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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal.

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Der pariser Salon.

Glänze umflossen, blickt es verklärt nach oben; der vortrefflich gezeichnete und
meisterlich modellirte Körper, welcher in Halbschatten gelegt ist, trägt die Spuren
der schrecklichen Marter. Der Brustkorb ist fast zum bersten gespannt, und
der Unterleib ist, von den umschnürenden Stricken zusammengezogen, ganz
eingesunken. Aber man kann nicht behaupten, daß diese naturalistische Dar¬
stellung irgendwie verletzend oder widerwärtig oder peinlich wirkte, weil eben
die Bildung und der Ausdruck des Kopses von höchstem Adel ist. Nichts¬
destoweniger haben die Franzosen an dieser rationalistischen Auslegung der
biblischen Tradition Anstoß genommen. Während sie sonst in den Schilderungen
von Märtyrern, Torturen und Schlächtereien nicht im mindesten skrupulös
sind, tragen sie eine merkwürdige Empfindlichkeit zur Schau, sobald es sich um
die höchsten Personen des Kultus handelt. Sie ziehen auf diesem Gebiete die
schwächlichste Abstraktion menschlicher Erscheinung einer gesunden, kraftvollen
Körperlichkeit vor. Alles soll gewissermaßen "cutmaterialisirt" sein. Das höchste,
was darin geleistet worden ist, hat jener schon genannte Puvis de Chavannes
auf seinen Wandgemälden im Pantheon zu Wege gebracht. Dieselben stellen
Szenen aus der Kindheit der heiligen Genovefa, der Schutzpatronin von Paris, dar
und sind namentlich in der Landschaft, in welcher sich die schemenhaften, wie
aus Kartonpapier ausgeschnittenen, ganz leicht angetuschten Figuren bewegen,
so naiv-kindlich behandelt, daß man glauben möchte, Bäume, Sträucher, Tiere
und Hügel seien aus einer Nürnberger Spielzeugschachtel aufgebaut. Die Fran¬
zosen nennen diese Art künstlerischen Ausdrucks, diese Entäußerung jedes kolo¬
ristischen Effekts, diese Verleugnung jeglicher Luftperspektive und der sich aus
ihr ergebenden Tonabstufungen siuoeÄts, Aufrichtigkeit, und diese swosrits ist
jetzt zu einem Feldgeschrei geworden, welches die Künstler verschiedner Richtungen
auf ihre Fahne geschrieben haben, besonders nachdem es durch eine Rede des
Unterrichtsministers Jules Ferry gewissermaßen eine offizielle Sanktion er¬
halten hat.

Im vorigen Salon hatten sich nämlich die lebensgroßen Darstellungen aus
dem bäuerlichen Leben, welche dem diesjährigen vollständig die Signatur auf¬
geprägt haben, schon so breit gemacht, daß man die Befürchtung aussprach, die
französische Malerei großen Stils drohe sich in diese geistlosen Trivialitäten zu
verlieren und ihre alten Ruhmestitel zu verleugnen. Nichtsdestoweniger wurde
die Ehrenmedaille bei der Abstimmung, an welcher sich alle auf der Ausstellung
vertretenen Künstler beteiligten, dem Idealisten Puvis de Chavannes zuerkannt,
nicht etwa einem der jüngern Naturalisten oder, wie man bei der Unzulänglich¬
keit dieses Wortes bald sagen wird, einem der "Trivialisten." Mit Rücksicht
auf diese Umstände sagte der Minister in seiner bei der Preisverteilung ge¬
haltenen Rede: "Wenn man eine Art systematischen Strebens nach Trivialität
in den sujets rügen darf, so muß man auf der andern Seite bemerken, daß
die Trivialität in der Ausführung im allgemeinen nicht vorhanden ist. Die


Der pariser Salon.

Glänze umflossen, blickt es verklärt nach oben; der vortrefflich gezeichnete und
meisterlich modellirte Körper, welcher in Halbschatten gelegt ist, trägt die Spuren
der schrecklichen Marter. Der Brustkorb ist fast zum bersten gespannt, und
der Unterleib ist, von den umschnürenden Stricken zusammengezogen, ganz
eingesunken. Aber man kann nicht behaupten, daß diese naturalistische Dar¬
stellung irgendwie verletzend oder widerwärtig oder peinlich wirkte, weil eben
die Bildung und der Ausdruck des Kopses von höchstem Adel ist. Nichts¬
destoweniger haben die Franzosen an dieser rationalistischen Auslegung der
biblischen Tradition Anstoß genommen. Während sie sonst in den Schilderungen
von Märtyrern, Torturen und Schlächtereien nicht im mindesten skrupulös
sind, tragen sie eine merkwürdige Empfindlichkeit zur Schau, sobald es sich um
die höchsten Personen des Kultus handelt. Sie ziehen auf diesem Gebiete die
schwächlichste Abstraktion menschlicher Erscheinung einer gesunden, kraftvollen
Körperlichkeit vor. Alles soll gewissermaßen „cutmaterialisirt" sein. Das höchste,
was darin geleistet worden ist, hat jener schon genannte Puvis de Chavannes
auf seinen Wandgemälden im Pantheon zu Wege gebracht. Dieselben stellen
Szenen aus der Kindheit der heiligen Genovefa, der Schutzpatronin von Paris, dar
und sind namentlich in der Landschaft, in welcher sich die schemenhaften, wie
aus Kartonpapier ausgeschnittenen, ganz leicht angetuschten Figuren bewegen,
so naiv-kindlich behandelt, daß man glauben möchte, Bäume, Sträucher, Tiere
und Hügel seien aus einer Nürnberger Spielzeugschachtel aufgebaut. Die Fran¬
zosen nennen diese Art künstlerischen Ausdrucks, diese Entäußerung jedes kolo¬
ristischen Effekts, diese Verleugnung jeglicher Luftperspektive und der sich aus
ihr ergebenden Tonabstufungen siuoeÄts, Aufrichtigkeit, und diese swosrits ist
jetzt zu einem Feldgeschrei geworden, welches die Künstler verschiedner Richtungen
auf ihre Fahne geschrieben haben, besonders nachdem es durch eine Rede des
Unterrichtsministers Jules Ferry gewissermaßen eine offizielle Sanktion er¬
halten hat.

Im vorigen Salon hatten sich nämlich die lebensgroßen Darstellungen aus
dem bäuerlichen Leben, welche dem diesjährigen vollständig die Signatur auf¬
geprägt haben, schon so breit gemacht, daß man die Befürchtung aussprach, die
französische Malerei großen Stils drohe sich in diese geistlosen Trivialitäten zu
verlieren und ihre alten Ruhmestitel zu verleugnen. Nichtsdestoweniger wurde
die Ehrenmedaille bei der Abstimmung, an welcher sich alle auf der Ausstellung
vertretenen Künstler beteiligten, dem Idealisten Puvis de Chavannes zuerkannt,
nicht etwa einem der jüngern Naturalisten oder, wie man bei der Unzulänglich¬
keit dieses Wortes bald sagen wird, einem der „Trivialisten." Mit Rücksicht
auf diese Umstände sagte der Minister in seiner bei der Preisverteilung ge¬
haltenen Rede: „Wenn man eine Art systematischen Strebens nach Trivialität
in den sujets rügen darf, so muß man auf der andern Seite bemerken, daß
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[0204] Der pariser Salon. Glänze umflossen, blickt es verklärt nach oben; der vortrefflich gezeichnete und meisterlich modellirte Körper, welcher in Halbschatten gelegt ist, trägt die Spuren der schrecklichen Marter. Der Brustkorb ist fast zum bersten gespannt, und der Unterleib ist, von den umschnürenden Stricken zusammengezogen, ganz eingesunken. Aber man kann nicht behaupten, daß diese naturalistische Dar¬ stellung irgendwie verletzend oder widerwärtig oder peinlich wirkte, weil eben die Bildung und der Ausdruck des Kopses von höchstem Adel ist. Nichts¬ destoweniger haben die Franzosen an dieser rationalistischen Auslegung der biblischen Tradition Anstoß genommen. Während sie sonst in den Schilderungen von Märtyrern, Torturen und Schlächtereien nicht im mindesten skrupulös sind, tragen sie eine merkwürdige Empfindlichkeit zur Schau, sobald es sich um die höchsten Personen des Kultus handelt. Sie ziehen auf diesem Gebiete die schwächlichste Abstraktion menschlicher Erscheinung einer gesunden, kraftvollen Körperlichkeit vor. Alles soll gewissermaßen „cutmaterialisirt" sein. Das höchste, was darin geleistet worden ist, hat jener schon genannte Puvis de Chavannes auf seinen Wandgemälden im Pantheon zu Wege gebracht. Dieselben stellen Szenen aus der Kindheit der heiligen Genovefa, der Schutzpatronin von Paris, dar und sind namentlich in der Landschaft, in welcher sich die schemenhaften, wie aus Kartonpapier ausgeschnittenen, ganz leicht angetuschten Figuren bewegen, so naiv-kindlich behandelt, daß man glauben möchte, Bäume, Sträucher, Tiere und Hügel seien aus einer Nürnberger Spielzeugschachtel aufgebaut. Die Fran¬ zosen nennen diese Art künstlerischen Ausdrucks, diese Entäußerung jedes kolo¬ ristischen Effekts, diese Verleugnung jeglicher Luftperspektive und der sich aus ihr ergebenden Tonabstufungen siuoeÄts, Aufrichtigkeit, und diese swosrits ist jetzt zu einem Feldgeschrei geworden, welches die Künstler verschiedner Richtungen auf ihre Fahne geschrieben haben, besonders nachdem es durch eine Rede des Unterrichtsministers Jules Ferry gewissermaßen eine offizielle Sanktion er¬ halten hat. Im vorigen Salon hatten sich nämlich die lebensgroßen Darstellungen aus dem bäuerlichen Leben, welche dem diesjährigen vollständig die Signatur auf¬ geprägt haben, schon so breit gemacht, daß man die Befürchtung aussprach, die französische Malerei großen Stils drohe sich in diese geistlosen Trivialitäten zu verlieren und ihre alten Ruhmestitel zu verleugnen. Nichtsdestoweniger wurde die Ehrenmedaille bei der Abstimmung, an welcher sich alle auf der Ausstellung vertretenen Künstler beteiligten, dem Idealisten Puvis de Chavannes zuerkannt, nicht etwa einem der jüngern Naturalisten oder, wie man bei der Unzulänglich¬ keit dieses Wortes bald sagen wird, einem der „Trivialisten." Mit Rücksicht auf diese Umstände sagte der Minister in seiner bei der Preisverteilung ge¬ haltenen Rede: „Wenn man eine Art systematischen Strebens nach Trivialität in den sujets rügen darf, so muß man auf der andern Seite bemerken, daß die Trivialität in der Ausführung im allgemeinen nicht vorhanden ist. Die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_153446/204>, abgerufen am 08.09.2024.