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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal.

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Das"Schwurgericht.

dessen recht zu versehen, zu einem Unikum in der Justizpflege zivilisirter Staaten
gelangt: zu der Einsetzung von Richtern, welche das Recht, das sie
handhaben sollen, zugestandenermaßen nicht kennen.

Es sind freilich Zweifel denkbar, ob denn das ein so großer Übelstand sei.
Man könnte sagen: Mögen immerhin die Geschwornen in ihrer unendlich über¬
wiegenden Mehrzahl von den subtilen Definitionen der einzelnen Verbrechen in
unsern Strafgesetzen, von den juristisch fein ausgearbeiteten allgemeinen Be¬
griffen der Mitthüterschaft oder Beihilfe, des Versuchs in seinem Verhältnisse
zur Möglichkeit der Vollendung, des rechtswidrigen Vorsatzes in allen seinen
Nuancen, der Zurechnungsfähigkeit u. s. w. keine Ahnung haben: das schadet
nichts; sie urteilen, ohne sich um den ganzen gelehrten Kram zu kümmern, nach
schlichtem, gefunden Menschenverstande über die Frage, ob der Angeklagte nach
der Auffassung des gewöhnlichen Lebens beispielsweise einen Meineid geschworen
oder eine Urkundenfälschung begangen habe, und werden schon das Richtige treffen.
Es dürfte indessen nicht nötig sein, sich mit solchen Argumentationen eingehend
abzufinden. Auch mit der Lynchjustiz läßt sich zur Not auskommen; man wird
sie aber deshalb nicht in ein geordnetes Staatswesen einführen wollen. Wir
gehen bei der Kritik der Schwurgerichte nicht von hinterwäldlerischen, sondern
von den in Deutschland herrschenden Rechtszuständen und Rechtsanschauungen
aus. Nach diesen sind die Strafrechtswissenschaft und die mit wissenschaftlicher
Strenge formulirten Bestimmungen unsrer Strafgesetze keineswegs ein über¬
flüssiger Ballast, den die praktische Justizpflege zweckmäßigerweise über Bord zu
werfen hat, um lediglich "nach schlichtem, gesundem Menschenverstande" zu be¬
urteilen, ob jemand "nach der Auffassung des gewöhnlichen Lebens" irgend
eines Verbrechens schuldig sei oder nicht. Die ganze Thätigkeit des Reichsge¬
richts auf kriminalistischen Felde geht ja nur darauf aus, die korrekte und gleich¬
mäßige Anwendung der strafrechtlichen Begriffe in ihrer ganzen wissenschaftlichen
Schärfe und Detaillirung innerhalb des Gebietes seiner Jurisdiktion aufrecht
zu erhalten. Man sieht eben in der strengen Fixirung des Strafrechts eine
wichtige Garantie der öffentlichen Rechtssicherheit, einen Schutz gegen die Willkür,
sei es der Verfolgung oder der Begünstigung. Aber was hilft die große, auf
die wissenschaftliche Ausprägung des Rechts verwandte geistige Arbeit, wenn
man Leute zu Richtern bestellt, für die das alles sogut wie nicht vorhanden
ist? Was hilft die schönste juristisch-technische Formulirung der Verbrechens¬
begriffe in den an die Geschwornen gerichteten Fragen, wenn sie diese technischen
Ausdrücke nicht verstehen?

Unsre Gesetzgebung hat denn in der That diesen schweren Übelstand
nicht verkannt. Sie ist ans Mittel bedacht gewesen, ihm abzuhelfen, und
hat ein änßerst einfaches gefunden: dnrch eine "Belehrung" seitens des
Vorsitzenden wird den Geschworenen in jeder Sitzung die für den einzelnen
Fall erforderliche Rechtskenntnis beigebracht. Von dem jungen Manne, der


Das"Schwurgericht.

dessen recht zu versehen, zu einem Unikum in der Justizpflege zivilisirter Staaten
gelangt: zu der Einsetzung von Richtern, welche das Recht, das sie
handhaben sollen, zugestandenermaßen nicht kennen.

Es sind freilich Zweifel denkbar, ob denn das ein so großer Übelstand sei.
Man könnte sagen: Mögen immerhin die Geschwornen in ihrer unendlich über¬
wiegenden Mehrzahl von den subtilen Definitionen der einzelnen Verbrechen in
unsern Strafgesetzen, von den juristisch fein ausgearbeiteten allgemeinen Be¬
griffen der Mitthüterschaft oder Beihilfe, des Versuchs in seinem Verhältnisse
zur Möglichkeit der Vollendung, des rechtswidrigen Vorsatzes in allen seinen
Nuancen, der Zurechnungsfähigkeit u. s. w. keine Ahnung haben: das schadet
nichts; sie urteilen, ohne sich um den ganzen gelehrten Kram zu kümmern, nach
schlichtem, gefunden Menschenverstande über die Frage, ob der Angeklagte nach
der Auffassung des gewöhnlichen Lebens beispielsweise einen Meineid geschworen
oder eine Urkundenfälschung begangen habe, und werden schon das Richtige treffen.
Es dürfte indessen nicht nötig sein, sich mit solchen Argumentationen eingehend
abzufinden. Auch mit der Lynchjustiz läßt sich zur Not auskommen; man wird
sie aber deshalb nicht in ein geordnetes Staatswesen einführen wollen. Wir
gehen bei der Kritik der Schwurgerichte nicht von hinterwäldlerischen, sondern
von den in Deutschland herrschenden Rechtszuständen und Rechtsanschauungen
aus. Nach diesen sind die Strafrechtswissenschaft und die mit wissenschaftlicher
Strenge formulirten Bestimmungen unsrer Strafgesetze keineswegs ein über¬
flüssiger Ballast, den die praktische Justizpflege zweckmäßigerweise über Bord zu
werfen hat, um lediglich „nach schlichtem, gesundem Menschenverstande" zu be¬
urteilen, ob jemand „nach der Auffassung des gewöhnlichen Lebens" irgend
eines Verbrechens schuldig sei oder nicht. Die ganze Thätigkeit des Reichsge¬
richts auf kriminalistischen Felde geht ja nur darauf aus, die korrekte und gleich¬
mäßige Anwendung der strafrechtlichen Begriffe in ihrer ganzen wissenschaftlichen
Schärfe und Detaillirung innerhalb des Gebietes seiner Jurisdiktion aufrecht
zu erhalten. Man sieht eben in der strengen Fixirung des Strafrechts eine
wichtige Garantie der öffentlichen Rechtssicherheit, einen Schutz gegen die Willkür,
sei es der Verfolgung oder der Begünstigung. Aber was hilft die große, auf
die wissenschaftliche Ausprägung des Rechts verwandte geistige Arbeit, wenn
man Leute zu Richtern bestellt, für die das alles sogut wie nicht vorhanden
ist? Was hilft die schönste juristisch-technische Formulirung der Verbrechens¬
begriffe in den an die Geschwornen gerichteten Fragen, wenn sie diese technischen
Ausdrücke nicht verstehen?

Unsre Gesetzgebung hat denn in der That diesen schweren Übelstand
nicht verkannt. Sie ist ans Mittel bedacht gewesen, ihm abzuhelfen, und
hat ein änßerst einfaches gefunden: dnrch eine „Belehrung" seitens des
Vorsitzenden wird den Geschworenen in jeder Sitzung die für den einzelnen
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[0024] Das"Schwurgericht. dessen recht zu versehen, zu einem Unikum in der Justizpflege zivilisirter Staaten gelangt: zu der Einsetzung von Richtern, welche das Recht, das sie handhaben sollen, zugestandenermaßen nicht kennen. Es sind freilich Zweifel denkbar, ob denn das ein so großer Übelstand sei. Man könnte sagen: Mögen immerhin die Geschwornen in ihrer unendlich über¬ wiegenden Mehrzahl von den subtilen Definitionen der einzelnen Verbrechen in unsern Strafgesetzen, von den juristisch fein ausgearbeiteten allgemeinen Be¬ griffen der Mitthüterschaft oder Beihilfe, des Versuchs in seinem Verhältnisse zur Möglichkeit der Vollendung, des rechtswidrigen Vorsatzes in allen seinen Nuancen, der Zurechnungsfähigkeit u. s. w. keine Ahnung haben: das schadet nichts; sie urteilen, ohne sich um den ganzen gelehrten Kram zu kümmern, nach schlichtem, gefunden Menschenverstande über die Frage, ob der Angeklagte nach der Auffassung des gewöhnlichen Lebens beispielsweise einen Meineid geschworen oder eine Urkundenfälschung begangen habe, und werden schon das Richtige treffen. Es dürfte indessen nicht nötig sein, sich mit solchen Argumentationen eingehend abzufinden. Auch mit der Lynchjustiz läßt sich zur Not auskommen; man wird sie aber deshalb nicht in ein geordnetes Staatswesen einführen wollen. Wir gehen bei der Kritik der Schwurgerichte nicht von hinterwäldlerischen, sondern von den in Deutschland herrschenden Rechtszuständen und Rechtsanschauungen aus. Nach diesen sind die Strafrechtswissenschaft und die mit wissenschaftlicher Strenge formulirten Bestimmungen unsrer Strafgesetze keineswegs ein über¬ flüssiger Ballast, den die praktische Justizpflege zweckmäßigerweise über Bord zu werfen hat, um lediglich „nach schlichtem, gesundem Menschenverstande" zu be¬ urteilen, ob jemand „nach der Auffassung des gewöhnlichen Lebens" irgend eines Verbrechens schuldig sei oder nicht. Die ganze Thätigkeit des Reichsge¬ richts auf kriminalistischen Felde geht ja nur darauf aus, die korrekte und gleich¬ mäßige Anwendung der strafrechtlichen Begriffe in ihrer ganzen wissenschaftlichen Schärfe und Detaillirung innerhalb des Gebietes seiner Jurisdiktion aufrecht zu erhalten. Man sieht eben in der strengen Fixirung des Strafrechts eine wichtige Garantie der öffentlichen Rechtssicherheit, einen Schutz gegen die Willkür, sei es der Verfolgung oder der Begünstigung. Aber was hilft die große, auf die wissenschaftliche Ausprägung des Rechts verwandte geistige Arbeit, wenn man Leute zu Richtern bestellt, für die das alles sogut wie nicht vorhanden ist? Was hilft die schönste juristisch-technische Formulirung der Verbrechens¬ begriffe in den an die Geschwornen gerichteten Fragen, wenn sie diese technischen Ausdrücke nicht verstehen? Unsre Gesetzgebung hat denn in der That diesen schweren Übelstand nicht verkannt. Sie ist ans Mittel bedacht gewesen, ihm abzuhelfen, und hat ein änßerst einfaches gefunden: dnrch eine „Belehrung" seitens des Vorsitzenden wird den Geschworenen in jeder Sitzung die für den einzelnen Fall erforderliche Rechtskenntnis beigebracht. Von dem jungen Manne, der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_153446/24>, abgerufen am 08.09.2024.