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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal.

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Bäuerliche Zustände in Deutschland.

Landwirtschaft herunter, weil Latifnndienbesitz auf der einen und Besitzlosigkeit
auf der andern Seite eine intensive Wirtschaft von Grund und Boden nicht
aufkommen ließen. Es war daher eine große und befreiende That, als das
preußische Edikt vom 9. Oktober 1809 verkündete: "Mit dem Martinitage 1810
hört alle Gutsunterthänigkeit ans, nach dem Martinitage giebt es nur freie
Leute." An dieses Edikt schloß sich dann eine Reihe wohlthätiger Gesetze und
Verordnungen, deren Ziel es war, die verzwickten und einem Rattenkönig
gleichenden gutshcrrlich-bäuerlichen Verhältnisse zu lösen und die Befreiung
von der Unterthänigkeit, wie jenes Edikt es aussprach, zur Wahrheit zu machen.
Der preußische Vorgang fand in den andern Teilen Deutschlands baldige Nach¬
eiferung, oft wurden die preußischen Gesetze ohne weiteres abgeschrieben. Damit
reichte die Gesetzgebung einige Menschenalter aus. Aber bald trat an Stelle
des Feudalherrn ein andrer gewaltiger Herrscher: das Kapital; die Natural¬
wirtschaft wurde von der Geldwirtschaft abgelöst, die Besitzverhältnisse änderten
sich, Industrie und Fabriken zeigten den Weg zu einem andern Besitz, die Be-
völkerung vermehrte sich, die Zollschranken fielen, der deutsche Markt wurde
mit den Produkten Amerikas und Rußlands überschwemmt, und so sieht sich in
unsern Tagen der Landmann wiederum von Gefahren bedroht, die ihn in eine
noch schlimmere Unterthänigkeit zu zwingen geeignet sind, als wie sie vor 1810
bestanden hat, denn damals mußte doch der Herr für die Not seines Bauern
sorgen. In dieser kritischen Zeit scheint die Fürsorge des Staates den Landmann
ganz verlassen zu haben; in einer eigentümlichen Rechtsanwendung des Sprich¬
worts "Bürger und Bauer trennt nichts als die Mauer" hat die gleichmache-
rischc Gesetzgebung der letzten Jahre vor diesen den Bauernstand bedrohenden
Gefahren die Augen verschlossen und die Politik des Vogels Strauß getrieben,
der an die Verfolger nicht glaubt, vor denen er sich versteckt. Die gebildete
deutsche Welt war im letzten Menschenalter zu sehr mit staatspolitischen Fragen
beschäftigt; in der Lostrennnng des Individuums von den staatlichen Schranken
glaubte man die höchste Aufgabe erreicht zu haben, und weil der Landmann in
seiner rätselhaften Geduld allmählich selbst für Recht erachtete, was an ihm
Unrecht begangen wurde, so glaubten die deutschen Staatsmänner in ihrer
überwiegenden Mehrheit uach der Gründung des neuen Reiches, daß alles eitel
gut und herrlich sei.

Es ist bekannt, daß es Fürst Bismarck war, der das deutsche Volk aus
diesem Schollen Traum aufrüttelte und deshalb von allen denjenigen mit feind¬
seligen Blicken betrachtet und mit Haß verfolgt wird, die lieber angenehm
krümmen, als in der Wirklichkeit der brutalen Thatsachen wach sein wollen.
Besonnene Leute, die es mit der Zukunft des deutschen Volkes ernst meinen,
wenden jetzt, wo die Hand in die Wunde gelegt ist, deren Heilung ihre Auf¬
merksamkeit zu. Um aber eine Heilung anzustreben, muß man zuerst die ganze
Konstruktion des Körpers kennen, und da zeigte sich bald, daß man in Deutsch-


Bäuerliche Zustände in Deutschland.

Landwirtschaft herunter, weil Latifnndienbesitz auf der einen und Besitzlosigkeit
auf der andern Seite eine intensive Wirtschaft von Grund und Boden nicht
aufkommen ließen. Es war daher eine große und befreiende That, als das
preußische Edikt vom 9. Oktober 1809 verkündete: „Mit dem Martinitage 1810
hört alle Gutsunterthänigkeit ans, nach dem Martinitage giebt es nur freie
Leute." An dieses Edikt schloß sich dann eine Reihe wohlthätiger Gesetze und
Verordnungen, deren Ziel es war, die verzwickten und einem Rattenkönig
gleichenden gutshcrrlich-bäuerlichen Verhältnisse zu lösen und die Befreiung
von der Unterthänigkeit, wie jenes Edikt es aussprach, zur Wahrheit zu machen.
Der preußische Vorgang fand in den andern Teilen Deutschlands baldige Nach¬
eiferung, oft wurden die preußischen Gesetze ohne weiteres abgeschrieben. Damit
reichte die Gesetzgebung einige Menschenalter aus. Aber bald trat an Stelle
des Feudalherrn ein andrer gewaltiger Herrscher: das Kapital; die Natural¬
wirtschaft wurde von der Geldwirtschaft abgelöst, die Besitzverhältnisse änderten
sich, Industrie und Fabriken zeigten den Weg zu einem andern Besitz, die Be-
völkerung vermehrte sich, die Zollschranken fielen, der deutsche Markt wurde
mit den Produkten Amerikas und Rußlands überschwemmt, und so sieht sich in
unsern Tagen der Landmann wiederum von Gefahren bedroht, die ihn in eine
noch schlimmere Unterthänigkeit zu zwingen geeignet sind, als wie sie vor 1810
bestanden hat, denn damals mußte doch der Herr für die Not seines Bauern
sorgen. In dieser kritischen Zeit scheint die Fürsorge des Staates den Landmann
ganz verlassen zu haben; in einer eigentümlichen Rechtsanwendung des Sprich¬
worts „Bürger und Bauer trennt nichts als die Mauer" hat die gleichmache-
rischc Gesetzgebung der letzten Jahre vor diesen den Bauernstand bedrohenden
Gefahren die Augen verschlossen und die Politik des Vogels Strauß getrieben,
der an die Verfolger nicht glaubt, vor denen er sich versteckt. Die gebildete
deutsche Welt war im letzten Menschenalter zu sehr mit staatspolitischen Fragen
beschäftigt; in der Lostrennnng des Individuums von den staatlichen Schranken
glaubte man die höchste Aufgabe erreicht zu haben, und weil der Landmann in
seiner rätselhaften Geduld allmählich selbst für Recht erachtete, was an ihm
Unrecht begangen wurde, so glaubten die deutschen Staatsmänner in ihrer
überwiegenden Mehrheit uach der Gründung des neuen Reiches, daß alles eitel
gut und herrlich sei.

Es ist bekannt, daß es Fürst Bismarck war, der das deutsche Volk aus
diesem Schollen Traum aufrüttelte und deshalb von allen denjenigen mit feind¬
seligen Blicken betrachtet und mit Haß verfolgt wird, die lieber angenehm
krümmen, als in der Wirklichkeit der brutalen Thatsachen wach sein wollen.
Besonnene Leute, die es mit der Zukunft des deutschen Volkes ernst meinen,
wenden jetzt, wo die Hand in die Wunde gelegt ist, deren Heilung ihre Auf¬
merksamkeit zu. Um aber eine Heilung anzustreben, muß man zuerst die ganze
Konstruktion des Körpers kennen, und da zeigte sich bald, daß man in Deutsch-


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[0229] Bäuerliche Zustände in Deutschland. Landwirtschaft herunter, weil Latifnndienbesitz auf der einen und Besitzlosigkeit auf der andern Seite eine intensive Wirtschaft von Grund und Boden nicht aufkommen ließen. Es war daher eine große und befreiende That, als das preußische Edikt vom 9. Oktober 1809 verkündete: „Mit dem Martinitage 1810 hört alle Gutsunterthänigkeit ans, nach dem Martinitage giebt es nur freie Leute." An dieses Edikt schloß sich dann eine Reihe wohlthätiger Gesetze und Verordnungen, deren Ziel es war, die verzwickten und einem Rattenkönig gleichenden gutshcrrlich-bäuerlichen Verhältnisse zu lösen und die Befreiung von der Unterthänigkeit, wie jenes Edikt es aussprach, zur Wahrheit zu machen. Der preußische Vorgang fand in den andern Teilen Deutschlands baldige Nach¬ eiferung, oft wurden die preußischen Gesetze ohne weiteres abgeschrieben. Damit reichte die Gesetzgebung einige Menschenalter aus. Aber bald trat an Stelle des Feudalherrn ein andrer gewaltiger Herrscher: das Kapital; die Natural¬ wirtschaft wurde von der Geldwirtschaft abgelöst, die Besitzverhältnisse änderten sich, Industrie und Fabriken zeigten den Weg zu einem andern Besitz, die Be- völkerung vermehrte sich, die Zollschranken fielen, der deutsche Markt wurde mit den Produkten Amerikas und Rußlands überschwemmt, und so sieht sich in unsern Tagen der Landmann wiederum von Gefahren bedroht, die ihn in eine noch schlimmere Unterthänigkeit zu zwingen geeignet sind, als wie sie vor 1810 bestanden hat, denn damals mußte doch der Herr für die Not seines Bauern sorgen. In dieser kritischen Zeit scheint die Fürsorge des Staates den Landmann ganz verlassen zu haben; in einer eigentümlichen Rechtsanwendung des Sprich¬ worts „Bürger und Bauer trennt nichts als die Mauer" hat die gleichmache- rischc Gesetzgebung der letzten Jahre vor diesen den Bauernstand bedrohenden Gefahren die Augen verschlossen und die Politik des Vogels Strauß getrieben, der an die Verfolger nicht glaubt, vor denen er sich versteckt. Die gebildete deutsche Welt war im letzten Menschenalter zu sehr mit staatspolitischen Fragen beschäftigt; in der Lostrennnng des Individuums von den staatlichen Schranken glaubte man die höchste Aufgabe erreicht zu haben, und weil der Landmann in seiner rätselhaften Geduld allmählich selbst für Recht erachtete, was an ihm Unrecht begangen wurde, so glaubten die deutschen Staatsmänner in ihrer überwiegenden Mehrheit uach der Gründung des neuen Reiches, daß alles eitel gut und herrlich sei. Es ist bekannt, daß es Fürst Bismarck war, der das deutsche Volk aus diesem Schollen Traum aufrüttelte und deshalb von allen denjenigen mit feind¬ seligen Blicken betrachtet und mit Haß verfolgt wird, die lieber angenehm krümmen, als in der Wirklichkeit der brutalen Thatsachen wach sein wollen. Besonnene Leute, die es mit der Zukunft des deutschen Volkes ernst meinen, wenden jetzt, wo die Hand in die Wunde gelegt ist, deren Heilung ihre Auf¬ merksamkeit zu. Um aber eine Heilung anzustreben, muß man zuerst die ganze Konstruktion des Körpers kennen, und da zeigte sich bald, daß man in Deutsch-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_153446/229>, abgerufen am 08.09.2024.