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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal.

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Ole Aufgabe der nachwagntrischen Dyer.

weder zur Zeit einer großen, noch zur Zeit einer geringen Kultur, an poetischem
Material für unsre Zwecke fehlen kann: "Greift nur hinein ins volle Menschen¬
leben, wo ihr es packt, da ists interessant." Es wird sich nur darum handeln,
das Stück Menschenleben, welches in einer dramatischen Handlung zur An¬
schauung gebracht werden soll, glaubhaft darzustellen, weil auf dem Glauben
an die Wahrheit der Anteil des Zuschauers beruht. Wenn jemand sagt: "Ich
habe große Eile," und er singt das sechsmal hinter einander, ohne das, wozu
er so große Eile zu habe" behauptet, wirklich zu thun, so ist es aus mit unserm
Glauben an die Wahrheit seiner Behauptung -- er langweilt uns nur. Ist
einer von Leidenschaft aufgeregt und berichtet uns dies in einer bedächtigen
Cantilene, so glauben wir ihm auch nicht. Übrigens ist es Wagners durch¬
greifender Energie gelungen, das, was man unter Wahrheit des Ausdrucks in
Verbindung zwischen Wort und Ton versteht, in einer Weise zu definiren und
zu bethätigen, daß man diesen Punkt als für alle Zeiten erledigt betrachten
kann. Aber es giebt noch eine andre Art von Glaubwürdigkeit als die des
Ausdrucks, und in dieser andern Art ist Wagner nichts weniger als muster-
giltig. Es ist die Glaubhaftigkeit der Person. Das Gefühl und der Ausdruck
sind überzeugend in den Wagnerschen Opern, daher der momentane Eindruck
bei entsprechender Darstellung oft groß und gewaltig, aber die Personen selbst
sind keine glaubhaften Individuen, daher der beim Anhören einer Vorstellung
mächtige momentane Eindruck in der Erinnerung nicht nachhält, und sich nach¬
träglich häufig das Gefühl einstellt, als habe man sich durch den momentanen
Eindruck täuschen lassen. Das kommt nur daher, daß die Personen keine glaub¬
haften Charaktere sind, sondern imaginäre, zum Teil sogar Fabelwesen, die,
wenn sie auch schöne Dinge vorzutragen haben, welche uns im Augenblick des
Hörens fesseln, doch keinen dauernden menschlichen Anteil hervorzurufen ver¬
mögen.

Diese Erkenntnis ist wichtig, denn sie wird uns den Blick frei machen und
den Entschluß erleichtern, unbeschadet unsrer Bewunderung für Wagner seinem
Beispiele in diesem Punkte nicht zu folgen, sondern uns für künftige Opern
wieder nach wirklichen Menschen umzusehen. Denn Wagners Art, die Figuren
der Handlung auszuwählen und künstlerisch zu verwerten, ist lediglich eine auf
persönlichen Zwecken und Neigungen beruhende, nur unter den vorliegenden Ver¬
hältnissen in gewissem Sinne interessante; seine Sagenhelden würden aber in der
Hand jedes andern die hölzernsten Schablonenfiguren geworden sein, die man
sich denken kann, und selbst eine Behandlung im Wagnerschen Sinne könnte sich
nicht über das Niveau gewöhnlicher Nachäfferei erheben, weil eben die Verwen¬
dung dieser Figuren in Wagnerschen Sinen von der vollständigen Entindividuali-
sirung abhängig ist, wohingegen die Vertiefung in das Individuelle der mensch¬
lichen Erscheinungen das einzige Mittel zum Erkennen und Schaffen neuer,
lebensvoller Gestalten ist. Das innere Leben des Dichters kommt auch bei


Ole Aufgabe der nachwagntrischen Dyer.

weder zur Zeit einer großen, noch zur Zeit einer geringen Kultur, an poetischem
Material für unsre Zwecke fehlen kann: „Greift nur hinein ins volle Menschen¬
leben, wo ihr es packt, da ists interessant." Es wird sich nur darum handeln,
das Stück Menschenleben, welches in einer dramatischen Handlung zur An¬
schauung gebracht werden soll, glaubhaft darzustellen, weil auf dem Glauben
an die Wahrheit der Anteil des Zuschauers beruht. Wenn jemand sagt: „Ich
habe große Eile," und er singt das sechsmal hinter einander, ohne das, wozu
er so große Eile zu habe» behauptet, wirklich zu thun, so ist es aus mit unserm
Glauben an die Wahrheit seiner Behauptung — er langweilt uns nur. Ist
einer von Leidenschaft aufgeregt und berichtet uns dies in einer bedächtigen
Cantilene, so glauben wir ihm auch nicht. Übrigens ist es Wagners durch¬
greifender Energie gelungen, das, was man unter Wahrheit des Ausdrucks in
Verbindung zwischen Wort und Ton versteht, in einer Weise zu definiren und
zu bethätigen, daß man diesen Punkt als für alle Zeiten erledigt betrachten
kann. Aber es giebt noch eine andre Art von Glaubwürdigkeit als die des
Ausdrucks, und in dieser andern Art ist Wagner nichts weniger als muster-
giltig. Es ist die Glaubhaftigkeit der Person. Das Gefühl und der Ausdruck
sind überzeugend in den Wagnerschen Opern, daher der momentane Eindruck
bei entsprechender Darstellung oft groß und gewaltig, aber die Personen selbst
sind keine glaubhaften Individuen, daher der beim Anhören einer Vorstellung
mächtige momentane Eindruck in der Erinnerung nicht nachhält, und sich nach¬
träglich häufig das Gefühl einstellt, als habe man sich durch den momentanen
Eindruck täuschen lassen. Das kommt nur daher, daß die Personen keine glaub¬
haften Charaktere sind, sondern imaginäre, zum Teil sogar Fabelwesen, die,
wenn sie auch schöne Dinge vorzutragen haben, welche uns im Augenblick des
Hörens fesseln, doch keinen dauernden menschlichen Anteil hervorzurufen ver¬
mögen.

Diese Erkenntnis ist wichtig, denn sie wird uns den Blick frei machen und
den Entschluß erleichtern, unbeschadet unsrer Bewunderung für Wagner seinem
Beispiele in diesem Punkte nicht zu folgen, sondern uns für künftige Opern
wieder nach wirklichen Menschen umzusehen. Denn Wagners Art, die Figuren
der Handlung auszuwählen und künstlerisch zu verwerten, ist lediglich eine auf
persönlichen Zwecken und Neigungen beruhende, nur unter den vorliegenden Ver¬
hältnissen in gewissem Sinne interessante; seine Sagenhelden würden aber in der
Hand jedes andern die hölzernsten Schablonenfiguren geworden sein, die man
sich denken kann, und selbst eine Behandlung im Wagnerschen Sinne könnte sich
nicht über das Niveau gewöhnlicher Nachäfferei erheben, weil eben die Verwen¬
dung dieser Figuren in Wagnerschen Sinen von der vollständigen Entindividuali-
sirung abhängig ist, wohingegen die Vertiefung in das Individuelle der mensch¬
lichen Erscheinungen das einzige Mittel zum Erkennen und Schaffen neuer,
lebensvoller Gestalten ist. Das innere Leben des Dichters kommt auch bei


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[0243] Ole Aufgabe der nachwagntrischen Dyer. weder zur Zeit einer großen, noch zur Zeit einer geringen Kultur, an poetischem Material für unsre Zwecke fehlen kann: „Greift nur hinein ins volle Menschen¬ leben, wo ihr es packt, da ists interessant." Es wird sich nur darum handeln, das Stück Menschenleben, welches in einer dramatischen Handlung zur An¬ schauung gebracht werden soll, glaubhaft darzustellen, weil auf dem Glauben an die Wahrheit der Anteil des Zuschauers beruht. Wenn jemand sagt: „Ich habe große Eile," und er singt das sechsmal hinter einander, ohne das, wozu er so große Eile zu habe» behauptet, wirklich zu thun, so ist es aus mit unserm Glauben an die Wahrheit seiner Behauptung — er langweilt uns nur. Ist einer von Leidenschaft aufgeregt und berichtet uns dies in einer bedächtigen Cantilene, so glauben wir ihm auch nicht. Übrigens ist es Wagners durch¬ greifender Energie gelungen, das, was man unter Wahrheit des Ausdrucks in Verbindung zwischen Wort und Ton versteht, in einer Weise zu definiren und zu bethätigen, daß man diesen Punkt als für alle Zeiten erledigt betrachten kann. Aber es giebt noch eine andre Art von Glaubwürdigkeit als die des Ausdrucks, und in dieser andern Art ist Wagner nichts weniger als muster- giltig. Es ist die Glaubhaftigkeit der Person. Das Gefühl und der Ausdruck sind überzeugend in den Wagnerschen Opern, daher der momentane Eindruck bei entsprechender Darstellung oft groß und gewaltig, aber die Personen selbst sind keine glaubhaften Individuen, daher der beim Anhören einer Vorstellung mächtige momentane Eindruck in der Erinnerung nicht nachhält, und sich nach¬ träglich häufig das Gefühl einstellt, als habe man sich durch den momentanen Eindruck täuschen lassen. Das kommt nur daher, daß die Personen keine glaub¬ haften Charaktere sind, sondern imaginäre, zum Teil sogar Fabelwesen, die, wenn sie auch schöne Dinge vorzutragen haben, welche uns im Augenblick des Hörens fesseln, doch keinen dauernden menschlichen Anteil hervorzurufen ver¬ mögen. Diese Erkenntnis ist wichtig, denn sie wird uns den Blick frei machen und den Entschluß erleichtern, unbeschadet unsrer Bewunderung für Wagner seinem Beispiele in diesem Punkte nicht zu folgen, sondern uns für künftige Opern wieder nach wirklichen Menschen umzusehen. Denn Wagners Art, die Figuren der Handlung auszuwählen und künstlerisch zu verwerten, ist lediglich eine auf persönlichen Zwecken und Neigungen beruhende, nur unter den vorliegenden Ver¬ hältnissen in gewissem Sinne interessante; seine Sagenhelden würden aber in der Hand jedes andern die hölzernsten Schablonenfiguren geworden sein, die man sich denken kann, und selbst eine Behandlung im Wagnerschen Sinne könnte sich nicht über das Niveau gewöhnlicher Nachäfferei erheben, weil eben die Verwen¬ dung dieser Figuren in Wagnerschen Sinen von der vollständigen Entindividuali- sirung abhängig ist, wohingegen die Vertiefung in das Individuelle der mensch¬ lichen Erscheinungen das einzige Mittel zum Erkennen und Schaffen neuer, lebensvoller Gestalten ist. Das innere Leben des Dichters kommt auch bei

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_153446/243>, abgerufen am 08.09.2024.