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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal.

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Rußland und der alleinseligmachende Äonstitutionalismus.

wandelten sich im Verlauf einiger Monate in Liberale, Man Hütte auf die
Entdeckung eines Mannes, der die zur Beleidigung gewordene Bezeichnung als
Konservativer auf sich genommen hätte, einen Preis setzen können. Sogar die
Geistlichkeit und die Gendarmerie bemühten sich, nicht zurückzubleiben und thun-
lichst freisinnig zu erscheinen. Wenn nun heute ein russisches Parlament auf¬
gethan würde, so würden wir unzweifelhaft eine zweite Auflage hiervon er¬
leben. Alles würde sich dann ans die Opposition legen, und die Parteischattirnuge"
würden sich etwa so stellen: Linke, äußerste Linke, alleräußerste Linke, Erzlinke,
Radikale, Ultraradikale n. s. w. . . . Niemand würde aus die Seite der Regierung
treten wollen. Mit andern Worten: jede auf dem Repräsentativsystem be¬
ruhende Regierungsform muß in Nußland nach kurzer Zeit dem Radikalismus
vom reinsten Wasser verfallen, wie ihn Most und Louise Michel träumen. . . .
In fünf bis zehn Jahren werden die Reden und Handlungen der russische"
Parlamentarier alles in Schatten stellen, was die Pariser Anarchisten und
Kommunarden je gesprochen und gethan haben. Wir Russen verstehen das nicht
anders und lieben es nicht anders, wir kennen in diesen Sachen kein Gefühl
und kein Maß. ... Der Russe ist sanft, gelehrig, folgsam, aber er gerät aus.
dem Gleichgewichte, wenn er das Wort ergriffen hat. Nichts berauscht ihn
so sehr als lärmende Versammlungen, in welchen er seinen Gedanken und Em¬
pfindungen freien Lauf lassen kann."

Die Einführung des Parlamentarismus im gegenwärtigen Rußland würde
somit ein schweres Unglück sein, und zwar nicht bloß für unsre östliche" Nach¬
barn selbst, sondern für ganz Europa. Das Zarentum hat im Moskowiterlnnde
seine Laufbahn noch nicht vollendet, seine Mission noch nicht erfüllt. Es gibt
noch viele große Fragen zu lösen, ehe ein Gossudar auf seine unbeschränkte
Gewalt zu Gunsten von Volksvertretern verzichten kann. Möglich, daß ein
solcher einst unter dem Beistände eines großen Staatsmannes den Wünschen
eines Teiles seines Volkes, den man sich dann aber viel größer denken muß
als heutzutage, in dieser Richtung entspricht. Aber sicher ist, daß die Neuerung
dann nicht in einem Abklatsch der englischen, deutschen oder französischen Verfassung
noch in einer solchen bestehen wird, wie sie die revolutionäre Partei in Rußland
fordert. Die Bedeutung der letztern ist übrigens offenbar in raschen. Abnehmen
begriffen, und ihre Rolle wird bald ausgespielt sein. Mit der Entwicklung
ihrer Talente und Ideen ist sie bereits am Ende angelangt, und als echte Russen,
flüchtige, unstäte Naturen fühlen sie sich bereits gelangweilt, zugleich aber hat
sie die Erfolglosigkeit ihres Treibens müde gemacht und enttäuscht. Der von
ihnen eingeleitete Kampf wird eine andre Wendung nehmen als die, welche sie
beabsichtigten. Ist er doch nur scheinbar gegen den Absolutismus und seine Mängel
gerichtet, in Wirklichkeit aber ein Kampf des Armen gegen den Reichen. Die
Berfassuugsfrage ist in Rußland vorwiegend eine soziale Frage, wenigstens mit
der großen sozialen Frage, die mich den Weste" bewegt, untrennbar verwachse".


Rußland und der alleinseligmachende Äonstitutionalismus.

wandelten sich im Verlauf einiger Monate in Liberale, Man Hütte auf die
Entdeckung eines Mannes, der die zur Beleidigung gewordene Bezeichnung als
Konservativer auf sich genommen hätte, einen Preis setzen können. Sogar die
Geistlichkeit und die Gendarmerie bemühten sich, nicht zurückzubleiben und thun-
lichst freisinnig zu erscheinen. Wenn nun heute ein russisches Parlament auf¬
gethan würde, so würden wir unzweifelhaft eine zweite Auflage hiervon er¬
leben. Alles würde sich dann ans die Opposition legen, und die Parteischattirnuge»
würden sich etwa so stellen: Linke, äußerste Linke, alleräußerste Linke, Erzlinke,
Radikale, Ultraradikale n. s. w. . . . Niemand würde aus die Seite der Regierung
treten wollen. Mit andern Worten: jede auf dem Repräsentativsystem be¬
ruhende Regierungsform muß in Nußland nach kurzer Zeit dem Radikalismus
vom reinsten Wasser verfallen, wie ihn Most und Louise Michel träumen. . . .
In fünf bis zehn Jahren werden die Reden und Handlungen der russische»
Parlamentarier alles in Schatten stellen, was die Pariser Anarchisten und
Kommunarden je gesprochen und gethan haben. Wir Russen verstehen das nicht
anders und lieben es nicht anders, wir kennen in diesen Sachen kein Gefühl
und kein Maß. ... Der Russe ist sanft, gelehrig, folgsam, aber er gerät aus.
dem Gleichgewichte, wenn er das Wort ergriffen hat. Nichts berauscht ihn
so sehr als lärmende Versammlungen, in welchen er seinen Gedanken und Em¬
pfindungen freien Lauf lassen kann."

Die Einführung des Parlamentarismus im gegenwärtigen Rußland würde
somit ein schweres Unglück sein, und zwar nicht bloß für unsre östliche» Nach¬
barn selbst, sondern für ganz Europa. Das Zarentum hat im Moskowiterlnnde
seine Laufbahn noch nicht vollendet, seine Mission noch nicht erfüllt. Es gibt
noch viele große Fragen zu lösen, ehe ein Gossudar auf seine unbeschränkte
Gewalt zu Gunsten von Volksvertretern verzichten kann. Möglich, daß ein
solcher einst unter dem Beistände eines großen Staatsmannes den Wünschen
eines Teiles seines Volkes, den man sich dann aber viel größer denken muß
als heutzutage, in dieser Richtung entspricht. Aber sicher ist, daß die Neuerung
dann nicht in einem Abklatsch der englischen, deutschen oder französischen Verfassung
noch in einer solchen bestehen wird, wie sie die revolutionäre Partei in Rußland
fordert. Die Bedeutung der letztern ist übrigens offenbar in raschen. Abnehmen
begriffen, und ihre Rolle wird bald ausgespielt sein. Mit der Entwicklung
ihrer Talente und Ideen ist sie bereits am Ende angelangt, und als echte Russen,
flüchtige, unstäte Naturen fühlen sie sich bereits gelangweilt, zugleich aber hat
sie die Erfolglosigkeit ihres Treibens müde gemacht und enttäuscht. Der von
ihnen eingeleitete Kampf wird eine andre Wendung nehmen als die, welche sie
beabsichtigten. Ist er doch nur scheinbar gegen den Absolutismus und seine Mängel
gerichtet, in Wirklichkeit aber ein Kampf des Armen gegen den Reichen. Die
Berfassuugsfrage ist in Rußland vorwiegend eine soziale Frage, wenigstens mit
der großen sozialen Frage, die mich den Weste» bewegt, untrennbar verwachse».


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_153446/16>, abgerufen am 08.09.2024.