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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal.

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Rußland und der alleinseligmachende Konstitutionalismus.

So denkt, so empfindet das Volk, der Bauer, der Bürger, der Soldat und
der Geistliche. Die höheren Sphären der Gesellschaft aber setzen sich im wesent¬
lichen aus denselben Elementen zusammen wie die niedern, und die europäische
Denkart in politischen Dingen ist ihnen mit seltnen Ausnahmen nichts natürlich
erwachsenes, sondern ein cmgeflognes, das nicht festwurzelt und sich darum leicht
verflüchtigt. Der Nihilismus ist kein russisches Gewächs, und wenn vornehme
Russen für parlamentarische Einrichtungen schwärmen, so ist das nicht Über¬
zeugung, sondern importirte Mode. Dahin gehört auch die Rede des Moskaner
Stadthanptes, Männer wie Pobedonosccw und Tolstoi vertreten den ächten
russischen Geist.

Was aber die intelligenten Schichten der russischen Bevölkerung angeht,
so ist die Zahl der zu ihnen gehörigen, die eine Beschränkung der russischen
Monarchen durch parlamentarische Einrichtungen wünschen und erstreben, eine
sehr mäßige. Solche Wünsche werden zunächst von denen gehegt und ausge¬
sprochen, welche wie die Nihilisten nicht sowohl eine liberale Verfassung als
vielmehr anarchische Zustände erstreben, zu denen diese Verfassung hinüberleiten
soll. Andre, die nach einer Konstitution rufen, meinen es zwar ehrlicher mit
ihrem Verlangen, aber den Grund ihres Strebens bildet, wenn wir ein paar
Dutzend Idealisten aufnehmen, keineswegs die Überzeugung von der Nützlich¬
keit parlamentarischer Einrichtungen für das Allgemeine, sondern ihr Ehrgeiz:
es würde ihrer Eitelkeit wohlthun, sich in einem russischen Parlamente an ihre"
eignen großen Reden berauschen zu können, sich mit denselben in den Zeitungen
zu finden, kurz, eine Rolle zu spielen -- was ja auch von gewissen "Mannesseelen"
im deutschen Reichstage und im preußischen Abgeordnetenhaus"^ gilt, die eben¬
falls mehr zum Fenster hinaus, zum Zeitungspnblitnm, als zur Sache reden
und mit ihrer häufigen Betonung der Würde des Hauses und der einzelnen
Reichs- oder Landboten mehr oder minder zur komischen Figur geworden sind.
Der Petersburger hat ohne Zweifel Recht, wenn er meint, die Idee der Ein-
führung des alleinseligmachenden Konstitutionalismus in Rußland zählte hier
"höchstens einige tausend Anhänger, eine verschwindend kleine Zahl in dem
großen Reiche." Nur der Umstand, daß die Herren sehr laut und rührig sind
und entweder selbst oder dnrch ihre Preßjüdchen in fremden Zeitungen das
Wort führen, kann darüber täuschen.

Erinnern wir uns ferner an den Gang der Dinge in den Zemstwos
Alexanders des Zweiten. Gesetzt den Fall, daß unter dem Drucke der öffent¬
lichen Meinung jenseits der russischen Grenzen und im Einklang mit den Wünschen
einiger tausend Streber, Idealisten lind Doktrinäre im Reiche selbst das konstitu¬
tionelle Regime dem russischen Staate aufgepfropft würde, hätte es Aussicht
zu gedeihen? Zunächst mangelt es dem Russen, wie schon oben gezeigt, in
Angelegenheiten, die über das Gewöhnliche Hinansliegen, an Ausdauer und
Stetigkeit. Sodann aber würden sich für das parlamentarische Leben nicht


Rußland und der alleinseligmachende Konstitutionalismus.

So denkt, so empfindet das Volk, der Bauer, der Bürger, der Soldat und
der Geistliche. Die höheren Sphären der Gesellschaft aber setzen sich im wesent¬
lichen aus denselben Elementen zusammen wie die niedern, und die europäische
Denkart in politischen Dingen ist ihnen mit seltnen Ausnahmen nichts natürlich
erwachsenes, sondern ein cmgeflognes, das nicht festwurzelt und sich darum leicht
verflüchtigt. Der Nihilismus ist kein russisches Gewächs, und wenn vornehme
Russen für parlamentarische Einrichtungen schwärmen, so ist das nicht Über¬
zeugung, sondern importirte Mode. Dahin gehört auch die Rede des Moskaner
Stadthanptes, Männer wie Pobedonosccw und Tolstoi vertreten den ächten
russischen Geist.

Was aber die intelligenten Schichten der russischen Bevölkerung angeht,
so ist die Zahl der zu ihnen gehörigen, die eine Beschränkung der russischen
Monarchen durch parlamentarische Einrichtungen wünschen und erstreben, eine
sehr mäßige. Solche Wünsche werden zunächst von denen gehegt und ausge¬
sprochen, welche wie die Nihilisten nicht sowohl eine liberale Verfassung als
vielmehr anarchische Zustände erstreben, zu denen diese Verfassung hinüberleiten
soll. Andre, die nach einer Konstitution rufen, meinen es zwar ehrlicher mit
ihrem Verlangen, aber den Grund ihres Strebens bildet, wenn wir ein paar
Dutzend Idealisten aufnehmen, keineswegs die Überzeugung von der Nützlich¬
keit parlamentarischer Einrichtungen für das Allgemeine, sondern ihr Ehrgeiz:
es würde ihrer Eitelkeit wohlthun, sich in einem russischen Parlamente an ihre»
eignen großen Reden berauschen zu können, sich mit denselben in den Zeitungen
zu finden, kurz, eine Rolle zu spielen — was ja auch von gewissen „Mannesseelen"
im deutschen Reichstage und im preußischen Abgeordnetenhaus«^ gilt, die eben¬
falls mehr zum Fenster hinaus, zum Zeitungspnblitnm, als zur Sache reden
und mit ihrer häufigen Betonung der Würde des Hauses und der einzelnen
Reichs- oder Landboten mehr oder minder zur komischen Figur geworden sind.
Der Petersburger hat ohne Zweifel Recht, wenn er meint, die Idee der Ein-
führung des alleinseligmachenden Konstitutionalismus in Rußland zählte hier
„höchstens einige tausend Anhänger, eine verschwindend kleine Zahl in dem
großen Reiche." Nur der Umstand, daß die Herren sehr laut und rührig sind
und entweder selbst oder dnrch ihre Preßjüdchen in fremden Zeitungen das
Wort führen, kann darüber täuschen.

Erinnern wir uns ferner an den Gang der Dinge in den Zemstwos
Alexanders des Zweiten. Gesetzt den Fall, daß unter dem Drucke der öffent¬
lichen Meinung jenseits der russischen Grenzen und im Einklang mit den Wünschen
einiger tausend Streber, Idealisten lind Doktrinäre im Reiche selbst das konstitu¬
tionelle Regime dem russischen Staate aufgepfropft würde, hätte es Aussicht
zu gedeihen? Zunächst mangelt es dem Russen, wie schon oben gezeigt, in
Angelegenheiten, die über das Gewöhnliche Hinansliegen, an Ausdauer und
Stetigkeit. Sodann aber würden sich für das parlamentarische Leben nicht


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[0014] Rußland und der alleinseligmachende Konstitutionalismus. So denkt, so empfindet das Volk, der Bauer, der Bürger, der Soldat und der Geistliche. Die höheren Sphären der Gesellschaft aber setzen sich im wesent¬ lichen aus denselben Elementen zusammen wie die niedern, und die europäische Denkart in politischen Dingen ist ihnen mit seltnen Ausnahmen nichts natürlich erwachsenes, sondern ein cmgeflognes, das nicht festwurzelt und sich darum leicht verflüchtigt. Der Nihilismus ist kein russisches Gewächs, und wenn vornehme Russen für parlamentarische Einrichtungen schwärmen, so ist das nicht Über¬ zeugung, sondern importirte Mode. Dahin gehört auch die Rede des Moskaner Stadthanptes, Männer wie Pobedonosccw und Tolstoi vertreten den ächten russischen Geist. Was aber die intelligenten Schichten der russischen Bevölkerung angeht, so ist die Zahl der zu ihnen gehörigen, die eine Beschränkung der russischen Monarchen durch parlamentarische Einrichtungen wünschen und erstreben, eine sehr mäßige. Solche Wünsche werden zunächst von denen gehegt und ausge¬ sprochen, welche wie die Nihilisten nicht sowohl eine liberale Verfassung als vielmehr anarchische Zustände erstreben, zu denen diese Verfassung hinüberleiten soll. Andre, die nach einer Konstitution rufen, meinen es zwar ehrlicher mit ihrem Verlangen, aber den Grund ihres Strebens bildet, wenn wir ein paar Dutzend Idealisten aufnehmen, keineswegs die Überzeugung von der Nützlich¬ keit parlamentarischer Einrichtungen für das Allgemeine, sondern ihr Ehrgeiz: es würde ihrer Eitelkeit wohlthun, sich in einem russischen Parlamente an ihre» eignen großen Reden berauschen zu können, sich mit denselben in den Zeitungen zu finden, kurz, eine Rolle zu spielen — was ja auch von gewissen „Mannesseelen" im deutschen Reichstage und im preußischen Abgeordnetenhaus«^ gilt, die eben¬ falls mehr zum Fenster hinaus, zum Zeitungspnblitnm, als zur Sache reden und mit ihrer häufigen Betonung der Würde des Hauses und der einzelnen Reichs- oder Landboten mehr oder minder zur komischen Figur geworden sind. Der Petersburger hat ohne Zweifel Recht, wenn er meint, die Idee der Ein- führung des alleinseligmachenden Konstitutionalismus in Rußland zählte hier „höchstens einige tausend Anhänger, eine verschwindend kleine Zahl in dem großen Reiche." Nur der Umstand, daß die Herren sehr laut und rührig sind und entweder selbst oder dnrch ihre Preßjüdchen in fremden Zeitungen das Wort führen, kann darüber täuschen. Erinnern wir uns ferner an den Gang der Dinge in den Zemstwos Alexanders des Zweiten. Gesetzt den Fall, daß unter dem Drucke der öffent¬ lichen Meinung jenseits der russischen Grenzen und im Einklang mit den Wünschen einiger tausend Streber, Idealisten lind Doktrinäre im Reiche selbst das konstitu¬ tionelle Regime dem russischen Staate aufgepfropft würde, hätte es Aussicht zu gedeihen? Zunächst mangelt es dem Russen, wie schon oben gezeigt, in Angelegenheiten, die über das Gewöhnliche Hinansliegen, an Ausdauer und Stetigkeit. Sodann aber würden sich für das parlamentarische Leben nicht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_153446/14>, abgerufen am 08.09.2024.