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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal.

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Die Aufgabe der nachwagnenschcn Gper.

vielleicht schon damals ein Umschwung in den Ansichten über die Bedeutung
des Operntextes erfolgt, ein Umschwung etwa in Wagnerschen Sinne, denn
Beethoven steht schon auf demselben Standpunkte wie Wagner, insofern er in
der Oper nicht nur nach künstlerischen, sondern auch nach allgemeinen mensch¬
lichen Idealen sucht, nur mit dein Unterschiede, daß Beethovens Leonore ein
andres Ideal ist als Isolde, Sigclinde u. s. w, n. s. w. Da Beethoven aber
keinen Operntext mehr fand, der ihn gerade in dieser Hinsicht befriedigte, so
blieb Fidelio vereinzelt, wie die eine Schwalbe, die keinen Sommer macht.
Statt dessen schlug Weber mit seinem Freischütz plötzlich einen Ton an, der
die Aufmerksamkeit auf andre Dinge lenkte, indem er mit wunderbar praktischem
Instinkt einesteils dem tiefen und für manche lästigen Ernste, mit welchem
Beethoven die Oper behandelt hatte, andernteils der anstößigen Erniedrigung,
die durch Rossinis geniale Flatterhaftigkeit diese Kunstgattung erfahren hatte,
auswich und durch Benutzung des Phantastischen und Gemütvoll-Volkstümlichen
einen Hintergrund für die Oper schuf, auf dem man eine ganz neue, bunt¬
bewegte, zwischen Wahrheit und Dichtung, Willkür und dramatischer Logik,
naiver Lust am Äußerliche" und wahrhaft poetischer Empfindung schwebende
Welt ungehindert ausbreiten konnte. In dein Halbdunkel märchenhafter Volks
Poesie nahm sich alles vorteilhaft aus, ähnlich wie es Räume giebt, in denen
eine günstige Akustik jede Stimme schön erklingen läßt; Musik und Prosa,
Ernstes und Heiteres, Kunstvolles und Kunstloses konnte man bunt durch-
eiuauderwürfeln, wem, uur der Charakter des Volkstümliche" gewahrt blieb,
und mancher mag wohl nun geglaubt haben, daß in der märchenhaften Volks¬
poesie das Eldorado der Oper entdeckt sei, das Gebiet, welches erstens ein
unerschöpfliches Material an Opcrustvffeu in Aussicht stellte, und zweitens durch
Verwischung der Grenzen zwischen dem Natürlichen und Unnatürlichen, Wirk¬
lichen und Phantastischen jede tiefere Behandlung der Frage über das Verhältnis
der Musik zum Text überflüssig gemacht hatte. Bequemer konnten es die
Komponisten nicht haben, und die Zuhörer auch uicht. Je vollständiger aber
das Schnippchen war, welches der Freischütz aller Theorie, vornehmlich der
Gluckschen, schlug, umsomehr befleißigte sich die Kritik, ihre Ansichten dein neuen
Phänomen anzupassen. Es wurde zum ästhetischen Dogma, daß die Oper volks¬
tümlich zu sein habe; der Begriff der Oper als eines Werkes, das in erster
Linie Kunstwerk sein muß, und populär nnr nnter der Bedingung, daß es
zugleich el" Wert der Kunst sei, geriet in Vergessenheit. Je weniger Kunst und
kunstvolle Arbeit in einer Oper, desto besser; über das Volkstümliche halte
natürlich das Volk selbst und die sich als Organ der öffentlichen Stimmung
gerirende Kritik zu entscheide", die es beide nicht immer lieben, einen Kunstgenuß
durch Denken zu vertiefen, und nnter dem Einfluß dieses KunstgerichtshvfcS,
der das Volkstümliche, also leicht Faßliche als das Haupterfordernis betonte,
geriet man denn auf die schiefe Ebene, an deren Ende jetzt alles auf den ersten


Die Aufgabe der nachwagnenschcn Gper.

vielleicht schon damals ein Umschwung in den Ansichten über die Bedeutung
des Operntextes erfolgt, ein Umschwung etwa in Wagnerschen Sinne, denn
Beethoven steht schon auf demselben Standpunkte wie Wagner, insofern er in
der Oper nicht nur nach künstlerischen, sondern auch nach allgemeinen mensch¬
lichen Idealen sucht, nur mit dein Unterschiede, daß Beethovens Leonore ein
andres Ideal ist als Isolde, Sigclinde u. s. w, n. s. w. Da Beethoven aber
keinen Operntext mehr fand, der ihn gerade in dieser Hinsicht befriedigte, so
blieb Fidelio vereinzelt, wie die eine Schwalbe, die keinen Sommer macht.
Statt dessen schlug Weber mit seinem Freischütz plötzlich einen Ton an, der
die Aufmerksamkeit auf andre Dinge lenkte, indem er mit wunderbar praktischem
Instinkt einesteils dem tiefen und für manche lästigen Ernste, mit welchem
Beethoven die Oper behandelt hatte, andernteils der anstößigen Erniedrigung,
die durch Rossinis geniale Flatterhaftigkeit diese Kunstgattung erfahren hatte,
auswich und durch Benutzung des Phantastischen und Gemütvoll-Volkstümlichen
einen Hintergrund für die Oper schuf, auf dem man eine ganz neue, bunt¬
bewegte, zwischen Wahrheit und Dichtung, Willkür und dramatischer Logik,
naiver Lust am Äußerliche« und wahrhaft poetischer Empfindung schwebende
Welt ungehindert ausbreiten konnte. In dein Halbdunkel märchenhafter Volks
Poesie nahm sich alles vorteilhaft aus, ähnlich wie es Räume giebt, in denen
eine günstige Akustik jede Stimme schön erklingen läßt; Musik und Prosa,
Ernstes und Heiteres, Kunstvolles und Kunstloses konnte man bunt durch-
eiuauderwürfeln, wem, uur der Charakter des Volkstümliche» gewahrt blieb,
und mancher mag wohl nun geglaubt haben, daß in der märchenhaften Volks¬
poesie das Eldorado der Oper entdeckt sei, das Gebiet, welches erstens ein
unerschöpfliches Material an Opcrustvffeu in Aussicht stellte, und zweitens durch
Verwischung der Grenzen zwischen dem Natürlichen und Unnatürlichen, Wirk¬
lichen und Phantastischen jede tiefere Behandlung der Frage über das Verhältnis
der Musik zum Text überflüssig gemacht hatte. Bequemer konnten es die
Komponisten nicht haben, und die Zuhörer auch uicht. Je vollständiger aber
das Schnippchen war, welches der Freischütz aller Theorie, vornehmlich der
Gluckschen, schlug, umsomehr befleißigte sich die Kritik, ihre Ansichten dein neuen
Phänomen anzupassen. Es wurde zum ästhetischen Dogma, daß die Oper volks¬
tümlich zu sein habe; der Begriff der Oper als eines Werkes, das in erster
Linie Kunstwerk sein muß, und populär nnr nnter der Bedingung, daß es
zugleich el» Wert der Kunst sei, geriet in Vergessenheit. Je weniger Kunst und
kunstvolle Arbeit in einer Oper, desto besser; über das Volkstümliche halte
natürlich das Volk selbst und die sich als Organ der öffentlichen Stimmung
gerirende Kritik zu entscheide», die es beide nicht immer lieben, einen Kunstgenuß
durch Denken zu vertiefen, und nnter dem Einfluß dieses KunstgerichtshvfcS,
der das Volkstümliche, also leicht Faßliche als das Haupterfordernis betonte,
geriet man denn auf die schiefe Ebene, an deren Ende jetzt alles auf den ersten


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[0238] Die Aufgabe der nachwagnenschcn Gper. vielleicht schon damals ein Umschwung in den Ansichten über die Bedeutung des Operntextes erfolgt, ein Umschwung etwa in Wagnerschen Sinne, denn Beethoven steht schon auf demselben Standpunkte wie Wagner, insofern er in der Oper nicht nur nach künstlerischen, sondern auch nach allgemeinen mensch¬ lichen Idealen sucht, nur mit dein Unterschiede, daß Beethovens Leonore ein andres Ideal ist als Isolde, Sigclinde u. s. w, n. s. w. Da Beethoven aber keinen Operntext mehr fand, der ihn gerade in dieser Hinsicht befriedigte, so blieb Fidelio vereinzelt, wie die eine Schwalbe, die keinen Sommer macht. Statt dessen schlug Weber mit seinem Freischütz plötzlich einen Ton an, der die Aufmerksamkeit auf andre Dinge lenkte, indem er mit wunderbar praktischem Instinkt einesteils dem tiefen und für manche lästigen Ernste, mit welchem Beethoven die Oper behandelt hatte, andernteils der anstößigen Erniedrigung, die durch Rossinis geniale Flatterhaftigkeit diese Kunstgattung erfahren hatte, auswich und durch Benutzung des Phantastischen und Gemütvoll-Volkstümlichen einen Hintergrund für die Oper schuf, auf dem man eine ganz neue, bunt¬ bewegte, zwischen Wahrheit und Dichtung, Willkür und dramatischer Logik, naiver Lust am Äußerliche« und wahrhaft poetischer Empfindung schwebende Welt ungehindert ausbreiten konnte. In dein Halbdunkel märchenhafter Volks Poesie nahm sich alles vorteilhaft aus, ähnlich wie es Räume giebt, in denen eine günstige Akustik jede Stimme schön erklingen läßt; Musik und Prosa, Ernstes und Heiteres, Kunstvolles und Kunstloses konnte man bunt durch- eiuauderwürfeln, wem, uur der Charakter des Volkstümliche» gewahrt blieb, und mancher mag wohl nun geglaubt haben, daß in der märchenhaften Volks¬ poesie das Eldorado der Oper entdeckt sei, das Gebiet, welches erstens ein unerschöpfliches Material an Opcrustvffeu in Aussicht stellte, und zweitens durch Verwischung der Grenzen zwischen dem Natürlichen und Unnatürlichen, Wirk¬ lichen und Phantastischen jede tiefere Behandlung der Frage über das Verhältnis der Musik zum Text überflüssig gemacht hatte. Bequemer konnten es die Komponisten nicht haben, und die Zuhörer auch uicht. Je vollständiger aber das Schnippchen war, welches der Freischütz aller Theorie, vornehmlich der Gluckschen, schlug, umsomehr befleißigte sich die Kritik, ihre Ansichten dein neuen Phänomen anzupassen. Es wurde zum ästhetischen Dogma, daß die Oper volks¬ tümlich zu sein habe; der Begriff der Oper als eines Werkes, das in erster Linie Kunstwerk sein muß, und populär nnr nnter der Bedingung, daß es zugleich el» Wert der Kunst sei, geriet in Vergessenheit. Je weniger Kunst und kunstvolle Arbeit in einer Oper, desto besser; über das Volkstümliche halte natürlich das Volk selbst und die sich als Organ der öffentlichen Stimmung gerirende Kritik zu entscheide», die es beide nicht immer lieben, einen Kunstgenuß durch Denken zu vertiefen, und nnter dem Einfluß dieses KunstgerichtshvfcS, der das Volkstümliche, also leicht Faßliche als das Haupterfordernis betonte, geriet man denn auf die schiefe Ebene, an deren Ende jetzt alles auf den ersten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_153446/238>, abgerufen am 08.09.2024.