedürfen, wenn man<lb/> nicht schon seltsamerweise gerade in dem Gewöhntsein an die Thätigkeit des<lb/> Rechtsprechens einen Mangel des berufsmäßigen Richtertums hätte erblicken<lb/> wollen. Die „Routine" soll abstumpfend wirken, soll dem Richter das Interesse<lb/> für den einzelnen Fall benehmen und ihn zur Oberflächlichkeit in der Prüfung<lb/> der Beweise verleiten.</p><lb/> <p xml:id="ID_58" next="#ID_59"> Mit ebensoviel Grund könnte ein Staarblinder sagen: Von einem berühmten<lb/> Augenarzte lasse ich mich nicht operiren; der Manu hat diese Operation schon<lb/> etliche hundertmal gemacht; ihn interessirt der einzelne Fall nicht im mindesten<lb/> mehr; er würde sein Instrument mit der kalten Gleichgiltigkeit der Routine<lb/> führen; ich werde mich an einen jungen Anfänger wenden, der womöglich zum<lb/> erstenmale in das Auge eines lebenden Menschen hineinsticht; von dem kann<lb/> ich das volle und deutliche Bewußtsein seiner Verantwortlichkeit, mithin In¬<lb/> teresse und Sorgfalt erwarten. Jedermann würde einen solchen Patienten für<lb/> nicht recht gescheit halten. Gerade weil den rvutinirten Arzt der einzelne Fall<lb/> nicht mehr aufregt, wird seine ruhige Hand den gewünschten Erfolg so sicher<lb/> herbeiführen, wie menschliche Kunst es überhaupt vermag; und gerade das<lb/> ungewohnte Gefühl der Verantwortlichkeit, das aufs höchste gesteigerte Inter¬<lb/> esse am Gelingen oder Mißlingen bringt die Gefahr mit sich, daß die an<lb/> sich vielleicht ebenso geschickte Hand des Anfängers unsicher werde. Ebenso<lb/> beim Richter. Gerade weil der erfahrene Beamte gelernt hat, dem einzelnen<lb/> Falle kalt gegenüberzustehen, von den Gefühlen des Mitleids wie des Abscheus<lb/> sich möglichst zu emanzipiren, und weil ihn der Gedanke an die Möglichkeit<lb/> des Irrens, die er als nun einmal unvermeidlich hinzunehmen gewohnt ist,<lb/> nicht mehr beängstigt und befangen macht, ist von der ruhigen, unbeirrtcn<lb/> Thätigkeit seines Verstandes das nach menschlichen Kräften beste Resultat zu<lb/> erwarte». Und schon allein durch die bei jedem ungewohnten wichtigen Thun</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0027]
Das Schwurgericht.
unsrer Geschwornen geneigt wäre, aus niedriger Gesinnung in bewußter Partei¬
lichkeit seiue Pflicht zu verletzen. Aber was sie häufig vermisse» lassen, viel
häufiger jedenfalls, als mit den Interessen der Rechtspflege verträglich ist, das
ist die Charakterfestigkeit, die man vom Richter verlangen muß, die Unabhängig¬
keit des Urteils von allen Regungen der Sympathie wie der Antipathie, und
die Energie der Überzeugung, die vor der Verantwortlichkeit nicht zurückschreckt.
Es liegt auf der Hand, daß dies Eigenschaften sind, die durch die Übung im
Rechtsprecher erworben oder doch gefestigt werden. Das Fehlen derselben bei
den Geschwornen tritt beispielsweise hervor in dem ganz übertriebenen Ge¬
wicht, welches sie zu Ungunsten wie zu Gunsten des Angeklagten auf den Ein¬
druck seiner persönlichen Erscheinung legen, und, was die Scheu vor der Ver¬
antwortlichkeit betrifft, in der Redensart, die man so häufig zur Entschuldigung
einer unbegreiflichen Freisprechung hören kann: „Ja, gethan wird er's wohl haben;
aber absolut gewiß ist es doch nicht; und dann die hohe Strafe!"
Dieser Punkt würde einer weitern Erörterung nicht bedürfen, wenn man
nicht schon seltsamerweise gerade in dem Gewöhntsein an die Thätigkeit des
Rechtsprechens einen Mangel des berufsmäßigen Richtertums hätte erblicken
wollen. Die „Routine" soll abstumpfend wirken, soll dem Richter das Interesse
für den einzelnen Fall benehmen und ihn zur Oberflächlichkeit in der Prüfung
der Beweise verleiten.
Mit ebensoviel Grund könnte ein Staarblinder sagen: Von einem berühmten
Augenarzte lasse ich mich nicht operiren; der Manu hat diese Operation schon
etliche hundertmal gemacht; ihn interessirt der einzelne Fall nicht im mindesten
mehr; er würde sein Instrument mit der kalten Gleichgiltigkeit der Routine
führen; ich werde mich an einen jungen Anfänger wenden, der womöglich zum
erstenmale in das Auge eines lebenden Menschen hineinsticht; von dem kann
ich das volle und deutliche Bewußtsein seiner Verantwortlichkeit, mithin In¬
teresse und Sorgfalt erwarten. Jedermann würde einen solchen Patienten für
nicht recht gescheit halten. Gerade weil den rvutinirten Arzt der einzelne Fall
nicht mehr aufregt, wird seine ruhige Hand den gewünschten Erfolg so sicher
herbeiführen, wie menschliche Kunst es überhaupt vermag; und gerade das
ungewohnte Gefühl der Verantwortlichkeit, das aufs höchste gesteigerte Inter¬
esse am Gelingen oder Mißlingen bringt die Gefahr mit sich, daß die an
sich vielleicht ebenso geschickte Hand des Anfängers unsicher werde. Ebenso
beim Richter. Gerade weil der erfahrene Beamte gelernt hat, dem einzelnen
Falle kalt gegenüberzustehen, von den Gefühlen des Mitleids wie des Abscheus
sich möglichst zu emanzipiren, und weil ihn der Gedanke an die Möglichkeit
des Irrens, die er als nun einmal unvermeidlich hinzunehmen gewohnt ist,
nicht mehr beängstigt und befangen macht, ist von der ruhigen, unbeirrtcn
Thätigkeit seines Verstandes das nach menschlichen Kräften beste Resultat zu
erwarte». Und schon allein durch die bei jedem ungewohnten wichtigen Thun
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