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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal.

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Bäuerliche Zustände in Deutschland.

land trotz seiner vielen statistischen Einrichtungen von den nähern Verhältnissen
des Bauernstandes sogut wie garnichts wußte. Der altpreußische absolute
Staat freilich hatte auch auf diesem Gebiete die wirtschaftlichen Bewegungen
sorgfältig verfolgt und bis in die Mitte der zwanziger Jahre bei jedem Hypo-
thelengcricht eine genaue Statistik über die Verschuldung der Grundbesitzer im
Bezirk führen lassen. Von da ab erschien dieselbe der obersten Justizverwaltung
als eine lästige Schreiberei, lind man gab diese wichtige Beobachtung auf;
später hat man nur noch in einzelnen Bezirken eine solche Aufnahme machen
lassen, die sich in dem bekannten Werke von Meitzen angegeben findet. In
allerneuester Zeit (1881) sind im preußischen Abgeordnetenhause von feiten der
Abgeordneten v. Knebel und Hüne Anregungen gegeben worden, die darauf ab¬
zielten, daß eine genaue Enquete über die wirtschaftlichen Zustände des preußischen
Bauernstandes amtlich erhoben werden sollte, ja es sind auch infolge Beschlusses
des Hauses zu diesem Zwecke bestimmte Summen in den Etat des landwirt¬
schaftlichen Ministeriums eingestellt worden, die aber sicherlich nicht genügen
können, wenn die Enquete ernstlich gemeint sein soll.

Der Verein für Sozialpolitik ist unabhängig hiervon vorgegangen, sein
Ausschuß hat 23 Fragen aufgestellt, deren Beantwortung in den Berichten ver-
schiedner mit den Verhältnissen der Landwirtschaft vertrauten Personen bereits
in zwei Bänden vorliegt.*) Der erste Band bezog sich auf Bezirke des süd¬
westlichen Deutschlands (Thüringen, Kassel, Wiesbaden, Rheinprovinz, bairische
Pfalz, München). Der zweite Band umfaßt Westfalen, Oldenburg, Schleswig-
Holstein, Braunschweig, Halberstadt, Königreich Sachsen, Westpreußen (besonders
Graudenz), Ostpreußen (besonders Gumbinnen). Die Berichte, meistens von den
Vorständen (Generalsekretären) der landwirtschaftlichen Vereine abgefaßt, sind
außerordentlich interessant, allein bei allem schätzenswerten Material, das sie
beibringen, gerade in der Frage der bäuerlichen Verschuldung völlig unzureichend,
weil sie in dieser Hinsicht lediglich auf ihre arbiträre Schätzung angewiesen sind.
Daher kommt es, daß höchst entgegengesetzte Urteile diesen Berichten bereits
entnommen sind, daß die einen behaupten, die bäuerlichen Zustände seien ganz
vorzüglich, und die andern sie recht schwarz bezeichnen.

Man wird bei diesen Berichten davon auszugehen haben, daß ähnlich wie
bei den englischen Parlaments-Enqueten es sich um das wertvolle Urteil sach¬
verständiger Männer über die wirtschaftliche Lage des Bauernstandes handelt,
um ein Urteil, das jedoch da mit Vorsicht aufzunehmen ist, wo -- wie bei
der Frage der Verschuldung -- allein Zahlen entscheiden können, die jenen
Berichterstattern auch beim besten Willen nicht zur Verfügung standen. Auch
sind die Berichte ungleich; der von Gerland über das Fürstentum Halberstadt
giebt in höchst eingehender Weise eine geschichtliche Entwicklung über die Lage



*) Bäuerliche Zustände in Deutschland. Berichte, veröffentlicht vom Berein für
Sozialpolitik. Zwei Bände. Leipzig, Duncker Ä Humblot, 1833.
Bäuerliche Zustände in Deutschland.

land trotz seiner vielen statistischen Einrichtungen von den nähern Verhältnissen
des Bauernstandes sogut wie garnichts wußte. Der altpreußische absolute
Staat freilich hatte auch auf diesem Gebiete die wirtschaftlichen Bewegungen
sorgfältig verfolgt und bis in die Mitte der zwanziger Jahre bei jedem Hypo-
thelengcricht eine genaue Statistik über die Verschuldung der Grundbesitzer im
Bezirk führen lassen. Von da ab erschien dieselbe der obersten Justizverwaltung
als eine lästige Schreiberei, lind man gab diese wichtige Beobachtung auf;
später hat man nur noch in einzelnen Bezirken eine solche Aufnahme machen
lassen, die sich in dem bekannten Werke von Meitzen angegeben findet. In
allerneuester Zeit (1881) sind im preußischen Abgeordnetenhause von feiten der
Abgeordneten v. Knebel und Hüne Anregungen gegeben worden, die darauf ab¬
zielten, daß eine genaue Enquete über die wirtschaftlichen Zustände des preußischen
Bauernstandes amtlich erhoben werden sollte, ja es sind auch infolge Beschlusses
des Hauses zu diesem Zwecke bestimmte Summen in den Etat des landwirt¬
schaftlichen Ministeriums eingestellt worden, die aber sicherlich nicht genügen
können, wenn die Enquete ernstlich gemeint sein soll.

Der Verein für Sozialpolitik ist unabhängig hiervon vorgegangen, sein
Ausschuß hat 23 Fragen aufgestellt, deren Beantwortung in den Berichten ver-
schiedner mit den Verhältnissen der Landwirtschaft vertrauten Personen bereits
in zwei Bänden vorliegt.*) Der erste Band bezog sich auf Bezirke des süd¬
westlichen Deutschlands (Thüringen, Kassel, Wiesbaden, Rheinprovinz, bairische
Pfalz, München). Der zweite Band umfaßt Westfalen, Oldenburg, Schleswig-
Holstein, Braunschweig, Halberstadt, Königreich Sachsen, Westpreußen (besonders
Graudenz), Ostpreußen (besonders Gumbinnen). Die Berichte, meistens von den
Vorständen (Generalsekretären) der landwirtschaftlichen Vereine abgefaßt, sind
außerordentlich interessant, allein bei allem schätzenswerten Material, das sie
beibringen, gerade in der Frage der bäuerlichen Verschuldung völlig unzureichend,
weil sie in dieser Hinsicht lediglich auf ihre arbiträre Schätzung angewiesen sind.
Daher kommt es, daß höchst entgegengesetzte Urteile diesen Berichten bereits
entnommen sind, daß die einen behaupten, die bäuerlichen Zustände seien ganz
vorzüglich, und die andern sie recht schwarz bezeichnen.

Man wird bei diesen Berichten davon auszugehen haben, daß ähnlich wie
bei den englischen Parlaments-Enqueten es sich um das wertvolle Urteil sach¬
verständiger Männer über die wirtschaftliche Lage des Bauernstandes handelt,
um ein Urteil, das jedoch da mit Vorsicht aufzunehmen ist, wo — wie bei
der Frage der Verschuldung — allein Zahlen entscheiden können, die jenen
Berichterstattern auch beim besten Willen nicht zur Verfügung standen. Auch
sind die Berichte ungleich; der von Gerland über das Fürstentum Halberstadt
giebt in höchst eingehender Weise eine geschichtliche Entwicklung über die Lage



*) Bäuerliche Zustände in Deutschland. Berichte, veröffentlicht vom Berein für
Sozialpolitik. Zwei Bände. Leipzig, Duncker Ä Humblot, 1833.
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[0230] Bäuerliche Zustände in Deutschland. land trotz seiner vielen statistischen Einrichtungen von den nähern Verhältnissen des Bauernstandes sogut wie garnichts wußte. Der altpreußische absolute Staat freilich hatte auch auf diesem Gebiete die wirtschaftlichen Bewegungen sorgfältig verfolgt und bis in die Mitte der zwanziger Jahre bei jedem Hypo- thelengcricht eine genaue Statistik über die Verschuldung der Grundbesitzer im Bezirk führen lassen. Von da ab erschien dieselbe der obersten Justizverwaltung als eine lästige Schreiberei, lind man gab diese wichtige Beobachtung auf; später hat man nur noch in einzelnen Bezirken eine solche Aufnahme machen lassen, die sich in dem bekannten Werke von Meitzen angegeben findet. In allerneuester Zeit (1881) sind im preußischen Abgeordnetenhause von feiten der Abgeordneten v. Knebel und Hüne Anregungen gegeben worden, die darauf ab¬ zielten, daß eine genaue Enquete über die wirtschaftlichen Zustände des preußischen Bauernstandes amtlich erhoben werden sollte, ja es sind auch infolge Beschlusses des Hauses zu diesem Zwecke bestimmte Summen in den Etat des landwirt¬ schaftlichen Ministeriums eingestellt worden, die aber sicherlich nicht genügen können, wenn die Enquete ernstlich gemeint sein soll. Der Verein für Sozialpolitik ist unabhängig hiervon vorgegangen, sein Ausschuß hat 23 Fragen aufgestellt, deren Beantwortung in den Berichten ver- schiedner mit den Verhältnissen der Landwirtschaft vertrauten Personen bereits in zwei Bänden vorliegt.*) Der erste Band bezog sich auf Bezirke des süd¬ westlichen Deutschlands (Thüringen, Kassel, Wiesbaden, Rheinprovinz, bairische Pfalz, München). Der zweite Band umfaßt Westfalen, Oldenburg, Schleswig- Holstein, Braunschweig, Halberstadt, Königreich Sachsen, Westpreußen (besonders Graudenz), Ostpreußen (besonders Gumbinnen). Die Berichte, meistens von den Vorständen (Generalsekretären) der landwirtschaftlichen Vereine abgefaßt, sind außerordentlich interessant, allein bei allem schätzenswerten Material, das sie beibringen, gerade in der Frage der bäuerlichen Verschuldung völlig unzureichend, weil sie in dieser Hinsicht lediglich auf ihre arbiträre Schätzung angewiesen sind. Daher kommt es, daß höchst entgegengesetzte Urteile diesen Berichten bereits entnommen sind, daß die einen behaupten, die bäuerlichen Zustände seien ganz vorzüglich, und die andern sie recht schwarz bezeichnen. Man wird bei diesen Berichten davon auszugehen haben, daß ähnlich wie bei den englischen Parlaments-Enqueten es sich um das wertvolle Urteil sach¬ verständiger Männer über die wirtschaftliche Lage des Bauernstandes handelt, um ein Urteil, das jedoch da mit Vorsicht aufzunehmen ist, wo — wie bei der Frage der Verschuldung — allein Zahlen entscheiden können, die jenen Berichterstattern auch beim besten Willen nicht zur Verfügung standen. Auch sind die Berichte ungleich; der von Gerland über das Fürstentum Halberstadt giebt in höchst eingehender Weise eine geschichtliche Entwicklung über die Lage *) Bäuerliche Zustände in Deutschland. Berichte, veröffentlicht vom Berein für Sozialpolitik. Zwei Bände. Leipzig, Duncker Ä Humblot, 1833.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_153446/230>, abgerufen am 08.09.2024.