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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal.

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sich schon fühlbar gemacht, und selbst in den Gerichtssälen ist diese Agitation
gegen die Polizei zu unliebsamen Erörterungen gelangt. Dagegen finden die
Praktiken und Kniffe der Blutsauger und Wucherer in dem Verein keine Ab¬
fertigung.

Die Manchestcrschule der Politik wird sich vielleicht vornehm von einem
solchen Treiben abwenden und behaupten, daß ein solcher Verein gar keine
Beachtung verdiene und daß er bei dem gesunden Sinn der Bevölkerung wieder
ebenso schnell verschwinden würde, als er aufgetaucht ist. Eine solche Auffassung
verdient aber keine Billigung. Wenn die "Nationalzeitung" neuerdings einmal
den Spruch Humes anführte, daß die englische Flotte und Armee nur dazu
bestimmt sei, um die Unabhängigkeit der zwölf englischen Richter zu schützen, so
sollte sie für das eigne Vaterland einen solchen Schutz nicht bloß nach außen
und oben, sondern auch nach innen und unten für erforderlich halten. In den
französischen Korrespondenzen der deutschen Presse wird der Tadel gegen die Macht¬
haber der Republik nicht gespart, daß sie das zerstörende, die öffentliche Sicherheit
bedrohende Treiben der Anarchisten solange dulde, bis sie ihrer nicht mehr werde
Meister werden können. Allein für das Untergraben der Autorität im eignen
Lande ist man blind oder wendet absichtlich die Augen davon ab. Nun hat
freilich das politische Treiben Berlins für Deutschland nicht denselben Einfluß,
wie das Leben von Paris auf die Provinzen, aber unbeachtet darf es doch nicht
gelassen werden, und wo Mängel hervortreten, ist es die Pflicht des Patrioten,
sie aufzudecken und seine Stimme gegen sie zu erheben. Ans diesem Grunde
wollten wir nicht unterlassen, diese neueste Gewaltthat des Berliner Fortschritts
bekannt zu machen.*) Seine blinde Rücksichtslosigkeit hat allein zu den scharfen
Gegensätzen geführt. Es gab eine Zeit, wo der Oberbürgermeister von Forcken-
beck als Kandidat des zweiten Berliner Wahlkreises -- des Wohnsitzes der meisten
gebildeten Klassen -- gegenüber dem Fortschrittskandidaten, einem mäßig be¬
gabten Richter, unterlegen ist. Nach einiger Zeit hat in demselben Wahlkreise
der Sozialdemokrat den Sieg errungen, und bei der letzten Wahl hat der Hof¬
prediger Stöcker eine Stimmenzahl erhalten, welche den Sieg Virchows lange
zweifelhaft erscheinen ließ und bei einer künftigen Wahl vielleicht ganz verhindern
wird. Möglich aber auch, daß bis dahin der Vorsitzende des Rechtsschutzvereins
durch seine Agitation gegen die Unabhängigkeit der Rechtspflege und die Un¬
parteilichkeit der Richter sich bereits würdig genug gezeigt hat, um auf dem
Schilde des allgemeinen Stimmrechts seinen Einzug in das Parlament zu
halten.

Es sollte uns nicht wundern, wenn demnächst von feiten der enropäischen
Mächte das Verlangen gestellt würde, wie in der Türkei, so auch in Deutsch-



*) Der Verein wendet sich natürlich an jedermann, ohne Unterschied der Parteien, aber
was diese Floskel der Fortschrittspartei zu bedeuten hat, das weiß man ja.

sich schon fühlbar gemacht, und selbst in den Gerichtssälen ist diese Agitation
gegen die Polizei zu unliebsamen Erörterungen gelangt. Dagegen finden die
Praktiken und Kniffe der Blutsauger und Wucherer in dem Verein keine Ab¬
fertigung.

Die Manchestcrschule der Politik wird sich vielleicht vornehm von einem
solchen Treiben abwenden und behaupten, daß ein solcher Verein gar keine
Beachtung verdiene und daß er bei dem gesunden Sinn der Bevölkerung wieder
ebenso schnell verschwinden würde, als er aufgetaucht ist. Eine solche Auffassung
verdient aber keine Billigung. Wenn die „Nationalzeitung" neuerdings einmal
den Spruch Humes anführte, daß die englische Flotte und Armee nur dazu
bestimmt sei, um die Unabhängigkeit der zwölf englischen Richter zu schützen, so
sollte sie für das eigne Vaterland einen solchen Schutz nicht bloß nach außen
und oben, sondern auch nach innen und unten für erforderlich halten. In den
französischen Korrespondenzen der deutschen Presse wird der Tadel gegen die Macht¬
haber der Republik nicht gespart, daß sie das zerstörende, die öffentliche Sicherheit
bedrohende Treiben der Anarchisten solange dulde, bis sie ihrer nicht mehr werde
Meister werden können. Allein für das Untergraben der Autorität im eignen
Lande ist man blind oder wendet absichtlich die Augen davon ab. Nun hat
freilich das politische Treiben Berlins für Deutschland nicht denselben Einfluß,
wie das Leben von Paris auf die Provinzen, aber unbeachtet darf es doch nicht
gelassen werden, und wo Mängel hervortreten, ist es die Pflicht des Patrioten,
sie aufzudecken und seine Stimme gegen sie zu erheben. Ans diesem Grunde
wollten wir nicht unterlassen, diese neueste Gewaltthat des Berliner Fortschritts
bekannt zu machen.*) Seine blinde Rücksichtslosigkeit hat allein zu den scharfen
Gegensätzen geführt. Es gab eine Zeit, wo der Oberbürgermeister von Forcken-
beck als Kandidat des zweiten Berliner Wahlkreises — des Wohnsitzes der meisten
gebildeten Klassen — gegenüber dem Fortschrittskandidaten, einem mäßig be¬
gabten Richter, unterlegen ist. Nach einiger Zeit hat in demselben Wahlkreise
der Sozialdemokrat den Sieg errungen, und bei der letzten Wahl hat der Hof¬
prediger Stöcker eine Stimmenzahl erhalten, welche den Sieg Virchows lange
zweifelhaft erscheinen ließ und bei einer künftigen Wahl vielleicht ganz verhindern
wird. Möglich aber auch, daß bis dahin der Vorsitzende des Rechtsschutzvereins
durch seine Agitation gegen die Unabhängigkeit der Rechtspflege und die Un¬
parteilichkeit der Richter sich bereits würdig genug gezeigt hat, um auf dem
Schilde des allgemeinen Stimmrechts seinen Einzug in das Parlament zu
halten.

Es sollte uns nicht wundern, wenn demnächst von feiten der enropäischen
Mächte das Verlangen gestellt würde, wie in der Türkei, so auch in Deutsch-



*) Der Verein wendet sich natürlich an jedermann, ohne Unterschied der Parteien, aber
was diese Floskel der Fortschrittspartei zu bedeuten hat, das weiß man ja.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_153446/187>, abgerufen am 08.09.2024.