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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal.

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Rechtsschutz und Rechtssicherheit im Reiche.

allein in keinem derselben war ein Vorwurf gegen die Organe der Strafrechts¬
pflege zu erheben oder ein Versehen zu rügen, das nicht auch ohne den Verein
hätte beseitigt werden können und ohne diesen beseitigt worden wäre.

Ein beliebtes Thema des Vereins bilden die Anklagen gegen die Staats¬
anwaltschaft und eine Beseitigung des angeblich derselben zustehenden Anklage¬
monopols. Bei den Tiraden dieser Art wird auf das freie England exempli-
fizirt, wo jedermann aus dem Volke wegen irgend einer strafbaren Handlung
die Anklage erheben könne. Diese bloße Anführung genügt natürlich, um zu
beweisen, wie weit wir im Reich in freiheitlicher Entwicklung zurück geblieben
sind. Verschwiegen wird freilich -- sei es aus Unwissenheit oder mit böser
Absicht -- daß bereits das alte Rom sich des Vorzugs einer solchen Popularklage
erfreute und daß die Rechtssicherheit gerade bei demjenigen Volke am meisten
zu wünschen übrig ließ, dessen Recht für die europäische Welt zum mustergiltigen
geworden ist. Verschwiegen wird -- aus gleichen Ursachen --, daß man in
England eine Staatsanwaltschaft einführen mußte, weil sonst viele Übelthaten
ungesühnt blieben, und daß man jetzt in immer weitern Kreisen einsieht, daß die
Popularklage ein sehr zweischneidiges Schwert ist und daß die durch Bedrohung
mit derselben begangnen Erpressungen ihre sonstigen Vorteile in tiefen Schatten
stellen. Wir haben erst neulich in Berlin das Schauspiel gehabt, wie eine
Preßpiratenbande durch die bloße Drohung mit Veröffentlichungen jahrelang
durch Erpressungen selbst ganz besonnene Leute einzuschüchtern und zu schröpfen
verstand. Um wie viel leichter würden sich Leute finden, die aus Bedrohung
mit öffentlichen Strafklagen ein Geschäft machen! Gegen solche saubere Hand¬
werke erweisen sich auch Strasvorschriften unwirksam.

Es wird der Staatsanwaltschaft vorgeworfen, daß sie mit zweierlei Maß
messe, aber man übersieht, daß mit Ausnahme der Beleidigungen und gering¬
fügigen Körperverletzungen die Staatsanwaltschaft durch das Oberlandesgericht
auf Antrag des Verletzten zur Anklage gezwungen werden kann. Warum schlägt
man diesen Weg nicht ein, wenn die Staatsanwaltschaft auf eine Anzeige ihr
Einschreiten ablehnt? Entweder weil man einsieht, daß die Anzeige eine unbe¬
gründete ist, oder weil man es vorzieht, durch Beispiele der gedachten Art dieses
Organ zu diskreditiren. Wie oft wurde es der Staatsanwaltschaft verübelt,
daß sie nicht in der Antisemitenbewegung eingeschritten ist, ein Vorwurf, der
halbwegs berechtigt gewesen wäre, wenn eine Beschwerde bei dem Oberlandes¬
gericht Erfolg gehabt hätte. Oder man muß weiter behaupten, daß auch die
Unparteilichkeit der Gerichte zerstört sei. Wo aber die Staatsanwaltschaft zu
einem amtlichen Vorgehen nicht verpflichtet ist, steht die Privatklage offen.
Nirgends also zeigt sich hier eine Lücke."

Abgesehen von diesen Fällen kann die "gestörte Rechtssicherheit nur auf
Kosten der Gerichte behauptet werden. Daß die Gerichte auch nicht unfehlbar
sind, wird niemand in Abrede stellen, ebensowenig, daß die Wirkung eines


Grenzboten III. 1833. 23
Rechtsschutz und Rechtssicherheit im Reiche.

allein in keinem derselben war ein Vorwurf gegen die Organe der Strafrechts¬
pflege zu erheben oder ein Versehen zu rügen, das nicht auch ohne den Verein
hätte beseitigt werden können und ohne diesen beseitigt worden wäre.

Ein beliebtes Thema des Vereins bilden die Anklagen gegen die Staats¬
anwaltschaft und eine Beseitigung des angeblich derselben zustehenden Anklage¬
monopols. Bei den Tiraden dieser Art wird auf das freie England exempli-
fizirt, wo jedermann aus dem Volke wegen irgend einer strafbaren Handlung
die Anklage erheben könne. Diese bloße Anführung genügt natürlich, um zu
beweisen, wie weit wir im Reich in freiheitlicher Entwicklung zurück geblieben
sind. Verschwiegen wird freilich — sei es aus Unwissenheit oder mit böser
Absicht — daß bereits das alte Rom sich des Vorzugs einer solchen Popularklage
erfreute und daß die Rechtssicherheit gerade bei demjenigen Volke am meisten
zu wünschen übrig ließ, dessen Recht für die europäische Welt zum mustergiltigen
geworden ist. Verschwiegen wird — aus gleichen Ursachen —, daß man in
England eine Staatsanwaltschaft einführen mußte, weil sonst viele Übelthaten
ungesühnt blieben, und daß man jetzt in immer weitern Kreisen einsieht, daß die
Popularklage ein sehr zweischneidiges Schwert ist und daß die durch Bedrohung
mit derselben begangnen Erpressungen ihre sonstigen Vorteile in tiefen Schatten
stellen. Wir haben erst neulich in Berlin das Schauspiel gehabt, wie eine
Preßpiratenbande durch die bloße Drohung mit Veröffentlichungen jahrelang
durch Erpressungen selbst ganz besonnene Leute einzuschüchtern und zu schröpfen
verstand. Um wie viel leichter würden sich Leute finden, die aus Bedrohung
mit öffentlichen Strafklagen ein Geschäft machen! Gegen solche saubere Hand¬
werke erweisen sich auch Strasvorschriften unwirksam.

Es wird der Staatsanwaltschaft vorgeworfen, daß sie mit zweierlei Maß
messe, aber man übersieht, daß mit Ausnahme der Beleidigungen und gering¬
fügigen Körperverletzungen die Staatsanwaltschaft durch das Oberlandesgericht
auf Antrag des Verletzten zur Anklage gezwungen werden kann. Warum schlägt
man diesen Weg nicht ein, wenn die Staatsanwaltschaft auf eine Anzeige ihr
Einschreiten ablehnt? Entweder weil man einsieht, daß die Anzeige eine unbe¬
gründete ist, oder weil man es vorzieht, durch Beispiele der gedachten Art dieses
Organ zu diskreditiren. Wie oft wurde es der Staatsanwaltschaft verübelt,
daß sie nicht in der Antisemitenbewegung eingeschritten ist, ein Vorwurf, der
halbwegs berechtigt gewesen wäre, wenn eine Beschwerde bei dem Oberlandes¬
gericht Erfolg gehabt hätte. Oder man muß weiter behaupten, daß auch die
Unparteilichkeit der Gerichte zerstört sei. Wo aber die Staatsanwaltschaft zu
einem amtlichen Vorgehen nicht verpflichtet ist, steht die Privatklage offen.
Nirgends also zeigt sich hier eine Lücke."

Abgesehen von diesen Fällen kann die „gestörte Rechtssicherheit nur auf
Kosten der Gerichte behauptet werden. Daß die Gerichte auch nicht unfehlbar
sind, wird niemand in Abrede stellen, ebensowenig, daß die Wirkung eines


Grenzboten III. 1833. 23
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[0185] Rechtsschutz und Rechtssicherheit im Reiche. allein in keinem derselben war ein Vorwurf gegen die Organe der Strafrechts¬ pflege zu erheben oder ein Versehen zu rügen, das nicht auch ohne den Verein hätte beseitigt werden können und ohne diesen beseitigt worden wäre. Ein beliebtes Thema des Vereins bilden die Anklagen gegen die Staats¬ anwaltschaft und eine Beseitigung des angeblich derselben zustehenden Anklage¬ monopols. Bei den Tiraden dieser Art wird auf das freie England exempli- fizirt, wo jedermann aus dem Volke wegen irgend einer strafbaren Handlung die Anklage erheben könne. Diese bloße Anführung genügt natürlich, um zu beweisen, wie weit wir im Reich in freiheitlicher Entwicklung zurück geblieben sind. Verschwiegen wird freilich — sei es aus Unwissenheit oder mit böser Absicht — daß bereits das alte Rom sich des Vorzugs einer solchen Popularklage erfreute und daß die Rechtssicherheit gerade bei demjenigen Volke am meisten zu wünschen übrig ließ, dessen Recht für die europäische Welt zum mustergiltigen geworden ist. Verschwiegen wird — aus gleichen Ursachen —, daß man in England eine Staatsanwaltschaft einführen mußte, weil sonst viele Übelthaten ungesühnt blieben, und daß man jetzt in immer weitern Kreisen einsieht, daß die Popularklage ein sehr zweischneidiges Schwert ist und daß die durch Bedrohung mit derselben begangnen Erpressungen ihre sonstigen Vorteile in tiefen Schatten stellen. Wir haben erst neulich in Berlin das Schauspiel gehabt, wie eine Preßpiratenbande durch die bloße Drohung mit Veröffentlichungen jahrelang durch Erpressungen selbst ganz besonnene Leute einzuschüchtern und zu schröpfen verstand. Um wie viel leichter würden sich Leute finden, die aus Bedrohung mit öffentlichen Strafklagen ein Geschäft machen! Gegen solche saubere Hand¬ werke erweisen sich auch Strasvorschriften unwirksam. Es wird der Staatsanwaltschaft vorgeworfen, daß sie mit zweierlei Maß messe, aber man übersieht, daß mit Ausnahme der Beleidigungen und gering¬ fügigen Körperverletzungen die Staatsanwaltschaft durch das Oberlandesgericht auf Antrag des Verletzten zur Anklage gezwungen werden kann. Warum schlägt man diesen Weg nicht ein, wenn die Staatsanwaltschaft auf eine Anzeige ihr Einschreiten ablehnt? Entweder weil man einsieht, daß die Anzeige eine unbe¬ gründete ist, oder weil man es vorzieht, durch Beispiele der gedachten Art dieses Organ zu diskreditiren. Wie oft wurde es der Staatsanwaltschaft verübelt, daß sie nicht in der Antisemitenbewegung eingeschritten ist, ein Vorwurf, der halbwegs berechtigt gewesen wäre, wenn eine Beschwerde bei dem Oberlandes¬ gericht Erfolg gehabt hätte. Oder man muß weiter behaupten, daß auch die Unparteilichkeit der Gerichte zerstört sei. Wo aber die Staatsanwaltschaft zu einem amtlichen Vorgehen nicht verpflichtet ist, steht die Privatklage offen. Nirgends also zeigt sich hier eine Lücke." Abgesehen von diesen Fällen kann die „gestörte Rechtssicherheit nur auf Kosten der Gerichte behauptet werden. Daß die Gerichte auch nicht unfehlbar sind, wird niemand in Abrede stellen, ebensowenig, daß die Wirkung eines Grenzboten III. 1833. 23

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_153446/185>, abgerufen am 08.09.2024.