Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Zur Auslegung Kants.

Hauptregel aber des richtigen Verstandesgebrauches liegt in dem Satze: Be¬
griffe ohne Anschauungen sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind, nur
aus beiden Quellen kann ein Erkenntnis fließen. Die Funktionen unsers Ver¬
standes zu Begriffen, die Kategorien, können nur dann Erkenntnisse und Wahr¬
heit ergeben, wenn sie auf Anschauungen angewandt werden. Darüber hinaus
erzeugen sie nur leere Begriffe, die mit Anschauungen verwechselt als Hirnge¬
spinste sich darstellen. Wenn z. B. die arithmetische Rechnung über die Grenze
der Raumanschauung hinaus weiter entwickelt wird, so kann man zu dem Be¬
griff einer vierten Dimension kommen, aber dieser muß immer völlig leer bleibe",
und wenn man ihn dennoch als einen Gegenstand möglicher Anschauung be¬
trachtet, so kann er zu den gefährlichsten Hirngespinnsten Anlaß geben, wie wir
es ja leider erlebt haben.

Ganz ebenso aber wie mit der vierten Dimension des Raumes verhält es
sich auch mit dem Ding an sich und dem sogenannten Innern der Natur, der
intelligibeln Ursache aller Erscheinung. Dasein, Ursache und Wirkung, Wirklich¬
keit, Möglichkeit, Notwendigkeit sind alles Stammbegriffe unsers Erkenntnisver¬
mögens, die nur dann richtig gebraucht werden, wenn sie auf Anschauungen
gerichtet sind. Darüber hinaus geben sie keine Erkenntnisse. Nun kann das
Ding an sich niemals in der Anschauung gegeben werden, also können wir
niemals mit Recht von seinem Dasein oder seiner Wirklichkeit, Möglichkeit oder
Notwendigkeit reden. Auch Ursachen giebt es nur in der Welt der Erscheinung,
auf jener Insel, auf der die Wahrheit möglich ist, nicht auf dem Meere des
täuschenden Scheins und der Hirngespinnste. Eine andre Wirklichkeit, als die auf
Anschauung beruht, sei es des äußern oder des innern Sinnes, giebt es für
die Wissenschaft nicht.

Wer diese Grundregeln nicht eingesehen hat, der kennt nicht die Bedeutung
der Kritik der reinen Vernunft. Gerade das Gegenteil von dem, was die bis¬
herige Auslegung uns überliefert hat, ist die Wahrheit. Kant hat uns so wenig
das Wissen in der Naturwissenschaft aufgehoben, daß er sogar das Gegenteil
davon, das Wissen von übersinnlichen Dingen, beseitigt hat als etwas, was im
Ozean des trügerischen Scheines gelegen sei. Nicht die Sinnenwelt hat er in
täuschenden Schein aufgelöst, sondern die Metaphysik. Daß man trotzdem von
dieser nicht abgelassen hat, daß man durch pseudophilosophische Truggebäude
die Natur hat meistern wollen und für die eignen Irrtümer Kant sogar immer
zitirt hat, daran ist er ganz unschuldig. Nach der bisherigen Auslegung unsrer
Schulweisheit hat der von ihm selbst gewählte Ausdruck der koperuikanischen
Umkehr unsers Standpunktes gegenüber der Natur so gut wie gar keine Be¬
deutung und ist ein leerer Schall geblieben. Der Mensch stand der Natur wie
einem doch zuletzt ewig unlösbaren Rätsel gerade so fremd gegenüber wie im
Altertum; nur die Erscheinung war uns zu erkennen erlaubt, aber was
sollte das nützen, wen" uns doch das eigentliche Wesen der Dinge verschlossen


Zur Auslegung Kants.

Hauptregel aber des richtigen Verstandesgebrauches liegt in dem Satze: Be¬
griffe ohne Anschauungen sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind, nur
aus beiden Quellen kann ein Erkenntnis fließen. Die Funktionen unsers Ver¬
standes zu Begriffen, die Kategorien, können nur dann Erkenntnisse und Wahr¬
heit ergeben, wenn sie auf Anschauungen angewandt werden. Darüber hinaus
erzeugen sie nur leere Begriffe, die mit Anschauungen verwechselt als Hirnge¬
spinste sich darstellen. Wenn z. B. die arithmetische Rechnung über die Grenze
der Raumanschauung hinaus weiter entwickelt wird, so kann man zu dem Be¬
griff einer vierten Dimension kommen, aber dieser muß immer völlig leer bleibe»,
und wenn man ihn dennoch als einen Gegenstand möglicher Anschauung be¬
trachtet, so kann er zu den gefährlichsten Hirngespinnsten Anlaß geben, wie wir
es ja leider erlebt haben.

Ganz ebenso aber wie mit der vierten Dimension des Raumes verhält es
sich auch mit dem Ding an sich und dem sogenannten Innern der Natur, der
intelligibeln Ursache aller Erscheinung. Dasein, Ursache und Wirkung, Wirklich¬
keit, Möglichkeit, Notwendigkeit sind alles Stammbegriffe unsers Erkenntnisver¬
mögens, die nur dann richtig gebraucht werden, wenn sie auf Anschauungen
gerichtet sind. Darüber hinaus geben sie keine Erkenntnisse. Nun kann das
Ding an sich niemals in der Anschauung gegeben werden, also können wir
niemals mit Recht von seinem Dasein oder seiner Wirklichkeit, Möglichkeit oder
Notwendigkeit reden. Auch Ursachen giebt es nur in der Welt der Erscheinung,
auf jener Insel, auf der die Wahrheit möglich ist, nicht auf dem Meere des
täuschenden Scheins und der Hirngespinnste. Eine andre Wirklichkeit, als die auf
Anschauung beruht, sei es des äußern oder des innern Sinnes, giebt es für
die Wissenschaft nicht.

Wer diese Grundregeln nicht eingesehen hat, der kennt nicht die Bedeutung
der Kritik der reinen Vernunft. Gerade das Gegenteil von dem, was die bis¬
herige Auslegung uns überliefert hat, ist die Wahrheit. Kant hat uns so wenig
das Wissen in der Naturwissenschaft aufgehoben, daß er sogar das Gegenteil
davon, das Wissen von übersinnlichen Dingen, beseitigt hat als etwas, was im
Ozean des trügerischen Scheines gelegen sei. Nicht die Sinnenwelt hat er in
täuschenden Schein aufgelöst, sondern die Metaphysik. Daß man trotzdem von
dieser nicht abgelassen hat, daß man durch pseudophilosophische Truggebäude
die Natur hat meistern wollen und für die eignen Irrtümer Kant sogar immer
zitirt hat, daran ist er ganz unschuldig. Nach der bisherigen Auslegung unsrer
Schulweisheit hat der von ihm selbst gewählte Ausdruck der koperuikanischen
Umkehr unsers Standpunktes gegenüber der Natur so gut wie gar keine Be¬
deutung und ist ein leerer Schall geblieben. Der Mensch stand der Natur wie
einem doch zuletzt ewig unlösbaren Rätsel gerade so fremd gegenüber wie im
Altertum; nur die Erscheinung war uns zu erkennen erlaubt, aber was
sollte das nützen, wen» uns doch das eigentliche Wesen der Dinge verschlossen


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0666" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/153415"/>
          <fw type="header" place="top"> Zur Auslegung Kants.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2559" prev="#ID_2558"> Hauptregel aber des richtigen Verstandesgebrauches liegt in dem Satze: Be¬<lb/>
griffe ohne Anschauungen sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind, nur<lb/>
aus beiden Quellen kann ein Erkenntnis fließen. Die Funktionen unsers Ver¬<lb/>
standes zu Begriffen, die Kategorien, können nur dann Erkenntnisse und Wahr¬<lb/>
heit ergeben, wenn sie auf Anschauungen angewandt werden. Darüber hinaus<lb/>
erzeugen sie nur leere Begriffe, die mit Anschauungen verwechselt als Hirnge¬<lb/>
spinste sich darstellen. Wenn z. B. die arithmetische Rechnung über die Grenze<lb/>
der Raumanschauung hinaus weiter entwickelt wird, so kann man zu dem Be¬<lb/>
griff einer vierten Dimension kommen, aber dieser muß immer völlig leer bleibe»,<lb/>
und wenn man ihn dennoch als einen Gegenstand möglicher Anschauung be¬<lb/>
trachtet, so kann er zu den gefährlichsten Hirngespinnsten Anlaß geben, wie wir<lb/>
es ja leider erlebt haben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2560"> Ganz ebenso aber wie mit der vierten Dimension des Raumes verhält es<lb/>
sich auch mit dem Ding an sich und dem sogenannten Innern der Natur, der<lb/>
intelligibeln Ursache aller Erscheinung. Dasein, Ursache und Wirkung, Wirklich¬<lb/>
keit, Möglichkeit, Notwendigkeit sind alles Stammbegriffe unsers Erkenntnisver¬<lb/>
mögens, die nur dann richtig gebraucht werden, wenn sie auf Anschauungen<lb/>
gerichtet sind. Darüber hinaus geben sie keine Erkenntnisse. Nun kann das<lb/>
Ding an sich niemals in der Anschauung gegeben werden, also können wir<lb/>
niemals mit Recht von seinem Dasein oder seiner Wirklichkeit, Möglichkeit oder<lb/>
Notwendigkeit reden. Auch Ursachen giebt es nur in der Welt der Erscheinung,<lb/>
auf jener Insel, auf der die Wahrheit möglich ist, nicht auf dem Meere des<lb/>
täuschenden Scheins und der Hirngespinnste. Eine andre Wirklichkeit, als die auf<lb/>
Anschauung beruht, sei es des äußern oder des innern Sinnes, giebt es für<lb/>
die Wissenschaft nicht.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2561" next="#ID_2562"> Wer diese Grundregeln nicht eingesehen hat, der kennt nicht die Bedeutung<lb/>
der Kritik der reinen Vernunft. Gerade das Gegenteil von dem, was die bis¬<lb/>
herige Auslegung uns überliefert hat, ist die Wahrheit. Kant hat uns so wenig<lb/>
das Wissen in der Naturwissenschaft aufgehoben, daß er sogar das Gegenteil<lb/>
davon, das Wissen von übersinnlichen Dingen, beseitigt hat als etwas, was im<lb/>
Ozean des trügerischen Scheines gelegen sei. Nicht die Sinnenwelt hat er in<lb/>
täuschenden Schein aufgelöst, sondern die Metaphysik. Daß man trotzdem von<lb/>
dieser nicht abgelassen hat, daß man durch pseudophilosophische Truggebäude<lb/>
die Natur hat meistern wollen und für die eignen Irrtümer Kant sogar immer<lb/>
zitirt hat, daran ist er ganz unschuldig. Nach der bisherigen Auslegung unsrer<lb/>
Schulweisheit hat der von ihm selbst gewählte Ausdruck der koperuikanischen<lb/>
Umkehr unsers Standpunktes gegenüber der Natur so gut wie gar keine Be¬<lb/>
deutung und ist ein leerer Schall geblieben. Der Mensch stand der Natur wie<lb/>
einem doch zuletzt ewig unlösbaren Rätsel gerade so fremd gegenüber wie im<lb/>
Altertum; nur die Erscheinung war uns zu erkennen erlaubt, aber was<lb/>
sollte das nützen, wen» uns doch das eigentliche Wesen der Dinge verschlossen</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0666] Zur Auslegung Kants. Hauptregel aber des richtigen Verstandesgebrauches liegt in dem Satze: Be¬ griffe ohne Anschauungen sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind, nur aus beiden Quellen kann ein Erkenntnis fließen. Die Funktionen unsers Ver¬ standes zu Begriffen, die Kategorien, können nur dann Erkenntnisse und Wahr¬ heit ergeben, wenn sie auf Anschauungen angewandt werden. Darüber hinaus erzeugen sie nur leere Begriffe, die mit Anschauungen verwechselt als Hirnge¬ spinste sich darstellen. Wenn z. B. die arithmetische Rechnung über die Grenze der Raumanschauung hinaus weiter entwickelt wird, so kann man zu dem Be¬ griff einer vierten Dimension kommen, aber dieser muß immer völlig leer bleibe», und wenn man ihn dennoch als einen Gegenstand möglicher Anschauung be¬ trachtet, so kann er zu den gefährlichsten Hirngespinnsten Anlaß geben, wie wir es ja leider erlebt haben. Ganz ebenso aber wie mit der vierten Dimension des Raumes verhält es sich auch mit dem Ding an sich und dem sogenannten Innern der Natur, der intelligibeln Ursache aller Erscheinung. Dasein, Ursache und Wirkung, Wirklich¬ keit, Möglichkeit, Notwendigkeit sind alles Stammbegriffe unsers Erkenntnisver¬ mögens, die nur dann richtig gebraucht werden, wenn sie auf Anschauungen gerichtet sind. Darüber hinaus geben sie keine Erkenntnisse. Nun kann das Ding an sich niemals in der Anschauung gegeben werden, also können wir niemals mit Recht von seinem Dasein oder seiner Wirklichkeit, Möglichkeit oder Notwendigkeit reden. Auch Ursachen giebt es nur in der Welt der Erscheinung, auf jener Insel, auf der die Wahrheit möglich ist, nicht auf dem Meere des täuschenden Scheins und der Hirngespinnste. Eine andre Wirklichkeit, als die auf Anschauung beruht, sei es des äußern oder des innern Sinnes, giebt es für die Wissenschaft nicht. Wer diese Grundregeln nicht eingesehen hat, der kennt nicht die Bedeutung der Kritik der reinen Vernunft. Gerade das Gegenteil von dem, was die bis¬ herige Auslegung uns überliefert hat, ist die Wahrheit. Kant hat uns so wenig das Wissen in der Naturwissenschaft aufgehoben, daß er sogar das Gegenteil davon, das Wissen von übersinnlichen Dingen, beseitigt hat als etwas, was im Ozean des trügerischen Scheines gelegen sei. Nicht die Sinnenwelt hat er in täuschenden Schein aufgelöst, sondern die Metaphysik. Daß man trotzdem von dieser nicht abgelassen hat, daß man durch pseudophilosophische Truggebäude die Natur hat meistern wollen und für die eignen Irrtümer Kant sogar immer zitirt hat, daran ist er ganz unschuldig. Nach der bisherigen Auslegung unsrer Schulweisheit hat der von ihm selbst gewählte Ausdruck der koperuikanischen Umkehr unsers Standpunktes gegenüber der Natur so gut wie gar keine Be¬ deutung und ist ein leerer Schall geblieben. Der Mensch stand der Natur wie einem doch zuletzt ewig unlösbaren Rätsel gerade so fremd gegenüber wie im Altertum; nur die Erscheinung war uns zu erkennen erlaubt, aber was sollte das nützen, wen» uns doch das eigentliche Wesen der Dinge verschlossen

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_152756
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_152756/666
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_152756/666>, abgerufen am 01.10.2024.