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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal.

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Rußland und der ulleinseligmachendc Aonsrituticmalismus.

dem Andenken daran eine moralische Kraft, die ihn auf eine Zeit lang gegen
das Elend seiner eignen Gebrechlichkeit schützt.

Über allen Herren aber steht der Gossndar, der Kaiser, der höchste Aus¬
druck freier Wnndermcicht, Er verwandelt das Unrecht in Recht und das Recht
in Unrecht, das Sinnlose in Vernunft und umgekehrt. Er hebt aus dem tiefsten
Sturz empor und stürzt aus der Höhe in das Nichts zurück. Aller Besitz,
jeder Genuß, ja Leben und Atem sind el" Geschenk von ihm oder von ihm
zugelassen. An die Stelle dieser höchsten Willkür eine unpersönliche Staats¬
ordnung setzen oder sie durch unverbrüchliche Regeln binden wollen, wäre ein
Greuel, unfaßbar für den Verstand, unerträglich für das Herz. Ihrem Wesen
nach muß die Majestät unsichtbar sein, sonst wurde sie in die gemeine Realität
der Dinge verflochten werden. Darum verbirgt sie sich im Allerheiligsten, ein
siebenfacher Ring umgiebt sie, und nur durch eine Reihe Vorhöfe gelangen die
Berufenen zu ihr. Wer sie zufällig erblickt, fällt mit der Stirn anf die Erde.
So war es von jeher in Asien und so auch unter den Zaren von Moskowieu.
In dem halbeuropäischen Petersburg, wo der Kaiser oft zu sehen ist, hat die
Gewohnheit dieses Gefühl vielfach abgestumpf!, aber es lebt noch in alter Kraft
in Moskau und in der Provinz. Je entfernter die letztere, umso glühender,
oft bis zum Wahnsinn, die Äußerungen der Furcht und Liebe. Es ist auf
kaiserlichen Reisen vorgekommen, daß das Volk sich tagelang vorher aus meilen-
weiter Runde um die Posthaltcrcien versammelte und Frost und Hitze oder den
Schnee und den Regen nicht scheute, "ur um den Zaren ans der Ferne auf-
und einsteigen -'der vorbeifliegen zu sehe", die Räder seines Wagens zu be¬
rühren, von dem Staube, den diese erregten, ein Atom zu empfangen. Und in
nicht viel geringerem Maße als dem Kaiser selbst wird auch jedem Gliede seiner
Familie, den Großfürsten und Großfürstinnen, von dem Volke religiöse Ehr¬
furcht gezollr. Eine Rebellion der russischen Nation gegen ihren Zaren scheint
daher so unmöglich als etwa eine Ausnahme von dem Gesetze der Schwere.
Wenn nihilistische Prahler das Gegenteil versichern, so vermuten wir, daß sie
selbst nicht daran glauben. Der Despotismus ist in diesem Lande nicht ein
vou außen auferlegtes Joch, sondern jedem Gemüte tief eingepflanzt, diejenige
Lebensform, in der allein es sich befriedigt fühlt und den Lauf der Welt be¬
greift. Die Palastrevolutionen, von denen die russische Geschichte des achtzehnten
Jahrhunderts berichtet, waren Verschwörungen einzelner Glieder des zarischen
Hauses gegeneinander, und die Gehilfe" bildeten Ausländer, Gesandte, Aben¬
teurer. Wo das Volk selbst aufgestanden ist, wie z. B. bei der Empörung des
Pugatschew, da glaubte es für den echten und wiedergekehrten Gvssudar (Peter
den Dritten) sich erhoben zu haben, und die beabsichtigte Militürrevolution
von 1825 ließ sich nnr insoweit in Szene setzen, als den Soldaten von den
Führern vorgespiegelt war, sie müßten dem rechtmäßigen Kaiser (Konstantin)
gegen den Usurpator (Nikolaus) zu Hilfe kommen."


Rußland und der ulleinseligmachendc Aonsrituticmalismus.

dem Andenken daran eine moralische Kraft, die ihn auf eine Zeit lang gegen
das Elend seiner eignen Gebrechlichkeit schützt.

Über allen Herren aber steht der Gossndar, der Kaiser, der höchste Aus¬
druck freier Wnndermcicht, Er verwandelt das Unrecht in Recht und das Recht
in Unrecht, das Sinnlose in Vernunft und umgekehrt. Er hebt aus dem tiefsten
Sturz empor und stürzt aus der Höhe in das Nichts zurück. Aller Besitz,
jeder Genuß, ja Leben und Atem sind el» Geschenk von ihm oder von ihm
zugelassen. An die Stelle dieser höchsten Willkür eine unpersönliche Staats¬
ordnung setzen oder sie durch unverbrüchliche Regeln binden wollen, wäre ein
Greuel, unfaßbar für den Verstand, unerträglich für das Herz. Ihrem Wesen
nach muß die Majestät unsichtbar sein, sonst wurde sie in die gemeine Realität
der Dinge verflochten werden. Darum verbirgt sie sich im Allerheiligsten, ein
siebenfacher Ring umgiebt sie, und nur durch eine Reihe Vorhöfe gelangen die
Berufenen zu ihr. Wer sie zufällig erblickt, fällt mit der Stirn anf die Erde.
So war es von jeher in Asien und so auch unter den Zaren von Moskowieu.
In dem halbeuropäischen Petersburg, wo der Kaiser oft zu sehen ist, hat die
Gewohnheit dieses Gefühl vielfach abgestumpf!, aber es lebt noch in alter Kraft
in Moskau und in der Provinz. Je entfernter die letztere, umso glühender,
oft bis zum Wahnsinn, die Äußerungen der Furcht und Liebe. Es ist auf
kaiserlichen Reisen vorgekommen, daß das Volk sich tagelang vorher aus meilen-
weiter Runde um die Posthaltcrcien versammelte und Frost und Hitze oder den
Schnee und den Regen nicht scheute, »ur um den Zaren ans der Ferne auf-
und einsteigen -'der vorbeifliegen zu sehe», die Räder seines Wagens zu be¬
rühren, von dem Staube, den diese erregten, ein Atom zu empfangen. Und in
nicht viel geringerem Maße als dem Kaiser selbst wird auch jedem Gliede seiner
Familie, den Großfürsten und Großfürstinnen, von dem Volke religiöse Ehr¬
furcht gezollr. Eine Rebellion der russischen Nation gegen ihren Zaren scheint
daher so unmöglich als etwa eine Ausnahme von dem Gesetze der Schwere.
Wenn nihilistische Prahler das Gegenteil versichern, so vermuten wir, daß sie
selbst nicht daran glauben. Der Despotismus ist in diesem Lande nicht ein
vou außen auferlegtes Joch, sondern jedem Gemüte tief eingepflanzt, diejenige
Lebensform, in der allein es sich befriedigt fühlt und den Lauf der Welt be¬
greift. Die Palastrevolutionen, von denen die russische Geschichte des achtzehnten
Jahrhunderts berichtet, waren Verschwörungen einzelner Glieder des zarischen
Hauses gegeneinander, und die Gehilfe» bildeten Ausländer, Gesandte, Aben¬
teurer. Wo das Volk selbst aufgestanden ist, wie z. B. bei der Empörung des
Pugatschew, da glaubte es für den echten und wiedergekehrten Gvssudar (Peter
den Dritten) sich erhoben zu haben, und die beabsichtigte Militürrevolution
von 1825 ließ sich nnr insoweit in Szene setzen, als den Soldaten von den
Führern vorgespiegelt war, sie müßten dem rechtmäßigen Kaiser (Konstantin)
gegen den Usurpator (Nikolaus) zu Hilfe kommen."


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_153446/13>, abgerufen am 08.09.2024.