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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal.

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Zum Lutherjubiläum.

mit dem Gelöbnis erscheinen, den Faden redlich aufzusuchen, der aus dem
Labyrinth unsrer verworrenen Bildung führt.

Dunkel, sehr verdunkelt, wenn wir ehrlich sein wollen, ist für die Menge
unsrer Gebildeten die Erkenntnis, was Luther dem deutscheu Volke gewesen ist
und was er ihm noch sein muß, noch sein kann. Denn die deutsche Nation
hat Luthers Wesen bei weitem nicht erschöpft, bei weitem nicht in sich aufge¬
nommen und wieder geschaffen, wie einst in schöner, wohlmeinender Rede es
Döllinger ausgesprochen. Vieles geschieht ja in diesem Jahre, um das Ver¬
ständnis Luthers deu Gebildeten unsrer Tage nahe zu bringen. Es wäre ein
Verdienst, eine Überschau der Lutherbücher dieses Jahres zu geben. Unter
allem, was über den herrlichen Mann geschrieben, möchte ich den Vorzug geben
dem Lebensbilde Heinrich Rückerts, welches 1874 den "Deutschen Plutarch"
eröffnete. Aus keiner Darstellung wird es so deutlich, daß das deutsche Volk
Luther nicht weniger verdankt, als seine Erhaltung. Wäre Heinrich Rückert
nicht eines so frühen Todes gestorben, er wäre der Mann, mit seiner uner¬
schöpflichen Gelehrsamkeit, mit seiner besonders reichen Kenntnis des sechzehnten
Jahrhunderts dem Gottlieb und all diesem Gelichter entgegenzutreten. Wir
müssen und werden uns ohne ihn helfen. Aber keiner von uns besitzt das
Schwert, um bis zum 10. November d. I. alle diese giftigen Ungetüme zu
verjagen. Es muß nach und nach geschehen. Aber wir müssen uns geloben,
das Werk zu vollbringen.

Es ist ein trefflicher Gedanke, in den Herbstmonaten überall öffentliche
Vorträge zum Verständnis Luthers zu veranstalten. Aber eins bleibe nicht
unberücksichtigt: mau ist in unsern Tagen immer und überall mit dem "Volk"
da, ohne zu fragen, in welchem Sinne es in unsern Tagen ein Volk giebt.
Das Verständnis Luthers thut am meisten und vor allen den Gebildeten dieser
Tage not und ist diesen Gebildeten am meisten versperrt. Die Freunde der
deutsch-evangelischen Blätter sollten in Berlin etwa sechs Vorträge veranstalten
über die anscheinend mit unsrer Bildung unverträglichen Punkte in Luthers
Lehre und Weltanschauung. Die Sache müßte in der Tiefe angefaßt werden,
die Vorträge dürften also nicht "populär" sein. Der Zutritt müßte unent¬
geltlich, aber nur gegen Eintrittskarten gestattet sein, die auf deu Namen des
Bittenden ausgestellt werden. Es könnte sich auch nicht um Massenanziehung
handeln, sondern höchstens um einige Hunderte von gebildeten Zuhörern. Die
besten Männer müßten zur Gabe der Vortrüge sich darbieten und gewonnen werden.

Man hat vom Bau einer Lntherkirche in Berlin gesprochen, deren Grund¬
stein etwa am 10. November zu legen wäre. Vorher war das Projekt
einer Votivkirchc zum Andenken an die Errettung des Kaisers am 2. Juni 1878
angeregt worden. Es ist unbegreiflich, daß nicht das gesamte evangelische
Deutschland im Reich und außer dem Reich sich mit Bitten und Gaben an
deu Kaiser wendet, die thätige Hand an den Berliner Dombau zu legen, jenen


Zum Lutherjubiläum.

mit dem Gelöbnis erscheinen, den Faden redlich aufzusuchen, der aus dem
Labyrinth unsrer verworrenen Bildung führt.

Dunkel, sehr verdunkelt, wenn wir ehrlich sein wollen, ist für die Menge
unsrer Gebildeten die Erkenntnis, was Luther dem deutscheu Volke gewesen ist
und was er ihm noch sein muß, noch sein kann. Denn die deutsche Nation
hat Luthers Wesen bei weitem nicht erschöpft, bei weitem nicht in sich aufge¬
nommen und wieder geschaffen, wie einst in schöner, wohlmeinender Rede es
Döllinger ausgesprochen. Vieles geschieht ja in diesem Jahre, um das Ver¬
ständnis Luthers deu Gebildeten unsrer Tage nahe zu bringen. Es wäre ein
Verdienst, eine Überschau der Lutherbücher dieses Jahres zu geben. Unter
allem, was über den herrlichen Mann geschrieben, möchte ich den Vorzug geben
dem Lebensbilde Heinrich Rückerts, welches 1874 den „Deutschen Plutarch"
eröffnete. Aus keiner Darstellung wird es so deutlich, daß das deutsche Volk
Luther nicht weniger verdankt, als seine Erhaltung. Wäre Heinrich Rückert
nicht eines so frühen Todes gestorben, er wäre der Mann, mit seiner uner¬
schöpflichen Gelehrsamkeit, mit seiner besonders reichen Kenntnis des sechzehnten
Jahrhunderts dem Gottlieb und all diesem Gelichter entgegenzutreten. Wir
müssen und werden uns ohne ihn helfen. Aber keiner von uns besitzt das
Schwert, um bis zum 10. November d. I. alle diese giftigen Ungetüme zu
verjagen. Es muß nach und nach geschehen. Aber wir müssen uns geloben,
das Werk zu vollbringen.

Es ist ein trefflicher Gedanke, in den Herbstmonaten überall öffentliche
Vorträge zum Verständnis Luthers zu veranstalten. Aber eins bleibe nicht
unberücksichtigt: mau ist in unsern Tagen immer und überall mit dem „Volk"
da, ohne zu fragen, in welchem Sinne es in unsern Tagen ein Volk giebt.
Das Verständnis Luthers thut am meisten und vor allen den Gebildeten dieser
Tage not und ist diesen Gebildeten am meisten versperrt. Die Freunde der
deutsch-evangelischen Blätter sollten in Berlin etwa sechs Vorträge veranstalten
über die anscheinend mit unsrer Bildung unverträglichen Punkte in Luthers
Lehre und Weltanschauung. Die Sache müßte in der Tiefe angefaßt werden,
die Vorträge dürften also nicht „populär" sein. Der Zutritt müßte unent¬
geltlich, aber nur gegen Eintrittskarten gestattet sein, die auf deu Namen des
Bittenden ausgestellt werden. Es könnte sich auch nicht um Massenanziehung
handeln, sondern höchstens um einige Hunderte von gebildeten Zuhörern. Die
besten Männer müßten zur Gabe der Vortrüge sich darbieten und gewonnen werden.

Man hat vom Bau einer Lntherkirche in Berlin gesprochen, deren Grund¬
stein etwa am 10. November zu legen wäre. Vorher war das Projekt
einer Votivkirchc zum Andenken an die Errettung des Kaisers am 2. Juni 1878
angeregt worden. Es ist unbegreiflich, daß nicht das gesamte evangelische
Deutschland im Reich und außer dem Reich sich mit Bitten und Gaben an
deu Kaiser wendet, die thätige Hand an den Berliner Dombau zu legen, jenen


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[0227] Zum Lutherjubiläum. mit dem Gelöbnis erscheinen, den Faden redlich aufzusuchen, der aus dem Labyrinth unsrer verworrenen Bildung führt. Dunkel, sehr verdunkelt, wenn wir ehrlich sein wollen, ist für die Menge unsrer Gebildeten die Erkenntnis, was Luther dem deutscheu Volke gewesen ist und was er ihm noch sein muß, noch sein kann. Denn die deutsche Nation hat Luthers Wesen bei weitem nicht erschöpft, bei weitem nicht in sich aufge¬ nommen und wieder geschaffen, wie einst in schöner, wohlmeinender Rede es Döllinger ausgesprochen. Vieles geschieht ja in diesem Jahre, um das Ver¬ ständnis Luthers deu Gebildeten unsrer Tage nahe zu bringen. Es wäre ein Verdienst, eine Überschau der Lutherbücher dieses Jahres zu geben. Unter allem, was über den herrlichen Mann geschrieben, möchte ich den Vorzug geben dem Lebensbilde Heinrich Rückerts, welches 1874 den „Deutschen Plutarch" eröffnete. Aus keiner Darstellung wird es so deutlich, daß das deutsche Volk Luther nicht weniger verdankt, als seine Erhaltung. Wäre Heinrich Rückert nicht eines so frühen Todes gestorben, er wäre der Mann, mit seiner uner¬ schöpflichen Gelehrsamkeit, mit seiner besonders reichen Kenntnis des sechzehnten Jahrhunderts dem Gottlieb und all diesem Gelichter entgegenzutreten. Wir müssen und werden uns ohne ihn helfen. Aber keiner von uns besitzt das Schwert, um bis zum 10. November d. I. alle diese giftigen Ungetüme zu verjagen. Es muß nach und nach geschehen. Aber wir müssen uns geloben, das Werk zu vollbringen. Es ist ein trefflicher Gedanke, in den Herbstmonaten überall öffentliche Vorträge zum Verständnis Luthers zu veranstalten. Aber eins bleibe nicht unberücksichtigt: mau ist in unsern Tagen immer und überall mit dem „Volk" da, ohne zu fragen, in welchem Sinne es in unsern Tagen ein Volk giebt. Das Verständnis Luthers thut am meisten und vor allen den Gebildeten dieser Tage not und ist diesen Gebildeten am meisten versperrt. Die Freunde der deutsch-evangelischen Blätter sollten in Berlin etwa sechs Vorträge veranstalten über die anscheinend mit unsrer Bildung unverträglichen Punkte in Luthers Lehre und Weltanschauung. Die Sache müßte in der Tiefe angefaßt werden, die Vorträge dürften also nicht „populär" sein. Der Zutritt müßte unent¬ geltlich, aber nur gegen Eintrittskarten gestattet sein, die auf deu Namen des Bittenden ausgestellt werden. Es könnte sich auch nicht um Massenanziehung handeln, sondern höchstens um einige Hunderte von gebildeten Zuhörern. Die besten Männer müßten zur Gabe der Vortrüge sich darbieten und gewonnen werden. Man hat vom Bau einer Lntherkirche in Berlin gesprochen, deren Grund¬ stein etwa am 10. November zu legen wäre. Vorher war das Projekt einer Votivkirchc zum Andenken an die Errettung des Kaisers am 2. Juni 1878 angeregt worden. Es ist unbegreiflich, daß nicht das gesamte evangelische Deutschland im Reich und außer dem Reich sich mit Bitten und Gaben an deu Kaiser wendet, die thätige Hand an den Berliner Dombau zu legen, jenen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_153446/227>, abgerufen am 08.09.2024.