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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal.

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Zum Tuchorjubilänm.

eine Art nationaler Bildung geschaffen, die wenigstens den gebildeten Ständen
des protestantischen wie des katholischen Deutschlands gemeinsam war und immer
weiteren Kreisen gemeinsam werden zu können schien. Diese freilich sehr un¬
genügende Bildung, die aber doch die Eigenschaft besaß, einen gemeinsamen
Kern für Hoch und Niedrig bieten und ausbilden zu können, ist nicht reformirt,
nicht vertieft und befestigt, sondern zerschlagen, herabgesetzt und in Verachtung
gebracht worden durch einen aristokratischen Aufschwung des deutschen Geistes
von ungeahnter Tiefe und Herrlichkeit, dessen Ergebnisse aber nicht übergegangen
sind in eine Volksbildung und nicht von einer solchen berichtigt worden sind.
Jener Aufschwung hat erst die Schule einiger Schwächlinge gemacht, die von
solcher Schule unzertrennlichen Übertreibungen hervorgerufen und dann die un¬
zertrennliche Reaktion. Die Nation ist eben erst wieder dabei, sich in jenem
Garten köstlicher Früchte, an deren Duft sie sich anfangs bis zum Kopfschmerz
berauscht hatte, um ihn dann unerträglich zu finden, wieder zu orientiren.

Wir sagten: die Nation; aber es ist nicht die Nation, die sich orientirt,
es sind einzelne treue, pietätvolle Kreise. In deu zahllosen Bestrebungen der
Gegenwart bildet dieser Kultus einer edeln Vergangenheit, von deren Ausgang
wir uoch nicht das erste Jahrhundert entfernt sind, nnr einen Ring unter
vielen. Die Breite der populären Teilnahme gewinnen sich die Fortschritte
der mechanischen Naturerkenntnis mit ihren praktisch zum Teil imponirenden
Resultaten, mit ihrem geringen Wert für die Kultur des Geistes. Daneben
zahllose Kulte der Vergangenheit, zahllose Tempel der Zukunft mit Götzen¬
bildern, die aus Veralteten und Unmöglichen barock zusammengesetzt sind.
Denn von jeher hat der verworrene Trieb der Völker im toten Götzenbilde
vereinigt, was in der lebendigen Natur niemals verbunden ist und ihrem
Wesen widerstreitet.

So sieht unsre Bildung aus: Luthers reiche und gewaltige Weisungen
scheinbar uns fremd, unverständlich, mit unsrer Bildung unverträglich, ein mit
Erde bedeckter Trümmerhaufe; der Tempel der Aufklärung nicht minder ver¬
wittert, scheinbar ohne Zusammenhang mit Luthers Werk; dann, wiederum
ohne Zusammenhang, die edeln Süulcnreste der idealistischen Epoche, dann die
Kärrner einer gedankenlos sich übersehenden Naturwissenschaft, zwischen ihnen die
Ausgräber aller möglichen Mumien und auch ein verständnisvoller Kultus
edler Reste; aber alles das versteht einander nicht.

Wir können in dieser Schilderung nicht fortfahren, und wenn wir auch
den festen Glauben haben, daß der Faden zu finden ist oder, wenn man will,
der lebenspendende Stab, der diese Trümmer verbinden und zu den einladenden
Vorhöfen eines gewaltigen Tempels machen kann, so lebt doch niemand, der
diesen Stab in den wenigen Monaten bis zum Lutherjubiläum der Nation als
lenksames Werkzeug in die Hand geben könnte. Wir müssen vor dem Geistes¬
auge des Reformators erscheinen, wie wir eben sind, aber wir sollten wenigstens


Zum Tuchorjubilänm.

eine Art nationaler Bildung geschaffen, die wenigstens den gebildeten Ständen
des protestantischen wie des katholischen Deutschlands gemeinsam war und immer
weiteren Kreisen gemeinsam werden zu können schien. Diese freilich sehr un¬
genügende Bildung, die aber doch die Eigenschaft besaß, einen gemeinsamen
Kern für Hoch und Niedrig bieten und ausbilden zu können, ist nicht reformirt,
nicht vertieft und befestigt, sondern zerschlagen, herabgesetzt und in Verachtung
gebracht worden durch einen aristokratischen Aufschwung des deutschen Geistes
von ungeahnter Tiefe und Herrlichkeit, dessen Ergebnisse aber nicht übergegangen
sind in eine Volksbildung und nicht von einer solchen berichtigt worden sind.
Jener Aufschwung hat erst die Schule einiger Schwächlinge gemacht, die von
solcher Schule unzertrennlichen Übertreibungen hervorgerufen und dann die un¬
zertrennliche Reaktion. Die Nation ist eben erst wieder dabei, sich in jenem
Garten köstlicher Früchte, an deren Duft sie sich anfangs bis zum Kopfschmerz
berauscht hatte, um ihn dann unerträglich zu finden, wieder zu orientiren.

Wir sagten: die Nation; aber es ist nicht die Nation, die sich orientirt,
es sind einzelne treue, pietätvolle Kreise. In deu zahllosen Bestrebungen der
Gegenwart bildet dieser Kultus einer edeln Vergangenheit, von deren Ausgang
wir uoch nicht das erste Jahrhundert entfernt sind, nnr einen Ring unter
vielen. Die Breite der populären Teilnahme gewinnen sich die Fortschritte
der mechanischen Naturerkenntnis mit ihren praktisch zum Teil imponirenden
Resultaten, mit ihrem geringen Wert für die Kultur des Geistes. Daneben
zahllose Kulte der Vergangenheit, zahllose Tempel der Zukunft mit Götzen¬
bildern, die aus Veralteten und Unmöglichen barock zusammengesetzt sind.
Denn von jeher hat der verworrene Trieb der Völker im toten Götzenbilde
vereinigt, was in der lebendigen Natur niemals verbunden ist und ihrem
Wesen widerstreitet.

So sieht unsre Bildung aus: Luthers reiche und gewaltige Weisungen
scheinbar uns fremd, unverständlich, mit unsrer Bildung unverträglich, ein mit
Erde bedeckter Trümmerhaufe; der Tempel der Aufklärung nicht minder ver¬
wittert, scheinbar ohne Zusammenhang mit Luthers Werk; dann, wiederum
ohne Zusammenhang, die edeln Süulcnreste der idealistischen Epoche, dann die
Kärrner einer gedankenlos sich übersehenden Naturwissenschaft, zwischen ihnen die
Ausgräber aller möglichen Mumien und auch ein verständnisvoller Kultus
edler Reste; aber alles das versteht einander nicht.

Wir können in dieser Schilderung nicht fortfahren, und wenn wir auch
den festen Glauben haben, daß der Faden zu finden ist oder, wenn man will,
der lebenspendende Stab, der diese Trümmer verbinden und zu den einladenden
Vorhöfen eines gewaltigen Tempels machen kann, so lebt doch niemand, der
diesen Stab in den wenigen Monaten bis zum Lutherjubiläum der Nation als
lenksames Werkzeug in die Hand geben könnte. Wir müssen vor dem Geistes¬
auge des Reformators erscheinen, wie wir eben sind, aber wir sollten wenigstens


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[0226] Zum Tuchorjubilänm. eine Art nationaler Bildung geschaffen, die wenigstens den gebildeten Ständen des protestantischen wie des katholischen Deutschlands gemeinsam war und immer weiteren Kreisen gemeinsam werden zu können schien. Diese freilich sehr un¬ genügende Bildung, die aber doch die Eigenschaft besaß, einen gemeinsamen Kern für Hoch und Niedrig bieten und ausbilden zu können, ist nicht reformirt, nicht vertieft und befestigt, sondern zerschlagen, herabgesetzt und in Verachtung gebracht worden durch einen aristokratischen Aufschwung des deutschen Geistes von ungeahnter Tiefe und Herrlichkeit, dessen Ergebnisse aber nicht übergegangen sind in eine Volksbildung und nicht von einer solchen berichtigt worden sind. Jener Aufschwung hat erst die Schule einiger Schwächlinge gemacht, die von solcher Schule unzertrennlichen Übertreibungen hervorgerufen und dann die un¬ zertrennliche Reaktion. Die Nation ist eben erst wieder dabei, sich in jenem Garten köstlicher Früchte, an deren Duft sie sich anfangs bis zum Kopfschmerz berauscht hatte, um ihn dann unerträglich zu finden, wieder zu orientiren. Wir sagten: die Nation; aber es ist nicht die Nation, die sich orientirt, es sind einzelne treue, pietätvolle Kreise. In deu zahllosen Bestrebungen der Gegenwart bildet dieser Kultus einer edeln Vergangenheit, von deren Ausgang wir uoch nicht das erste Jahrhundert entfernt sind, nnr einen Ring unter vielen. Die Breite der populären Teilnahme gewinnen sich die Fortschritte der mechanischen Naturerkenntnis mit ihren praktisch zum Teil imponirenden Resultaten, mit ihrem geringen Wert für die Kultur des Geistes. Daneben zahllose Kulte der Vergangenheit, zahllose Tempel der Zukunft mit Götzen¬ bildern, die aus Veralteten und Unmöglichen barock zusammengesetzt sind. Denn von jeher hat der verworrene Trieb der Völker im toten Götzenbilde vereinigt, was in der lebendigen Natur niemals verbunden ist und ihrem Wesen widerstreitet. So sieht unsre Bildung aus: Luthers reiche und gewaltige Weisungen scheinbar uns fremd, unverständlich, mit unsrer Bildung unverträglich, ein mit Erde bedeckter Trümmerhaufe; der Tempel der Aufklärung nicht minder ver¬ wittert, scheinbar ohne Zusammenhang mit Luthers Werk; dann, wiederum ohne Zusammenhang, die edeln Süulcnreste der idealistischen Epoche, dann die Kärrner einer gedankenlos sich übersehenden Naturwissenschaft, zwischen ihnen die Ausgräber aller möglichen Mumien und auch ein verständnisvoller Kultus edler Reste; aber alles das versteht einander nicht. Wir können in dieser Schilderung nicht fortfahren, und wenn wir auch den festen Glauben haben, daß der Faden zu finden ist oder, wenn man will, der lebenspendende Stab, der diese Trümmer verbinden und zu den einladenden Vorhöfen eines gewaltigen Tempels machen kann, so lebt doch niemand, der diesen Stab in den wenigen Monaten bis zum Lutherjubiläum der Nation als lenksames Werkzeug in die Hand geben könnte. Wir müssen vor dem Geistes¬ auge des Reformators erscheinen, wie wir eben sind, aber wir sollten wenigstens

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_153446/226>, abgerufen am 08.09.2024.