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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal.

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England und die Ncidagaskarfrage.

misbrechen wird, und dann wird es ganz aus sein mit der englischen Macht
in Asien und ebenso mit der englischen Unterdrückung in Irland und in Ägypten.
In demselben Augenblick aber, wo diese drei Nationen von ihren Tyrannen
befreit sein werden, wird Frankreich von dein unausstehlichsten Nachbar erlöst
sein, den ihm je die Geographie vor die Thür setzte. Eine Insurrektion in
Indien -- darin liegt unsre Erlösung!"

Betrachten wir nach diesem ingrimmigen Artikel die Frage der französischen
Ansprüche ans Madagaskar mit der Ruhe und Gelassenheit des Unbeteiligten
oder nnr mittelbar einigermaßen Jnteressirten. Wir folgen dabei im wesentlichen
englischen Quelle", aber nnr so weit, als sie die Thatsachen mitteilen, nicht in
allen Schlüssen und Urteilen, die sie daraus ableiten. Wir wolle" eben nur
historisch verfahre". Die Leser mögen sich dann ihre Meinung selbst bilden.

Die französischen Ansprüche ans Madagaskar sind jetzt, wie wir sehen, in
aller Form geltend zu machen versucht worden. Sie gründen sich auf "ge¬
heime Verträge," die in den Jahren 1840 und 1841 mit eingebornen Häupt¬
linge" der Nordwestküste der Insel abgeschlossen worden sind. Diese Häupt¬
linge, vom Stamme der Sakalavas, befanden sich damals im Aufstande gegen
die Zentralregierung, wurden aber später vollständig unterworfen. Die Existenz
jener Verträge blieb lange Jahre aller Welt verborgen, und sie kamen zum
> erstenmal aus den Archiven ans Tageslicht, als im vorigen Jahre eine mala-
gassische Gesandtschaft i" Paris erschie", um mit der dortigen Regierung zu
unterhandeln, lind man derselben die Dokumente als Beweise für die franzö¬
sische Berechtigung vorlegte. Ein ähnlicher Fall würde es gewesen sein, wenn
die Ungarn 1848, während ihres Nevolutivuskriegs und der Herrschaft Kossuths,
ein Stück ihres Gebietes, sagen wir die dalmatinische Küste, an Italien, oder
wenn die Polen 1863 eine Strecke des Königreichs an Österreich abgetreten
hätten. Auch an den Fall kann man dabei denken, daß Kaiser Max von
Mexiko oder die Konföderativ" der Sklavenstaaten Nordamerikas den Franzosen
irgendwo einen Teil ihres Gebietes oder eine Insel überlassen hätten. Wären
die Abtretenden siegreich geblieben, hätten sie ihre Macht oder ihre Selbständig¬
keit behauptet, so würde der Anspruch des Empfängers der Abtretung natürlich
fortbestehen. Da jene Voraussetzung aber bald hinfällig wurde, so erlosch selbst¬
verständlich der Anspruch. Der Kaiser von Österreich, der Zar. die Republik
Mexiko und die Regierung in Washington unterwarfen ihre Gegner, die letztern
waren nichts mehr als besiegte Rebellen, die völkerrechtlich nicht befugt gewesen
waren, Verträge mit irgend jemand, am wenigsten mit einer ausländischen Macht,
abzuschließen und Teile des Reiches zu verkaufen oder zu verschenken.

Wesentlich dasselbe hat von Madagaskar zu gelten. Man könnte höchstens
sagen, daß es ein halbbarbarischer Staat sei, der nicht in die Gruppe der zi-
vilisirten Länder und Völker aufgenommen und deshalb rechtlos sei. Dagegen
aber scheint der Umstand zu sprechen, daß man französischerseits die erwähnten


England und die Ncidagaskarfrage.

misbrechen wird, und dann wird es ganz aus sein mit der englischen Macht
in Asien und ebenso mit der englischen Unterdrückung in Irland und in Ägypten.
In demselben Augenblick aber, wo diese drei Nationen von ihren Tyrannen
befreit sein werden, wird Frankreich von dein unausstehlichsten Nachbar erlöst
sein, den ihm je die Geographie vor die Thür setzte. Eine Insurrektion in
Indien — darin liegt unsre Erlösung!"

Betrachten wir nach diesem ingrimmigen Artikel die Frage der französischen
Ansprüche ans Madagaskar mit der Ruhe und Gelassenheit des Unbeteiligten
oder nnr mittelbar einigermaßen Jnteressirten. Wir folgen dabei im wesentlichen
englischen Quelle», aber nnr so weit, als sie die Thatsachen mitteilen, nicht in
allen Schlüssen und Urteilen, die sie daraus ableiten. Wir wolle» eben nur
historisch verfahre». Die Leser mögen sich dann ihre Meinung selbst bilden.

Die französischen Ansprüche ans Madagaskar sind jetzt, wie wir sehen, in
aller Form geltend zu machen versucht worden. Sie gründen sich auf „ge¬
heime Verträge," die in den Jahren 1840 und 1841 mit eingebornen Häupt¬
linge» der Nordwestküste der Insel abgeschlossen worden sind. Diese Häupt¬
linge, vom Stamme der Sakalavas, befanden sich damals im Aufstande gegen
die Zentralregierung, wurden aber später vollständig unterworfen. Die Existenz
jener Verträge blieb lange Jahre aller Welt verborgen, und sie kamen zum
> erstenmal aus den Archiven ans Tageslicht, als im vorigen Jahre eine mala-
gassische Gesandtschaft i» Paris erschie», um mit der dortigen Regierung zu
unterhandeln, lind man derselben die Dokumente als Beweise für die franzö¬
sische Berechtigung vorlegte. Ein ähnlicher Fall würde es gewesen sein, wenn
die Ungarn 1848, während ihres Nevolutivuskriegs und der Herrschaft Kossuths,
ein Stück ihres Gebietes, sagen wir die dalmatinische Küste, an Italien, oder
wenn die Polen 1863 eine Strecke des Königreichs an Österreich abgetreten
hätten. Auch an den Fall kann man dabei denken, daß Kaiser Max von
Mexiko oder die Konföderativ» der Sklavenstaaten Nordamerikas den Franzosen
irgendwo einen Teil ihres Gebietes oder eine Insel überlassen hätten. Wären
die Abtretenden siegreich geblieben, hätten sie ihre Macht oder ihre Selbständig¬
keit behauptet, so würde der Anspruch des Empfängers der Abtretung natürlich
fortbestehen. Da jene Voraussetzung aber bald hinfällig wurde, so erlosch selbst¬
verständlich der Anspruch. Der Kaiser von Österreich, der Zar. die Republik
Mexiko und die Regierung in Washington unterwarfen ihre Gegner, die letztern
waren nichts mehr als besiegte Rebellen, die völkerrechtlich nicht befugt gewesen
waren, Verträge mit irgend jemand, am wenigsten mit einer ausländischen Macht,
abzuschließen und Teile des Reiches zu verkaufen oder zu verschenken.

Wesentlich dasselbe hat von Madagaskar zu gelten. Man könnte höchstens
sagen, daß es ein halbbarbarischer Staat sei, der nicht in die Gruppe der zi-
vilisirten Länder und Völker aufgenommen und deshalb rechtlos sei. Dagegen
aber scheint der Umstand zu sprechen, daß man französischerseits die erwähnten


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_152756/67>, abgerufen am 01.10.2024.